1. Dienstleistungsorientierung in der Sozialen Arbeit
1.1. Einleitung
Die Diskussion um die Dienstleistungsorientierung ist in der Sozialen Arbeit eine durchaus traditionsbehaftete Debatte. Mit der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG/SGB VIII) Anfang der neunziger Jahre etablierte sich eine breite Debatte über eine „Umsteuerung“ bzw. einen Paradigmen- oder Perspektivenwechsel in der Jugendhilfe von einer obrigkeitsstaatlichen Ordnungs- und Eingriffsinstitution (in unterschiedlicher Ausprägung über das JWG in der BRD und die JHVO in der DDR) zu einem sozialen Dienstleistungsunternehmen. An die Stelle des Eingriffs tritt nunmehr ein individueller und gesellschaftlicher Gestaltungsauftrag.
Um das Potential der Dienstleistungsorientierung, insbesondere mit der Subjektstellung der Adressaten/innen sowie deren Partizipationschancen, als Leitkonzept für die Jugendhilfe zu erkennen, ist es notwendig, herauszuarbeiten, welche Bedeutung Dienstleistung im Rahmen der Sozialen Arbeit zukommt und v.a. wie sich dieses Konzept in verschiedenen Entwicklungssträngen definieren lässt.
In einem zweiten Schritt soll der Aspekt der Dienstleistungsorientierung als der Mittelpunkt eines Modernisierungsprozesses in der Sozialen Arbeit bzw. speziell in der Jugendhilfe näher betrachtet werden. Es gilt diesbezüglich zu ergründen, welche theoretischen Konzepte und welche Problematiken dahinter stehen sowie welche Perspektiven sich daraus ergeben. Wie und in welcher Art und Weise findet sich dieser Anspruch in Organisationsformen und Handlungsstrategien der sozialen Arbeit i.w.S. bzw. der Jugendhilfepraxis i.e.S. wieder? Welche Veränderungen sind notwendig, wo liegen Ressourcen, damit der Perspektivwechsel von einer staatlichen Eingriffs- zu einer sozialen Dienstleistungsorientierung nicht nur theoretisch sondern auch in der täglichen Praxis der Jugendhilfe vollzogen werden kann? An dieser Stelle werden Fragen aufgeworfen, deren Beantwortung Entwicklungslinien und Dimensionen nachzeichnet, die grundlegend sind für die Erkenntnis, dass eine umfassende Beteiligung bzw. Partizipation der Adressat/innen oder Nutzer/innen ein zentrales Strukturerfordernis effektiver und effizienter Dienstleistungserbringung ist.
1.2. Dienstleistungsdiskurse
Bezüglich der Dienstleistungsorientierung in der sozialen Arbeit werden zwei Entwicklungsstränge unterschieden.
Nachdem in den siebziger Jahren im Rahmen von gesellschaftstheoretischen soziologischen Diskursen Debatten über die Entstehung von Dienstleistungsgesellschaften geführt wurden, dauerte es nicht lange, bis auch in den Sozialwissenschaften versucht wurde, im Kontext der Sozialpolitik eine eigene Theorie personenbezogener Dienstleistungen zu entwickeln (u. a. Badura / Gross 1977). Inhaltlich konzentrierte man sich hier insbesondere auf Organisations- und Institutionalisierungsformen, ordnungs- und sozialpolitische Kriterien, die Definition professionellen Handelns sowie die Verortung sozialer Dienstleistungen im pluralen System der Wohlfahrtsverbände. Seit Beginn der neunziger Jahre erlebt die Dienstleistungsdebatte in der Sozialen Arbeit eine „Neuinszenierung“, allerdings in zwei voneinander nahezu unabhängigen Kontexten.
