(erstveröffentlicht in Berlin im Januar 2005, in der HEZ Ausgabe 1/2006)
Sozialraumorientierung als neues Konzept für eine zeitgemäße, qualifizierte Arbeitsweise der Jugendhilfe zu implementieren, stößt nach wie vor auf Widerstand. Widerstand gegen Neues ist ja nichts Neues. Aus der Systemtheorie wissen wir, dass jedes System (biologisch: jedes Lebewesen) und jede Organisation oder jedes Gemeinwesen vor allem das tut, was zum Erhalt und zur Sicherung der eigenen Existenz vernünftig und Erfolg versprechend erscheint. Warum sollen sich Menschen und Organisationen auf etwas einlassen, dass ihnen zumindest Unruhe und Arbeit, möglicherweise auch Unsicherheit und Existenzbedrohung beschert? Gescheite Ideen haben es nicht leicht, sich durchzusetzen, nicht nur in der Jugendhilfe.
Um alte Orientierungen und Strategien aufgeben zu können, müssen Erfolg versprechender Ansätze nicht nur als Konstrukt erkennbar, sondern auch praktisch erprobt und überzeugend sein, doch das dauert seine Zeit und bis dahin ist den „Bewahrern“ des alten Systems jedes Argument recht, dass sich gegen die Umsetzung der Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe einsetzen lässt.
Aktuell sind es die Gerichtsurteile aus Hamburg, Münster und Berlin zum Thema Auswahlverfahren von Schwerpunktträgern und Sozialraumbudget, die die Gegner der sozialräumlichen Arbeit in der Jugendhilfe jubeln lässt, SRO sei gesetzwidrig.
Doch stimmt das wirklich? Sind diese Gerichtsurteile tatsächlich das Aus für die sozialräumliche Arbeitsweise in der Jugendhilfe?
Erwin Jordan fasst die drei wesentlichen Veränderungen, die durch eine sozialräumliche Orientierung herausgefordert werden, sehr treffend zusammen:
§ Grundlage wird eine andere “Philosophie” des Verstehens von Menschen, ihrer Entwicklungen und Lebensweisen, die sich in professionellen Haltungen, methodischer Kompetenz und gesellschaftspolitischer Ausrichtung niederschlägt.
§ Erforderlich sind andere Organisations- und Handlungskonzepte, die von einem Raum- und Ressourcenbezug ausgehen statt von einem Problem- und Expertenbezug. Notwendig ist eine andere “Geschäftsgrundlage”, die statt der Versorgung von Notfällen eine Entwicklung von Lebenswelt und –räumen bewertet und bezahlt.
§ Die Umsetzung des Konzepts Sozialraumorientierung erfordert ein neues Verhältnis von öffentlicher und freier Jugendhilfe.[1]
Das neue Verhältnis von öffentlicher und freier Jugendhilfe, das Jordan anspricht, zeigt sich u.a. in der Auswahl von Trägern, die so genannten Schwerpunktträger, die für das Erbringen von Leistungen in einem bestimmten Sozialraum zur Verfügung stehen und mit dem Jugendamt entsprechende Kooperationsvereinbarungen schließen. Träger, die nicht ausgewählt wurden, wollen das nicht so einfach hinnehmen und gehen vor das Verwaltungsgericht. Das kommt nicht wirklich überraschend, es war zu erwarten.
Bisher gibt es drei Gerichtsentscheidungen: In Hamburg wurde dem Jugendamt vorläufig untersagt, das dortige Finanzierungskonzept der Sozialraumbudgetierung zu praktizieren, in Münster und Berlin wurde den Jugendämtern der Abschluss von Kooperationsvereinbarungen vorläufig verboten. Das VG Hamburg sieht einen unzulässigen Eingriff in die Berufsfreiheit nach Artikel 12 Abs. 1 Satz 1 GG der nicht ausgewählten Träger, ähnlich argumentiert das VG Berlin, während das VG Münster seine Entscheidung mit einem Verstoß gegen § 4 Abs. 2 SGB VIII (verankerte Schutzfunktion für anerkannte Träger der freien Jugendhilfe) begründet.
