Auszug aus der Dokumentation der Fachtagung Perspektiven der Vollzeitpflege in Berlin – Professionelles Handeln in Zeiten der Veränderung am 9.11. / 10.11.2006*
Qualität im Bereich der Hilfen zur Erziehung
- Hilfe zur Erziehung ist eine Praxis besonderer, nicht-instrumenteller Art.
- Sie ist ein personales Geschehen, ein Handeln im Beziehungsfeld, und daher immer dialogisch.
- Die Akteure wenden nicht einfach Regeln oder Wissen an, sondern sie erzeugen miteinander einen Handlungszusammenhang in der Kommunikation, den sie zugleich laufend experimentell überprüfen.
- Es ist dies ein Überlegen im Handlungsvollzug – „reflection in aktion“.
Qualität im Bereich der Hilfen zur Erziehung und insbesondere im Pflegekinderbereich: ich werde aus Zeitgründen manches nur andeuten und zum Nachlesen überlassen. Hier ist auf einer Folie aufgeführt, dass Qualität im Bereich der Hilfen zur Erziehung wie überhaupt im Bereich sozialer Dienstleistungen doch etwas ganz anderes ist als Qualität, die sich auf dringliche Produkte bezieht.
Hilfe zur Erziehung ist eben eine ganz besondere Praxis, sie ist nicht-instrumenteller Art, nicht nach Art der Bearbeitung eines Produktes. Sie ist ein personales Geschehen, sie handelt im Beziehungsfeld, ist immer dialogisch, die Akteure wenden nicht einfach Regeln oder Wissen an, sondern sie erzeugen miteinander einen Handlungszusammenhang in der Kommunikation. Dies ist ein Überlegen im Handlungsvollzug, also das, was man „reflection in action“ nennen kann.
Dimensionen von Qualität
Strukturqualität: Rahmenbedingungen und Ausstattung
Prozessqualität: Organisation und Aktivitäten
Ergebnisqualität: Erfolg bzw. Misserfolg
Orientierungsqualität: Haltungen und Werte
Das hat viele Konsequenzen für die gesamte Qualitätsdiskussion im Pflegekinderbereich, insbesondere, dass es nicht darum gehen kann, Ergebnisqualität so mir nichts, dir nichts feststellen zu können, sondern dass die Fragen von Struktur-, Prozess- und auch Orientierungsqualität ganz zentral werden.
Was ist gute Qualität im Pflegekinderbereich? (1)
(1) Bewusstsein für Qualität
- Leistungen von Pflegeltern sind knappes Gut
- Arbeit verlangt Wertschätzung und hat ihren Preis
- Angebote sind konkurrenzfähig
- Angebote haben eigenständiges Profil
- Erfolg ist Grundlage für Weiterentwicklung
(2) Entwicklung angemessener Kriterien
- Orientierungsqualität (Bild vom Kind, Bezug Kinderrechte)
- Qualität der pädagogischen Prozesse (Kind, Herkunftsfamilie)
- Qualität der Strukturen (Fortbildung, Begleitung, Beratung, Ausstattung, Finanzierung)
Ich möchte nun eine Reihe von Punkten, die aus meiner Sicht gute Qualität im Pflegekinderbereich ausmachen, darstellen:
Es scheint mir wichtig zu sein, überhaupt ein Bewusstsein für Qualität zu entwickeln. Dazu gehört, dass wir anerkennen, dass uns die Leistungen von Pflegeeltern nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen, sondern dass sie ein knappes Gut sind, dass diese Arbeit Wertschätzung verlangt und ihren Preis hat, dass Angebote konkurrenzfähig sind und wir uns dieser Konkurrenz in positiver Hinsicht stellen sollten, dass sie ein eigenständiges Profil haben und dass der Erfolg die Grundlage für Weiterentwicklung sein muss.
Dieser Art von Leistung entsprechend müssen angemessene Kriterien für Qualität entwickelt werden, die insbesondere auf die Orientierung, also das Bild vom Kind, den Bezug zu den Kinderrechten, auf die Qualität der pädagogischen Prozesse und auf die Strukturen bezogen sind. Sie sehen, ich kann das hier nur andeuten, es sind Punkte, die sicher auch ausführlich zu bearbeiten lohnen.
Was ist gute Qualität im Pflegekinderbereich?