- Zum Ersten rückt die soziale Dienstleistung in das Zentrum einer Diskussion, die unter dem Label „new-public-management“ im Zuge von Verwaltungsmodernisierung mit neuen kommunalen Steuerungsstrategien die Jugendhilfe so umgestalten will, dass „ihre Produkte möglichst bürgernah, effektiv und wirtschaftlich bereitgestellt werden“ (KGST 1995, S. 8).
- Zum Zweiten entwickelt sich ausgehend von veränderten Bedürfnis- und Problemkonstellationen der Adressat/innen Sozialer Arbeit ein Dienstleistungsverständnis, durch welches es zu einer fachlichen und organisatorischen Neuorientierung und zu einer neuen Verhältnisbestimmung von Nutzer/innen, Professionellen und Organisationen kam.
1.2.1. New-Public-Management
Mit Hilfe von marktförmigen und betriebswirtschaftlichen Organisations-, Finanzierungs- und Steuerungsmodellen, mit Kunden/innenorientierung, Qualitätsmanagement, mit Outputorientierung, Dezentralisierung und Personalentwicklung wird versucht, teilweise auch unter Ignoranz und Nichtbeachtung von fachlichen und politischen Implikationen, Standards und Konzepten aufgrund von Kostendruck, d.h. fehlenden finanziellen Ressourcen, jedoch auch einem gleich bleibenden bzw. steigenden Leistungsbedarf, eine Effektivitätssteigerung und Effizienzerhöhung zu erwirken.
Aufgrund einer, den Verfahrensweisen des Neuen Steuerungsmodells immanenten, Sparpolitik wurde sehr bald der Vorwurf laut, dass unter besonderem Finanzdruck stehende Kommunen das Neue Steuerungsmodell zur Konsolidierung ihres Haushaltes und zur Realisierung von Sparzwängen nutzen, allerdings grundlegende Innovationen der Leistungsgestaltung fehlten.
Problematisch muss außerdem betrachtet werden, dass es insbesondere in der Jugendhilfe, anders als in der freien Marktwirtschaft, wo verschiedene Konzerne miteinander konkurrieren, um Gesetzesvollzug bzw. die Umsetzung gesetzlicher Zielbestimmungen geht und Bürger/innen hier nie völlig zu Kunden/innen werden, sondern immer auch Rechtssubjekt bleibt. Liebig konstatiert: „Die Neuorientierung staatlichen Handelns an Produktivitäts- und Effektivitätsmaßstäben ökonomischer Art ist ein wichtiges Reformerfordernis, die Imitation privater Rationalisierungsstrategien jedoch immer ein Fehlschlag“ (Liebig 2001, S. 67).
Zweifelsohne wurde mit dem „new-public-management“ eine Entwicklung angestoßen, die zur Umsetzung der aus dem Kinder- und Jugendhilfegesetz erwachsenden modernisierten Organisations- und Leistungsanforderungen und der damit notwendigen Umstrukturierung der öffentlichen Jugendhilfe beitrug. Um dies allerdings gesetzeskonform realisieren zu können, ist eine permanente Reflexion von fachlichen Standards sowie das klare Bewusstsein darüber notwendig, dass Qualität und Quantität sozialer Leistungen immer Gegenstand gesellschaftlicher und sozialpolitischer Aushandlungen bleiben muss, in deren Ergebnis vom Grunde her ein gesellschaftspolitischem Kompromiss steht und nicht an finanziellen Möglichkeiten festgemacht werden darf.
Das Verständnis von Jugendhilfe als einen kontinuierlichen und kommunikativen Prozess aus Planung, Umsetzung und Kontrolle erfordert eine unbedingte Kooperation aller Dienstleistungsproduzenten/innen, von Verwaltung, Jugendhilfeausschuss, freien Trägern sowie die Einbeziehung der Betroffenen, um so, ausgehend bzw. Bezug nehmend zu den Lebensbedingungen der jungen Menschen, adäquate jugendhilfepolitische Handlungsnotwendigkeiten transparent zu entwickeln sowie die Leistungsfähigkeit bedarfsangemessen zu optimieren.
