anlässlich der Vorgänge in Halle und Berlin-Reinickendorf
Rechtssicherheit ist ein hohes Gut. Sicherheit geben gesetzliche Regelungen, deren einzelne Merkmale bestimmbar und deren Umsetzung durch die (Sozial-)Verwaltung Einzelfallgerechtigkeit erlauben sollen. Im Bereich der Erziehungshilfen für junge Menschen und ihre Familien stellt das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) entsprechende Sicherheiten dar.
Die derzeitige Jugendhilfepraxis in Deutschland zeigt, dass Jugendämter sich angesichts „leerer Kassen“ selbst bei individuellen Rechtsansprüchen zu Einsparungen genötigt fühlen. Erreichte Standards und Verpflichtungen gegenüber jungen Menschen und ihren Familien werden durch offizielle Dienstanweisungen bewusst unterlaufen. Einzelne Jugendämter fordern zum offenen Rechtsbruch auf. Gefährlich ist zudem hierbei, dass vereinzelt Aussagen mit dem Tenor getroffen werden „Jede Familie ist besser als ein Heim“.
Beispiel 1:
Am 03.09.2007 erließ der Fachbereich Kinder, Jugend und Familie der Stadt Halle (Saale) die Dienstanweisung Nr. 93 zur „innerfamilären Leistungserbringung – im Bereich der Hilfen zur Erziehung – unter Nutzung aller sozialräumlichen Stützungssysteme“. Ziel der Dienstanweisung sei „die konsequente Umsetzung des Fachkonzeptes in Verbindung mit den Vorgaben zur Haushaltskonsolidierung 2007/ 2008 (…) Das Ziel ist die Rückführung aller Kinder, Jugendlichen und jungen Volljährigen aus der Heimerziehung zum 30.09.2007 unter der Prämisse der Installierung von geeigneten Hilfen für das Familiensystem und der Sicherung des Kindeswohls“. Unter dem öffentlichen Druck kam es am 21.11.2007 endlich zur Überarbeitung der Dienstanweisung und nun ist nur noch von einer – ohnehin gesetzlich notwendigen – regelmäßigen Überprüfung der Hilfepläne, einer regelmäßigen Überprüfung der Leistungsgewährung für junge Volljährige und einer Nutzung der so genannten Quartiersrunden als Ressource des Sozialraums die Rede. Gleichwohl hält die Hallenser Oberbürgermeisterin den Druck auf die Mitarbeiter – im Geiste der ursprünglichen Dienstanweisung zu handeln – über die Presse weiter aufrecht (z.b. Mitteldeutsche Zeitung am 19.11.2007).
Beispiel 2:
Laut einer Dienstanweisung vom 4. September 2007 aus dem Bezirksamt Reinickendorf sollen zur Steuerung der Hilfen zur Erziehung ab sofort folgende Regelungen gelten:
- keine vollstationäre Unterbringung ab 16 Jahre
- keine Verlängerung in vollstationärer Einrichtung ab 16 Jahre
- Bewilligungszeitraum bei Neuunterbringung oder Verlängerung ab 14 Jahren, grundsätzlich nur sechs Monate
- Tagessätze für stationäre Hilfen dürfen 110,- Euro nicht übersteigen
- Belegung von Tagesgruppen wird bis auf weiteres ausgesetzt etc.
Diese Beispiele zeigen, dass sich in der Kinder- und Jugendhilfe zunehmend Praxen etabliert haben, die sogar – und dies ist neu in dieser Form – in dokumentierter, zumindest (halb) öffentlicher Form fachliche, rechtliche und finanzielle Verantwortung des Jugendamtes in Frage stellen und dabei die Rechte von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern völlig missachten. Dies geschieht gleichzeitig mit einer politischen Debatte um die verstärkten Kontrollaufgaben und Eingriffaufgaben des Jugendamtes im Rahmen der Kindesschutzdebatte.
Die unterzeichnenden Verbände für Erziehungshilfen stellen anlässlich solcher Praxen und Dienstanweisungen fest:
1. Kein Unterlaufen von Rechtsansprüchen!
Eine der wichtigen Errungenschaften des SGB VIII – als modernes Leistungsgesetz – ist es, die individuell notwendige und geeignete Hilfe für die jungen BürgerInnen und ihre Familien sicherzustellen. Neue untergründig sich festsetzende unbestimmte Rechtsbegriffe wie „Unabweisbarkeit einer notwendigen Hilfe“ (in Halle sind schon beispielsweise 114 der 314 Jugendlichen aufgrund richterlicher Weisung in der Heimerziehung) unterlaufen den grundsätzlichen Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung (§ 27 SGB VIII). Dieser entsteht, wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist – und nicht nur wenn das Kindeswohl akut gefährdet ist!
2. Auch Prävention kostet Geld!
Auch der Aufbau einer niederschwelligen Infrastruktur in den Sozialräumen sowie die fallbezogene und fallübergreifende Arbeit in Quartiersrunden oder Stadtteilteams erfordert Investitionen – nicht nur, aber auch in die Ausbildung, Schulung und Begleitung des Fachpersonals. Der Ausbau von präventiven Diensten und Angeboten ist nicht zum Nulltarif zu haben! Nur langfristig kann eine solche Ausrichtung positive Auswirkungen auf die Lebensbedingungen von Heranwachsenden und ihren Familien haben. Wenig Sinn macht es – wie in den Dienstanweisungen in Halle und Berlin geschehen ,- den Aufbau ambulanter, sozialräumlicher Angebote gegen stationäre Erziehungshilfen auszuspielen. Vielmehr gilt es, an einem Kontinuum von Hilfen zu arbeiten, die Übergänge zwischen den Hilfeformen ermöglichen und auch Angebote einer wohnortnahen Unterbringung mit intensiver Elternarbeit verknüpfen.