(3) Vorrang des Kindeswohls
- Kindeswohl als an den Grundbedürfnissen und Grundrechten orientierte „jeweils am wenigsten schädigende Alternative“
- Kind als Rechtsträger und Anspruchsberechtigter
- Konzentration auf Schlüsselsituationen
- Vorbereitung, Auswahl, Vermittlung, erster Kontakt
- Hilfeplanung, (Nicht-)Rückführung, Umgangsregelung
- Bereitschaft zur Innovation
- Offenheit für Forschung und fachliche Weiterentwicklungen
- Bereitschaft zu Selbst- und Fremdevaluation
- Positionierung in öffentlicher/politischer Debatte
Dann scheint mir ein Qualitätsmerkmal zu sein, den Vorrang des Kindeswohls tatsächlich in der Praxis ernst zu nehmen.
Weiterhin geht es um die Konzentration auf wichtige Schlüsselsituationen, die ich vorhin ja bereits benannt habe: Vorbereitung, Auswahl, Vermittlung, erster Kontakt, Hilfeplanung, Rückführung oder eben Nicht-Rückführung und Umgangsregelung.
Und ein letzter Punkt als Qualitätsmerkmal im Pflegekinderbereich: die Bereitschaft zur Innovation. Dazu gehört aus meiner Sicht die Offenheit für Forschung und fachliche Weiterentwicklungen. Dies ist ein Bereich, der in Deutschland noch sehr unterentwickelt ist. Es geht ferner um die Bereitschaft zu Selbst- und auch Fremdevaluation, und ich meine, zur Qualität gehört auch, sich in den öffentlichen und politischen Debatten deutlich zu positionieren.
Kindeswohl
(Best Interest of the Child)
Ein am Wohl des Kindes ausgerichtetes Handeln ist dasjenige, welches die an den Grundbedürfnissen und Grundrechten von Kindern orientiere jeweils am wenigsten schädigende Handlungsalternative wählt.
Als Arbeitsdefinition schlage ich vor, Kindeswohl als die an den Grundbedürfnissen und Grundrechten von Kindern orientierte jeweils am wenigsten schädigende Alternative zu definieren. Ich finde diese u.a. von Anna Freud stammende Formulierung der „am wenigsten schädigenden Alternative“ auch heute noch sehr brauchbar, weil sie deutlich macht, dass wir immer in einem Feld arbeiten, wo es Risiken und Nebenwirkungen gibt. D.h., wir können nie sagen: ’Eine Entscheidung ist für das Kind in jedem Fall und in jeder Hinsicht die beste’, sondern es gilt immer auch, die möglichen Nebenwirkungen, die Risiken in den Blick zu nehmen, und unsere Aufgabe besteht dann eben darin, die am wenigsten schädigende Alternative zu wählen, die im Bewusstsein, dass wir nicht jedes Risiko vermeiden können.
Die Frage bleibt natürlich: Worin bestehen Grundbedürfnisse und Grundrechte von Kindern?
Die Diskussion um Basic Needs, um Grundbedürfnisse, hat in den letzten Jahren viel Auftrieb bekommen, was bedeutet, Kindeswohl nicht mehr nur negativ abgrenzend zu sehen, sondern auch im Sinne von: ’Was sind eigentlich Mindeststandards, die Kinder benötigen, um mindestens durchschnittlich gut und gesund aufzuwachsen?’
Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern
- Das Bedürfnis nach beständigen liebevollen Beziehungen
- Das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit, Sicherheit und Regulation
- Das Bedürfnis nach Erfahrungen, die auf individuelle Unterschiede zugeschnitten sind
- Das Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen
- Das Bedürfnis nach Grenzen und Strukturen
- Das Bedürfnis nach stabilen, unterstützenden Gemeinschaften und kultureller Kontinuität
- Das Bedürfnis nach einer sicheren Zukunft für die Menschheit
Ich will hier die Formulierungen eines amerikanischen Kinderarztes und eines Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, nämlich von Berry Brazelton und Stanley Greenspan, verwenden, die einen Katalog von sieben Grundbedürfnissen entwickelt haben, nachlesbar in dem Buch: Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern (Beltz-Verlag).
Dieser Katalog kann als gute Orientierung bei Entscheidungen gelten:
(1) Das Bedürfnis nach beständigen, nach liebevollen Beziehungen – dies bezeichnen die beiden Autoren als erstes, als grundlegendes Bedürfnis von Kindern. Sie meinen damit, dass jedes Kind mindestens eine Person, besser zwei oder drei, hat, die dieses Kind um seiner selbst willen akzeptieren und respektieren, eben nicht, weil es ein Mädchen oder ein Junge, schwarz oder blond oder gut oder schlecht in der Schule ist, sondern weil es einfach da ist. Jedes Kind braucht mindestens eine solche Person. Abgesehen davon, dass auch viele Kinder zuhause diese Person nicht oder nicht ausreichend haben, gibt es gerade in unserem Bereich der Jugendhilfe viele Kinder, die auch in alternativer Fürsorge dieser beständigen liebevollen Beziehung nicht sicher sein können. Hier gibt es auch wieder den Bezug zur Bedeutung der Kontinuitätsplanung, zu dem, was in England ’permanency planning’ genannt wird.