1.2.2. Dienstleistungshandeln als professionelles Konzept Sozialer Arbeit
Seit Anfang der neunziger Jahre kam es, nicht unbeeinflusst durch die Verwaltungsmodernisierung, zu einer Formulierung neuer Bestimmungsgrößen Sozialer Arbeit als personenbezogene Dienstleistung. Ausgehend von den konsumtionstheoretischen Grundannahmen der Ansätze von Herder-Dorneich / Kötz (1972), Badura / Gross (1976) sowie Gartner / Riessmann (1978) nehmen Konsumenten/innen, das nachfragende Subjekt, nun in der Dienstleistungsdiskussion eine neue, ganz zentrale Stellung ein. Er ist nicht mehr nur Objekt professionellen Handelns, dessen zeitliche und räumliche Anwesenheit alleinige Voraussetzung für eine Zusammenarbeit darstellt. Sondern die Nutzer/innen sozialer Dienste begeben sich in eine aktive Rolle, sie werden zu einem tragenden und gestaltenden Element der Planung, Entscheidungsfindung und Durchführung der Hilfe. Damit wird das Verhältnis von Anbieter/innenseite und Nachfrager/innenseite, von Professionellen, Organisationen und Nutzer/innen neu bestimmt.
Zentrale Strukturelemente personenbezogener sozialer Dienstleistungen
Zu den Einsichten von Herder-Dorneich / Kötz zählte 1972, dass personenbezogene soziale Dienstleistungen im Gegensatz zu sachbezogenen sozialen Dienstleistungen in einem Akt erbracht werden, d.h. Produktion und Konsumtion der Leistung fallen räumlich und zeitlich zusammen (vgl. Schaarschuch 1999). Um eine Leistung an Personen erbringen zu können, ist es zwingende Voraussetzung, dass sowohl Produzenten/innen, d.h. die Erbringer/innen einer Leistung, als auch die Adressaten/innen, d.h. die Konsumenten/innen, persönlich aufeinander treffen. Theoretisch daran anknüpfend, im Kontext einer Soziologisierung der Sozialpolitik (zunehmende Bedeutung der Interaktion bzw. der interpersonellen Kommunikation) betonen Badura und Gross, dass die Kunden/innenpräsenz, die dem uno-actu-Prinzip (in-einem-Akt-Prinzip) zugrunde liegt, nicht ausreicht, um effektive bedarfsgerechte Leistungen zu erbringen. „Effizienz der Leistungserbringung und Effektivität des Dienstes sind unbestimmbar ohne Einbezug des Klienten, die effiziente und effektive Produktion undenkbar ohne seine mehr oder weniger aktive Teilnahme.“ (Gross 1977, S. 366)
Die „aktive Beteiligung“ (ebd.) der Klienten/innen an der Leistungserbringung setzt kooperative, interaktive und kommunikative Strukturen zwischen Produzenten/innen und Konsumenten/innen voraus. Die Adressaten/innen von Dienstleistungen werden nach Gross / Badura als „externer Produktionsfaktor“ bestimmt, d.h. trotz der aktiven Einbeziehung verbleiben sie in einer eher konsumtiven Position wohingegen die Leistungsanbieter/innen für das produktive Handeln verantwortlich sind.
Erweitert wird diese, aus modernisierungstheoretischer Perspektive nicht hinreichende Bestimmung der Rolle der Konsumenten/innen durch Gartner/ Riessmann (1978). Von ihnen wird im Rahmen einer sozialpolitisch und gesellschaftstheoretischen Analyse betont, dass diejenigen, die soziale Dienstleistungen in Anspruch nehmen als „Ko-Produzenten/innen“ zu betrachten sind, d.h. durch die aktive Beteiligung am Prozess der Leistungserbringung werden die eigentlichen Konsumenten/innen gleichzeitig zum Produzenten/innen und damit zu einem zentralen Produktionsfaktor.
