Einführender Beitrag zu einer Fachtagung des Kinderhaus Berlin – Mark Brandenburg e. V. am 26.06.07 zum Thema
„Wie umgehen mit den `Schwierigsten`“
Der Begriff „schwierig“ ist selber schwierig, besonders in der möglichen Steigerung: schwieriger-schwierigst. Mit meiner Überschrift „Schwierig-für wen?“ will ich zum Ausdruck bringen, dass „schwierig“ kein Eigenschaftswort ist wie rothaarig oder pockennarbig. Vielmehr ist „schwierig“ ein Beziehungsbegriff, der sich immer auf die Erwartungen von Menschen in einer bestimmten Umgebung an andere Menschen bezieht.
Wenn also der Tagesspiegel kürzlich lapidar titelt: „Jedes dritte Kind ist in seiner Entwicklung gestört“ – dann ist das nicht nur inhaltlich fragwürdig, sondern auch eine Verwechslung der Ebenen, auf denen solche Aussagen überhaupt getroffen werden können.
So möchte ich mit meiner Frage „Schwierig-für wen?“ falsche Ansprüche, die vielleicht an den Gesamttitel unserer Tagung hier gestellt werden könnten, von vornherein dämpfen.
Wir alle sind ja unter gewissen Bedingungen für andere schwierig.
Die Frage „Wie umgehen mit den Schwierigsten?“ sollte also nicht so verstanden werden, dass wir in jedem Fall die normalen Helfer und andere immer schon die schwierigen Hilfsbedürftigen sind.
Ich will das in drei Punkten behandeln. An erster Stelle steht die Frage:
1. Was heißt „schwierig“?
Wenn die Pädagogik von schwierigen Jugendlichen spricht, setzt sie eine normale und richtige Erziehung voraus, der Kinder und Jugendliche sich einfügen. Sie rechnet mit Pädagogen, die es im Prinzip gut machen und das Verhalten anderer definieren können. Sie betrachtet Schwierigkeiten als Sachprobleme, die sich allerdings mit den gewohnten erzieherischen Bordmitteln nicht mehr bewältigen lassen.
Wenn wir es mit einer schwierigen Klientel zu tun haben, ist zwischen Einzelnen und Gruppen zu unterscheiden. Von einem einzelnen schwierigen Kind sagt man es passe nicht in den vorgegebenen Rahmen. Mehrere solcher Kinder bilden eine Gruppe mit gemeinsamen Merkmalen (Sprachprobleme, bildungsferne Elternhäuser u.a.). Außerdem entstehen große Populationen, die ethnisch und sozial eine Randstellung beziehen und nicht selten in Serienkriminalität abdriften. Pädagogen sehen das meist so, dass diese Klientel ihnen als den Vertretern der Normalität Schwierigkeiten bereitet.
„Schwierig“ heißt immer: im Bezug auf eine Institution oder feste Ordnung. In Einzelfällen sind Schwierigkeiten durch Umgruppierung etwa innerhalb eines Heims behebbar; oder durch neue Heimformen wie vor hundert Jahren in der Reformpädagogik. Aber auch eine noch so flexible Institution mit verständnisvollen, geduldigen und engagierten Pädagogen wird meist selbst wieder zu einem Regelsystem, das dann als normal gilt und Abweichler als schwierig abstempelt.
Es kann daher durchaus vorkommen, dass ein Heim seine eigene schwierige Klientel selbst produziert. Ich gebe ihnen ein Beispiel: Ich war vor mehreren Jahrzehnten Heimleiter in einer großen Internatsschule. Als ich dorthin kam, war es üblich, solche Jugendliche, die als besonders schwierig empfunden wurden, einem Psychiater vorzustellen, der regelmäßig das Heim besuchte.
Dieser stellte, wie er mir anvertraute, immer wieder fest, dass die Schwierigkeiten mancher Jugendlicher durch die Struktur des Heims selbst verursacht wurden; so dass man sagen konnte: weil die Institution selbst „schwierig“ war, musste sie solche Jugendliche, die darunter litten, als “schwierig“ empfinden. Doch das ist natürlich noch keine Antwort auf unsere Frage. Unser 2. Punkt lautet daher:
2. Schwierige Gesellschaft
Das Ganze ist nicht lediglich ein pädagogisches Problem, sondern gilt für die Gesellschaft insgesamt. In einem verkürzten Problemverständnis fragt man bei Schwierigkeiten nach den Ursachen, Darin drückt sich ein technokratisches Denken aus, das alles für erklärbar und behebbar hält. Damit wird einerseits das Problem verharmlost, andererseits auf ein falsches Gleis geschoben. Denn das führt zu Maßnahmen wie Überwachung, Prävention, Frühwarnsystem, die Fehlentwicklungen im Keim ersticken sollen.
In der Auffälligkeit der Jugendlichen spiegelt sich die Struktur der Gesellschaft. Alles zielt auf Erfolg, Leistung, Verwertbarkeit. Damit wird die schwierige Population derer, die nicht mithalten können, erst produziert. Der Bazillus der Wertlosigkeit lauert dann in jedem Kind. Das Selektionsprinzip, wonach Randgruppen aus dem Raster fallen, ist also ein Grundprinzip unserer Gesellschaft.
Wir gehen dabei von fragwürdigen Voraussetzungen aus, so etwa, wenn wir glauben, Gefahren wie Porno, Gewalt, Terror nur durch strengere Kontrolle oder Aktivierung der Eltern unterbinden zu können. Aber was lernen wir selbst vom Verhalten der schwierigen Kinder, welche Schlüsse ziehen wir daraus für die Gesellschaft im ganzen, warum glauben wir noch immer nicht, dass stets Neues kommt, wofür noch keine Begriffe und Maßnahmen bereitstehen?