(2) Das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit, Sicherheit und Regulation
Ein Grundbedürfnis jedes Kindes, das inzwischen glücklicherweise auch in Deutschland als Recht jedes Kindes auf gewaltfreie Erziehung seinen Niederschlag gefunden hat. Regulation ist als ergänzender Punkt wichtig: Wir wissen, wie sehr kleine Kinder zur Regulierung ihrer eigenen körperlichen, aber vor allem auch seelischen Gesundheit auf zur Verfügung stehende Erwachsene angewiesen sind. Die Bedeutung eines menschlichen Gegenübers für die Regulierung jedes Kindes wird in diesem zweiten Grundbedürfnis deutlich angesprochen.
(3) Das Bedürfnis nach Erfahrungen, die auf die Individualität des Kindes Rücksicht nehmen
Die Anerkennung der Tatsache also, dass jedes Kind anders ist, andere Vorlieben, Sympathien, Antipathien hat, Stärken und Schwächen – das gilt für Geschwister, das gilt für alle Kinder gleichen oder ähnlichen Alters. Wir sind herausgefordert, diese Individualität, diese Einzigartigkeit jedes Kindes zu berücksichtigen.
(4) Das Bedürfnis nach altersgerechten Erfahrungen
Zugleich ist es aber auch so, dass sich alle Kinder in bestimmten Alters- oder Entwicklungsfenstern nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten entwickeln, dass an der Entwicklung des Kindes orientierte, also altersangemessene Erfahrungen zur Verfügung gestellt werden müssen. Im Bereich der Jugendhilfe geht es hier häufig um das Thema Vernachlässigung, ein großes Thema. Aber auch, wenn wir uns in Deutschland durchschnittliche Eltern anschauen, geht es mitunter um das Thema der Überforderung, der frühen Überforderung, Englisch ab eineinhalb Jahren, Mathe ab vier, das sind ja im Moment große Themen in der Bildungsdebatte. Dem steht allerdings die Erfahrung gegenüber, dass – wie es ein afrikanisches Sprichwort sagt – das Gras nicht schneller wächst, wenn man daran zieht.
(5) Das Grundbedürfnis nach Grenzen und Strukturen
Hierzu gehört die Erfahrung, dass Kinder Freiräume nur dann für sich nutzen können, wenn diese Freiräume begrenzt sind, wenn die Kinder sich an Grenzen reiben können, wenn die Freiräume altersgerecht mitwachsen und die Kinder Grenzen natürlich auch überschreiten können. Dafür muss es Grenzen und Strukturen als wichtiges entwicklungsförderndes Merkmal für Kinder aller Altersgruppen geben, nicht nur für die Kleinen, sondern auch für Jugendliche, die ja Strukturen und Grenzen geradezu herausfordern.
(6) Das Bedürfnis nach stabilen unterstützenden Gemeinschaften und kultureller Kontinuität.
Hiermit wird ausgedrückt, dass Kinder über ihre Familie hinaus soziale Kontakte, Freundschaften, Netzwerke, Kindergarten, Schule usw. benötigen, durch die sie Anregung und Förderung erhalten.
(7) Das Bedürfnis nach einer sicheren Zukunft für die Menschheit
Hiermit wird ein letztes, fast politisch formuliertes Grundbedürfnis benannt: Das Bedürfnis nach einer sicheren Zukunft für die Menschheit. Die beiden Autoren führen dazu aus, dass in einer globalisierten Welt das Wohl jedes Kindes immer mehr mit dem Wohl aller Kinder zusammenhängt.
Bei einer Berücksichtigung von Grundbedürfnissen geht es nicht immer ohne Spannungen ab. Das Bedürfnis nach beständigen Beziehungen kann z. B. in eine Konkurrenz zu dem Bedürfnis nach Sicherheit treten. Kinder, die misshandelt oder missbraucht werden, haben oft eine Neigung, Bindungen zu ihrem Misshandler, die ja unabhängig von der Qualität der Beziehung existieren, aufrecht zu erhalten. Hier droht dann aber eine Selbstgefährdung, wo wir Prioritäten setzen müssen und solche Kinder z. B. nicht bei ihren Eltern oder bei einem Elternteil leben lassen können. Was also als Grundbedürfnisse formuliert werden kann, ist in der Jugendhilfepraxis mit vielen Spannungen und Abwägungsentscheidungen verbunden – in dem Bewusstsein, dass es immer darum gehen muss, die ’jeweils am wenigsten schädigende Alternative’ zu finden.