Darauf aufbauend entwickelte Gabi Flösser (1994) eine Dienstleistungskonzeption, welche sich ihren Weg bahnt von der Neubestimmung der zentralen Strukturelemente Sozialer Arbeit: Profession, Organisation und Adressaten/innen über die Reformulierung von Organisationsentwicklungs- und Managementkonzepten hin zu der Forderung, die „Nachfragebedingungen zum Ausgangspunkt für die systematische Initiierung organisatorischen Wandels zu nehmen“ (Flösser 1994, S. 151). Es wird betont, dass sich Aushandlungsprozesse zwischen Organisation und Adressaten/innen nicht nur auf den Prozess der Leistungserbringung konzentrieren, sondern sich die Einflussnahme über verschiedene Stufen der Leistungsproduktion und damit auch auf verschiedene organisationsinterne Prozesse erstrecken. Wichtige Voraussetzung hierfür ist ein wechselseitiges Verhältnis zwischen den Adressaten/innen der Dienstleistung und den sie bereitstellenden Organisationen. Genau an dieser Stelle setzt auch das Dienstleistungsmodell an, welches von Petersen (1999) im Rahmen einer empirischen Studie, aufbauend auf individualisierungs- und klassentheoretischen Modernisierungskonzepten, entwickelt wurde. Das zentrale Ergebnis der Studie und damit perspektivisch die zentrale Anforderung dieses dienstleistungsorientierten Handlungsmodells ist die Neubestimmung des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage, besonders dahingehend, die Interessen und Bedürfnisse der Nutzer/innen bei der Gestaltung der Leistungserbringung stärker zu berücksichtigen. Die Grundlage für dieses Konzept pädagogischen Dienstleistungshandelns ist der Responsivitätsansatz (Ausgewogenheitsansatz in Bezug auf die Vermittlung zwischen Nutzer/innen und Professionelle) von Windhoff-Heritiér (vgl. 1987), der im Sinne einer noch optimaleren Ausgewogenheit durch die Dimensionen der „Reflexivität“ und „Partizipation“ erweitert wird.
Responsivität im Sinne einer solchen Ausgewogenheit umschreibt das wechselseitige Verhältnis zwischen Nachfrage- und Angebotsseite im Prozess der Dienstleistungsentwicklung. Dabei sind Partizipation und Reflexion Indikatoren und Qualitätsmerkmale für dieses Wechselverhältnis. Diese Interaktions- und Strukturzusammenhänge lassen sich schematisch folgendermaßen darstellen (vgl. Petersen 1999, S. 86 ff.):
Partizipation ® Responsivität ¬ Reflexivität
(Beteiligung der (Ausgewogenheit der (Selbstbetrachtung
Nachfrageseite) Leistungsentwicklung) der Angebotsseite)
Das Verhältnis von Angebots- und Nachfrageseite ist demzufolge ausgewogen, wenn „die Adressaten an der Dienstleistungserbringung partizipieren und sich das Angebot reflexiv gestaltet“ (Petersen 1999, S. 87).
Faktisch bzw. orientiert an konkreten Praxisvollzügen heißt dies, dass es die Aufgabe der Profession und Organisation ist, zu überprüfen, inwiefern Möglichkeiten für die Nutzer/innen vorhanden sind, ihren Wünschen und Anliegen Ausdruck zu verleihen. Wenn diese strukturelle Komponente abgeklärt ist, muss man in einem wechselseitigen interaktiven Prozess der Dienstleistungsentwicklung schauen, wie man diesen Bedürfnissen entsprechen kann. Die kontinuierliche Partizipation der Nachfragenden und folglich auf der Angebotsseite die Reflexion dessen, in welchen Formen sich die Adressaten/innen an der Leistungsvorbereitung und Leistungserbringung konkret beteiligen, sind zentrale Voraussetzungen und Erfordernisse für eine fachlich qualitativ gute, bedarfsorientierte und kooperative dienstleistungsorientierte Jugendhilfe.