Doch mit den ergangenen Urteilen zum Thema Sozialraumbudgetierung ist keineswegs das Ziel der Träger erreicht, Rechtssicherheit zu erhalten. In keinem der ergangenen Urteile ist zu den Inhalten der Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe Stellung genommen worden – obwohl die Gründe für beklagte Einschränkungen (nicht berücksichtigter) freier Träger in der strukturellen Umsetzung der sozialräumlichen Arbeitsweise liegen.
Eine Allgemeingültigkeit der Urteile ist so nicht abzuleiten – die punktuelle rechtliche Würdigung bewirkt lediglich, dass nachfolgende Kommunen Vorlagen erhalten, welche Streitpunkte sie bei der Gestaltung von Verträgen und Kooperationen bewusst ungeregelt lassen.
Die strittigen Punkte sind dabei nicht durch ihre Inhalte Motiv für den Gang zu den Gerichten; allein die Festlegung oder Entscheidung über ein Verfahren ist Grund, der (ggf. auch berechtigten) Anlass für ein Klageverfahren bewirkt.
Jeder, der auf dem Gebiet der Jugendhilfe tätig ist, weiß, dass sozialarbeiterisches Handeln in der Vergangenheit keiner Kontrolle, Überprüfung oder sogar irgendwelchen Indikatoren einer Steuerung unterworfen war, auch im Sinne einer noch so sehr erwünschten Wirksamkeit gab es festgelegte Standards nicht zu befürchten. Die frühere Vergabepraxis im Einzelfall steht hier nicht zur Debatte, aber die Frage nach der Ermessensfehlerfreiheit und Überprüfbarkeit ist m.E. niemals gestellt worden, die Vergabe erfolgte ungeplant und beruhte nicht selten auf individuellen Erfahrungen und Vorlieben des einzelnen Mitarbeiters des Allgemeinen Sozialpädagogischen Dienstes (ASD).
Der Unterschied zu früher liegt vor allem darin, dass es ein transparentes Auswahlverfahren gibt.
Und wie viele freie Träger verträgt die Jugendhilfe?
§ 1 Abs. 3 SGB VIII spricht von der Schaffung positiver Lebensbedingungen und das sollte am besten in der unmittelbaren Lebenswelt von Klienten passieren. Vor diesem Hintergrund ist Jugendhilfe dann gut, wenn sie die Stärken und die Möglichkeiten des Ortsteils und der kleinen Netze nutzt, um so vielleicht in einigen Fällen sogar zu verhindern, dass ein Fall überhaupt zum Fall wird. Das ist ein sehr anspruchsvolles Prinzip, denn vielfach ist es viel einfacher und schneller, professionelle Unterstützung zu verschreiben als die Intervention sozusagen um die Stärken und Möglichkeiten der Betroffenen und ihres Feldes herum zu organisieren. Um solche Potentiale in der Fallarbeit nutzen zu können, muss man sie kennen, vielleicht sogar erst aufbauen. Das kann sicherlich nicht erst dann geschehen, wenn ein Fall vor der Tür steht. Solche Ressourcen müssen dann sozusagen schon auf „Halde“ liegen.
Voraussetzung für eine schnelle und wirksame Mobilisierung und Entwicklung von Ressourcen und Netzwerken im Einzelfall ist, dass die Fachkräfte im Sozialraum eingebunden, mit den Angeboten und Möglichkeiten gut vertraut sind und die entsprechenden Ansprechpartner in Institutionen, Vereinen, informellen Netzwerken etc. kennen. Das kommt nicht von selbst. Die Informationen sowie die persönlichen Kontakte im Sozialraum müssen entwickelt und gepflegt, Netzwerke aufgebaut und betreut werden.