Die Frage lautet demnach: Sind Schwierigkeiten bei Jugendlichen im Prinzip auszuschalten, wenn wir nur die richtigen Gegenmittel anwenden? Oder bilden sich im Gebaren der Schwierigsten Erscheinungsformen ab, die in dem begründet sind, was in der ganzen Gesellschaft üblich ist?
Dies gilt vor allem für die eklatanten Widersprüche in unserem täglichen Leben. So etwa: eine extreme Konsumhaltung bei extremer Leistungsforderung. Oder der Anspruch an den Staat, der im Zweifelsfall alles regeln soll, bei gleichzeitigem Aufschrei, wenn der Kilometer Bahnfahrt oder der Liter Benzin ein paar Cent mehr kostet.
Vor allem die lautstarken und wohlklingenden Absichtserklärungen zur Verbesserung von Schule und Erziehung, wobei sich die Kontrahenten wie beim Schachspiel gegenübersitzen und jeden Vorschlag für jugendfördernde Maßnahmen mit Gegenvorschlägen kontern und zunichte machen: Elternrecht gegen Krippenplatz, differenzierte Förderung gegen Gesamtschule, zentrale Bildungsplanung gegen Länderhoheit usw. Wir erfahren das alles täglich. Wir nehmen es schließlich fast als normal hin. Und wir machen uns nicht richtig klar, dass sich eben diese Schwierigkeiten der Gesellschaft im Gebaren der schwierigen Jugendlichen ausdrücken. Damit kommen wir zum 3. Punkt:
3. Modelle der Problemlösung
Viele Experten, Politiker, Behördenvertreter, Journalisten nehmen täglich Stellung zum Problem der schwierigen Kinder. Diese gängigen Vorschläge und Konzepte lassen sich in drei Modellen zusammenfassen:
Beim Therapiemodell beobachtet man einzelne Kinder, stellt ihre Fehler und deren Ursachen fest, korrigiert sie durch bewährte Eingriffe. Da Schwierigkeiten vorwiegend auf organische Defizite zurückgeführt werden, ist Heilung möglich, wenn das Kind nur richtig behandelt wird.
Nach dem Integrationsmodell will man verhindern, dass sich schwierige Subkulturen bilden. Kinderschutzverbände empfehlen Hilfe statt Strafe, Beratung, Arbeit mit Familien, Stärkung der Kinderrechte, Einzelfallhilfe, insgesamt vor allem Kommunikation und Beziehung.
Neuerdings erstarkt das Kontrollmodell. Es will Sicherheit schaffen, nichts dem Zufall überlassen, Fehlentwicklungen rechtzeitig erkennen und die Kinder von Geburt an beobachten. Dazu gehört auch strenger Zugriff, geschlossene Unterbringung, Polizeizwang gegen Schulschwänzer, Aufspüren und Unterbinden von Gewalt und Fehlverhalten, totale Überwachung durch Staat und Behörden.
Doch es läuft immer so, dass jeder denkbare Typus der Problemlösung nur einen einzigen Aspekt abdeckt. Man kann daher keinen von ihnen verallgemeinern und als aussagekräftig für die Klärung des gesamten Problems präsentieren. Es gibt eben keine richtige Methode, weil es sich durchweg um Schwierigkeiten handelt, die in der Gesellschaft selbst entstehen und nicht von außen behoben werden können.
Versuchen wir zum Schluss einen Ausblick unter den Stichworten:
Gestern, heute, morgen.
Gestern war alles noch ganz anders. Nach einem pädagogischen Handbuch, das vor 30 Jahren erschien, ging man damals noch ganz vom einzelnen Kind aus. Sein unerwünschtes Verhalten, vor allem in der Schule, sollte therapeutisch durch Konditionierung verändert werden. Konflikte wurden nicht gesellschaftlich, sondern als bekannte Phänomene (als Spannungen zwischen den Generationen, zwischen Eltern und Kindern usw.) gesehen. Man glaubte an die Allmacht der Pädagogik, mit schwierigen Kindern fertig zu werden.
Heute klammert man sich teils noch an die vermeintliche Sicherheit von damals, teils ist man unsicher geworden. Je weniger man an die schwierigen Kinder herankommt, desto zugreifender werden die vorgeschlagenen Maßnahmen: von der rührenden Forderung nach besserer Ausbildung der Pädagogen bis zum Ruf nach der starken Hand, die Ordnung in das Chaos bringt.
Was können wir heute und morgen wirklich tun? Wir können die Zumutungen an die Pädagogen abwehren, deren Arbeitszeit von Beschäftigung im Qualitätsmanagement und mit statistischen Erhebungen aufgefressen wird. Wir können darauf hinwirken, dass Pädagogen nicht als Durchlauferhitzer zum Durchpauken kurzschrittiger Programme missbraucht werden. Und wir können für sie und mit ihnen um die Chance kämpfen, wieder authentisch und glaubwürdig zu arbeiten, die persönlichen Beziehungen ins Zentrum zu stellen und die Schwierigkeiten, die ihnen von oben gemacht werden, einzudämmen.
Diese Öffnung der ganzen Frage zeigt einen wichtigen Unterschied zur pädagogischen Naivität von früher. Eine Gesamtlösung gibt es nicht, nur die Empfehlung für maximale Kenntnis der Verhältnisse und optimales persönliches Engagement. Was das konkret heißt, erfahren wir sicherlich gleich aus den folgenden Beiträgen.