Die Dimension der Reflexivität, als Komplementärstück zur Partizipation, dem Charakteristikum der Nachfrageseite, umschreibt die Aufgabe der Angebotsseite „sich über die Bedingungsmöglichkeiten einer Aktivierung der Mitproduzenten/innen der Dienstleistung Wissen anzueignen, dieses Wissen kontinuierlich im Zusammenhang mit Praxiserfahrungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen zu überprüfen, zu erneuern und umzusetzen“ (Petersen 1999, S. 88). Reflexivität bezeichnet weiterhin das Wissen, welches sich die Professionellen und Organisationen im Rahmen der Leistungsentwicklung in der Wechselseitigkeit zur Nachfragseite durch Denk- und Beobachtungsprozesse aneignen. Dies erfordert natürlich auf der Anbieter/innenseite auch die Kompetenz die immense Wichtigkeit der Beteiligung der Adressaten/innen für eine effektive Leistungsgestaltung anzuerkennen. Sie müssen sich lösen von ihrem Selbstbild als Experten/innen, deren Fachwissen und Definitionsmacht die einzige Basis darstellen für einen adäquaten Problembearbeitungsprozess.
Das Responsivitätsmodell von Windhoff-Heritiér
Adrienne Windhoff-Heritiér hat 1987 für die Sozialpolitik den Versuch unternommen, aus der Anbieter/innenperspektive die Position der „Leistungsempfänger/innen“ (ebd. S. 231 ff.) im Prozess der Leistungsentwicklung zu stärken. Der Auffassung eines wechselseitigen Verhältnisses zwischen Angebots- und Nachfrageseite liegt das einfache „Stimulus-Response-Modell“ (ebd.) zugrunde:
Leistungsempfänger/innen ——————————————-————— Leistungsanbieter/innen
R e s p o n s e
(nutzer/innenorientierte Ausgewogenheit)
Die Nutzer/innen von Dienstleistungen setzen Stimuli, d.h. stellen konkrete Anforderungen an die Leistungsanbieter/innen, woraufhin diese eine dementsprechende Leistung erbringen (vgl. ebd.). Dieses Modell kann als Ausgangsbasis dazu dienen, die Perspektiven von Leistungsempfängern/innen und Leistungsanbietern/innen konsequent zu unterscheiden sowie folglich im Analyseprozess aufeinander zu beziehen. Es ist aber durch seine Universalität in seinen Möglichkeiten dahingehend begrenzt, dass Fragen aufgeworfen werden, die aufgrund eines potentiell differenzierten Nachfragekreises, heterogener Leistungsorganisationen, unterschiedlicher Zugangsmotivationen (Initiativbereitschaft) und Aktivitätsformen und aufgrund der Frage, in welcher Phase des Leistungsprozesses die Beteiligten tatsächlich in wechselseitige Interaktion treten, unbeantwortet bleiben müssen.
Windhoff-Heritiér hat deshalb für den gesamten Prozess der Leistungsproduktion ein mehrstufiges „Viel-Aktoren-Responsivitätsmodell“ entwickelt, womit das Verhältnis zwischen Leistungsempfängern/innen und Leistungsanbietern/innen im Sinne einer Ausgewogenheit und damit auch das Ausmaß der Partizipationsmöglichkeiten, auf verschiedenen Entscheidungsebenen bei der Entwicklung sozialstaatlicher Leistungen analysiert werden kann.
Angemessene Leistungsvermittlung ist zu verstehen als: „komplexe ‘Two-Way-Communication’, als Prozess, der sich über verschiedene Stufen der Leistungsproduktion erstreckt und die Gestalt von Zugangs-, Agenda-, Entscheidungs-, Ergebnis- und Wirkungsresponsivität (Wirkungsausgewogenheit d.A.) annehmen kann“ (ebd. S. 234). In diesem Sinne werden dabei drei Phasen der Leistungsvorbereitung und zwei Phasen der Leistungserbringung unterschieden.