Diese Aktivitäten sind nicht unmittelbar an den jeweiligen Einzelfall gebunden, sie sind fallunspezifisch. Sie sind schwer einzugrenzen, in ihrer Wirkung nicht direkt messbar, erfordern aber einen hohen Zeiteinsatz. Sie zu vernachlässigen, schadet aber der Qualität der Arbeit im Einzelfall und stellt damit sozialraumorientiertes Handeln selbst in Frage.
Die Anforderungen an die freien Träger der Jugendhilfe – und ganz besonders trifft das auf die zu, die im HzE-Bereich arbeiten – sind entsprechend hoch: Die Träger müssen über den Sozialraum, in dem sie tätig sind, grundlegende Kenntnisse vorweisen, sie müssen Ressourcen kennen und erschließen, sie müssen ein Kooperationsnetz aufbauen, Kontakte nutzen und vor diesem Hintergrund Hilfeformen kreieren, die auf die besonderen Bedarfe der Betroffenen ausgerichtet sind. Von diesen Trägern wird ein hohes Engagement erwartet, da sie sich an vielen Stellen in Gremien einbringen müssen, die Ideen für fallvermeidende und fallübergreifende Projekte entwickeln, die Ortsteilressourcen abstimmen und bündeln und die Ausrichtung der Jugendhilfe im Ortsteil diskutieren.
Das Jugendamt braucht verlässliche stabile Partner, die geeignet sind, die Zielsetzungen der sozialraumorientierten Jugendhilfe zu verwirklichen und bereit sind, sich auf die hohen Anforderungen über einen längeren Zeitraum einzulassen. Dabei ist es fraglich, ob hier Trägervielfalt automatisch die gewünschte Verbesserung der Jugendhilfe zur Folge hat. Die Antwort kann nur „Nein – im Gegenteil!“ lauten!
Dieser Aufwand kann unmöglich von einer beliebigen Anzahl von freien Trägern, die berlinweit tätig sind, erwartet und geleistet werden, zumal auch kaum ausreichend finanzielle Sicherheiten als Voraussetzung für die Stabilität eines Trägers zu erwarten sind, wenn das Auftragsvolumen auf viele verteilt wird. Passgenaue adressatenorientierte flexible Hilfen? Aus der Traum – so bliebe alles beim Alten. Auch kann das Jugendamt nur mit einer begrenzten Zahl von Trägern sinnvoll und konstruktiv zusammenarbeiten, alles andere wäre mehr oberflächliche „Massenabfertigung“.
Neben den eben genannten Kriterien waren die nachfolgend aufgelisteten für die Auswahl eines Schwerpunktträgers ausschlaggebend:
- das Fallaufkommen (anhand der Fallzahlen je Träger wurde im Dezember 2002 eine Auswertung vorgenommen: ab 5 Fälle kamen die Träger in die Auswahl). Im Rahmen des Auswahlverfahrens wurde festgestellt, dass in 2002 allein 23% der Fälle nach §§ 29-31 SGB VIII auf freie Träger fielen, die weniger als 10 Fälle im Gesamtbezirk bearbeitet haben. Diese Träger nicht mehr zu berücksichtigen, kann für die Betroffenen keine Existenzbedrohung darstellen.
- Verankerung im Bezirk (z.B. die Geschäftsstelle des Trägers liegt im Bezirk – Kiezkenntnisse, Kontakte vor Ort, Präsenz im Bezirk, kurze Wege zum Jugendamt in den Regionen, Mitarbeit in den Ortsteilarbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB VIII usw.)