3. Familienstützung nicht gegen stationäre Hilfen ausspielen!
Das Profil der Hilfen zur Erziehung verändert sich kontinuierlich zugunsten familienunterstützender Angebote der Kinder- und Jugendhilfe. Die Ursachen hierfür sind vielfältig, aber nicht zuletzt auch bei entsprechenden Steuerungsstrategien von Jugendämtern im Bereich der Hilfen zur Erziehung zu suchen. Diese „Familialisierung der Kinder- und Jugendhilfe“ hat sicher auch das Verdienst, die Relevanz der Einbeziehung von Eltern und Familien in die Hilfegestaltung und –planung sowie die Notwendigkeit ihrer Beteiligung erneut deutlich ins Bewusstsein zu rufen.
Es ist allerdings mehr als fahrlässig, wenn wie in Halle durch die Oberbürgermeisterin (22.09.2007 mdr) erklärt wird, es gehe nicht um die Kosten, sondern es sei „einfach
menschlicher, Kinder in ihren Familien aufwachsen zu lassen“ und dabei der Eindruck erweckt wird, Entscheidungen des Jugendamtes für die Heimerziehung seien willkürlich und falsch. Das System „Familie“ ist bekanntlich nicht nur ein Ort positiv wirkender Kräfte, sondern in Familien schlagen sich auch negative Entwicklungsbedingungen für Kinder und Jugendliche nieder. Jugendhilfefachkräfte können somit nicht immer unhinterfragt auf familiäre Ressourcen zurückgreifen – und schon gar nicht steht eine solche Familienorientierung gegen die Formen des „vorübergehenden Lebens am anderen Ort“ (beispielsweise Heimerziehung). Voraussetzung für ein gutes Gelingen familienorientierter Hilfen ist vielmehr der geschulte, differenzierte Blick auf die vielfältigen Rahmenbedingungen des Systems „Familie“ als Ort des Aufwachsens von Jungen und Mädchen und deren Bedeutung für die jeweils konkrete Fallgeschichte.
4. Junge Volljährige nicht aus der Jugendhilfe drängen!
Mit Einführung des § 41 SGB VIII zielte der Gesetzgeber darauf ab, die Hilfen für junge Volljährige wesentlich zu verbessern. Jugendspezifische Problemlagen bei jungen Erwachsenen sollten durch das auf diese Problemlagen spezialisierte Hilfesystem der Jugendhilfe bearbeitet werden. Hierzu wurde der Kreis der Anspruchsberechtigten im Vergleich zum Jugendwohlfahrtsgesetz erweitert. Die spezifischen Probleme von jungen Menschen mit erzieherischem Bedarf sind allerdings nicht allein mit Mitteln der Arbeitsförderung und einem Verweis auf das SGB II zu lösen, hier sind insbesondere auch die Erziehungshilfen für junge Volljährige gefragt.
Eine Begrenzung der Hilfen für junge Volljährige und damit ein Herausdrängen der Heranwachsenden, wie es sich beispielhaft in den Dienstanweisungen in Halle und Berlin-Reinickendorf zeigt, wäre eine weitere Verstärkung sozialer Ungleichheit. Wenn jungen Volljährigen heute bei den entscheidenden Schritten des Erwachsenwerdens die notwendige Unterstützung entzogen wird, wird Ihnen gleichsam die Möglichkeit genommen, morgen in einer alternden Gesellschaft eine tragende Rolle zu übernehmen: Als Facharbeiter, als Pflegekräfte, als verantwortungsvolle Eltern und als engagierte Bürgerinnen und Bürger.
Rechtssicherheit gewährleisten!
Fiskalische Erwägungen dürfen und können nicht fachlich fundierte und gesetzlich normierte Dienstleistungen dominieren. Die öffentlichen Träger der Jugendhilfe, die Jugendämter, sind an das Gesetz gebunden und verpflichtet, allen Bürgerinnen und Bürgern Rechtssicherheit zu geben. Vor diesem Hintergrund begrüßen die Erziehungshilfefachverbände die öffentliche Diskussion, die Eltern, Kinder und Jugendliche in ihrem Rechtsanspruch auf geeignete und notwendige Hilfen unterstützt und Fachkräfte in den Jugendämtern stärkt, den Hilfebedarf mit den Betroffenen alleine auf dieser Basis abzuklären.
Nur auf dieser gesetzlich verpflichtenden fachlich begründeten Basis kann das Wohl von Kindern und Jugendlichen gewährleistet werden.
Frankfurt, Freiburg, Hannover den 20.12.2007
AFET – Bundesverband für Erziehungshilfe e.V. – www.afet-ev.de
BvkE – Bundesverband kath. Einrichtungen der Erziehungshilfen e.V. – www.bvke.de
EREV – Evangelischer Erziehungshilfeverband e.V. – www.erev.de
IGfH – Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen e.V. – www.igfh.de