(1) Leistungsvorbereitung
a) Zugangsphase: Hier ist von entscheidender Bedeutung, besonders für die weitere Erreichbarkeit der Klientel, die Art der Kontaktaufnahme. Ausgewogenheit des Zugangs (z.B. Niedrigschwelligkeit, Vertraulichkeit) bezeichnet das Ausmaß, in dem die Leistungsanbieter/innen den Hilfesuchenden bzw. Sozialleistungsempfängern/innen entgegentreten. Die Leistungsanbieter/innen stellen Zeit und Aufmerksamkeit zur Verfügung und die Leistungsempfänger/innen äußern erste Vorstellungen über die zu erbringende Leistung. Wenn die formulierten Änderungswünsche der Nutzer/innen wirklich ernst genommen werden und nicht in einer rein symbolischen Geste des Entgegennehmens münden, d.h. dem Zuhören keine Taten folgen, werden die Interessen und Forderungen der Nutzer/innen lediglich in die administrative Tagesordnung aufgenommen.
b) Planungsphase: In der Phase setzt ein Reflexionsprozess auf der Organisationsebene ein. Die Klientel bzw. Empfänger/innen der Sozialleistung haben hier relativ wenige Einflussmöglichkeiten. Bezogen speziell auf die Jugendhilfe (vgl. Petersen 1999) bedeutet dies, dass darüber nachgedacht wird, wo konkret die Zuständigkeiten für den von den Nutzer/innen vorgetragenen Bedarf liegen, sowie welche potentiellen Mittel und Wege es gibt, um diesem gerecht zu werden, allerdings immer gedacht unter dem unabdingbaren Postulat der Stärkung und Förderung der Partizipationsmöglichkeiten der Leistungsempfänger/innen. Trotz alledem ist es nicht vermeidbar, dass in dieser Phase der Dienstleistungsentwicklung die organisationsbezogenen und professionellen Interessen stärker in den Vordergrund treten.
c) Entscheidungsphase (Output-Phase): In dieser Phase der materiellen Entscheidungen über finanzielle Mittel und Personal wird darüber beschlossen, ob nun tatsächlich die zur Erfüllung der Klienten/innenwünsche notwendigen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Die Ausgewogenheit des Prozesses der Hilfegewährung im Sinne einer Nutzer/innenorientierung auf dieser Stufe der Entscheidungen, wo normalerweise, aufgrund organisationsinterner Verteilungsstrukturen und der Dominanz professioneller und organisatorischer Interessen, die Nutzer/innen wenig direkte Partizipationsmöglichkeiten haben, misst sich daran, inwiefern die Interessen und Bedürfnisse der Nutzer/innen Berücksichtigung finden und von den Professionellen entsprechend reflektiert werden.
(2) Leistungserbringung
d) Ergebnisphase (Outcomes-Phase): In der Ergebnisphase, der Phase, in der die eigentliche Leistungserbringung erfolgt, erreicht die Interaktion mit den Nutzer/innen eine neue qualitative Stufe. Die Leistungsempfänger/innen sind nun als Koproduzenten/innen direkt an der Leistungserbringung beteiligt. Im Vordergrund steht hier die Kooperation, die Handlungsverflechtung zwischen den Nutzer/innen und den Professionellen. An diesem Punkt wird der Maßstab der Bewertung strenger. Aufgabe der Leistungsanbieter/innen, der Professionellen, ist es, die Kompetenzen der Nutzer/innen in den Vordergrund ihrer Reflexion und Handlungskonzepte zu stellen, um deren Partizipation am Problembearbeitungsprozess zu erzielen (Petersen 1999, S. 101). Innerhalb dieser Phase kann es zu Divergenzen innerhalb der Organisation kommen und zwar besonders dann, wenn sich die Interessen der oberen Entscheidungsebenen (höchstmögliche Effizienz und Effektivität) von denen der Fachkräfte unterscheiden, die sich im direkten Kontakt mit den Leistungsempfängern/innen befinden. Hier stoßen also die organisatorischen Interessen mit den wirklichen Anliegen und Bedürfnissen der Menschen zusammen.