- Aufbau des Trägers (personelle Ausstattung, Räumlichkeiten)
- Qualitätsmerkmale (Qualifizierung der Mitarbeiter: Fallbesprechung/Supervision/Fortbildung, Personal mit unterschiedlichen Professionen und beruflichen Erfahrungen, interkulturelles Personal, mehrere „fachliche Standbeine“, z.B. Hilfen zur Erziehung, BSHG, Tagesbetreuung, Elternarbeit, offene Kinder- und Jugendarbeit)
- Einschätzung der Zusammenarbeit Jugendamt – Freie Träger (Zuverlässigkeit in der Ausführung des Auftrages, Organisation/Geschäftsführung, Erreichbarkeit, Ansprechpartner, Rückkoppelung, flexibles Reagieren auf Bedarfe des Jugendamtes/Regionen, offener Austausch in Konfliktsituationen usw., Vernetzung innerhalb der Region, ressourcenorientiertes Arbeiten)
- Platzangebot im Bezirk – stationäre Hilfen (tatsächliche räumliche Ansiedlung von Betreuungsangeboten)
Für besondere Bedarfe wird weiterhin auf Träger zurückgegriffen, die entsprechende Angebote vorhalten können. Diese Leistungen werden nicht von den Schwerpunktträgern erbracht. Kein Jugendamt ist daran interessiert, diese Träger „außen vor“ zu lassen; die Praxis zeigt, dass Schwerpunktträger nicht alle anfallenden Leistungen (sondern max. 40-60% des Fallaufkommens) erledigen können; sei es, dass ihnen die Kompetenzen und/oder die Kapazitäten dazu fehlen; sei es, dass das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten einen anderen Leistungserbringer erforderlich macht.
Die neuen Anforderungen an Leistungserbringer und die erwarteten flexiblen Hilfeangebote machen deutlich, dass die bisherige Finanzierungssystematik überholt ist. Der rechtlich gewollte ungehinderte Marktzugang freier Träger der Jugendhilfe führt in der Praxis zu erheblichen Qualitäts- und Steuerungsproblemen. Die Fallzahl- und Kostenentwicklung in den Erziehungshilfen ist bundesweit nicht mehr zu rechtfertigen (zwischen 1990 und 2000 hat sich das Fallvolumen um 57% erhöht – die Fremdunterbringung stieg zwischen 1992 und 2000 in den Ausgaben um 40%). Das Angebot bei den Hilfen zur Erziehung hat sich erheblich ausgeweitet. Insgesamt gab es 2002 noch etwa 1.400 Träger in Berlin, davon waren 408 im Gesamtbereich der Hilfen zur Erziehung tätig. 252 Träger (62%) ausschließlich im ambulanten Bereich der Hilfen zur Erziehung. Die Zahlen der stationären Hilfen stiegen am Stichtag von 1995 bis 2002 besonders stark: von 10.976 auf 12.253.
Nach § 78 b Abs. 2 SGB VIII hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe mit allen geeigneten Trägern (Leistungsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit) Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsentwicklungsvereinbarungen nach Absatz 1 zu schließen. Dabei spielen Bedarfgesichtspunkte keine Rolle, es geht ausschließlich um den Marktzugang. Der Ausschluss durch Nichtbeauftragung muss ermessensgerechte und fachliche Gründe haben. Liegen sie vor, kann kein freier Träger als Leistungserbringer beanstanden, nicht berücksichtigt worden zu sein. Es gibt also keine Garantie, für die tatsächliche Leistungserbringung in Anspruch genommen zu werden. Das Risiko der Auslastung und damit das Betriebsrisiko verbleibt beim Träger als Leistungserbringer.
Die Sozialraumorientierung ist der Versuch, aus der Falle heraus zu kommen, die darin besteht, dass Kostenreduzierungen lediglich zu Leistungsminderungen führen. Das Konzept der Sozialraumorientierung bietet dagegen die Chance, bloß fiskalischem Denken ein fachliches Konzept entgegenzusetzen. Die Anforderungen an diese veränderte Fachlichkeit bestehen nicht darin, weiter Spezialwissen zu entwickeln, sondern in einem bestehenden System kooperatives Sozialmanagement zu schaffen und zu gewährleisten.
Januar 2005