e) Wirkungsphase (Impact-Phase): Diese Phase wird von Windhoff-Heritiér auch als „Prüfstein der Leistungserbringung“ (ebd. S. 242) bezeichnet. Es wird hier in einer Art Erfolgsbilanz evaluiert, auf welchem Niveau (dieses bemisst sich an der Qualität und Reichweite der Partizipation und Reflexion auf der Nachfrage- und Angebotsseite) in den vorangegangenen Phasen sowohl aus Nutzer/innen- als auch aus Anbieter/innenperspektive eine adäquate Problembehandlung stattgefunden hat, ob quasi die individuellen Bedürfnisse und die professionellen Gesichtspunkte gleichberechtigt berücksichtigt wurden.
Mit Hilfe dieses Phasenmodells des Leistungsentwicklungsprozesses kann demnach auf jeder Stufe der Grad der Qualität des Hilfegewährungsprozesses untersucht werden, sowohl auf organisatorischer, professioneller als auch interaktionsbezogener Ebene. Windhoff-Heritiér lenkt bei seinen Überlegungen den Blick verstärkt darauf, welche Auswirkungen die Qualität sozialstaatlicher Leistungen auf den Bezug der Bürger/innen zum politisch-administrativen System haben, d.h. er beschreibt die Bedeutung einer ausgewogenen Sozialpolitik für die Legitimation des politischen Systems.
Eine These lautet: „Gehen Sozialleistungs-Institutionen nun flexibel und professionell-sachgerecht auf Probleme der Klienten ein, so leisten sie einen Beitrag zur Legitimation des politischen Systems, während ein ‘Vorbeiproduzieren’ an den Klientenwünschen die Legitimationskraft des politischen Systems mindert.“ (Windhoff-Heritiér 1987, S. 245)
Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass er mit diesem Modell eine Möglichkeit entwickelt hat, aus verschiedenen Perspektiven heraus genauer zu schauen, wie das Interaktionsverhalten und damit die kooperative Produktion einer Dienstleistung ausgeprägt ist. Jede einzelne Phase eröffnet auf der Nachfrager/innen- und auf der Anbieter/innenseite unzählige Fragen und Probleme. Durch deren Beantwortung, Lösung und reflexive Auseinandersetzung, erhöht man die Chancen einer größeren Bedürfnisgerechtigkeit, eines daraus resultierend positiveren Verlaufs und einer größeren Effektivität einer Sozialleistung.
1.3. Konsequenzen für die Jugendhilfe als personenbezogene Dienstleistung
Der Ausgangspunkt für die Entwicklung der Jugendhilfe von einer Fachbehörde zu einem Dienstleistungsunternehmen lässt sich in den, durch gesellschaftliche Modernisierungsprozesse, veränderten Problem- und Bedürfniskonstellationen von Kindern und Jugendlichen und der daraus resultierenden Erkenntnis einer grundlegenden Umorientierung der Jugendhilfe (vgl. BMFSFJ 1994) verorten. Durch gesellschaftliche Transformationsprozesse (u. a. Individualisierungs- und Pluralisierungstendenzen) und damit der Veränderung der objektiven und subjektiven Lebensbedingungen, insbesondere von Kindern und Jugendlichen sowie deren Familien, ergab sich für diese einerseits zwar eine Fülle von Möglichkeiten hinsichtlich der individuellen Möglichkeiten der Lebensgestaltung, andererseits wurden sie dadurch aber auch mit der Verantwortlichkeit konfrontiert, aus eben dieser Fülle von Optionen vor dem Hintergrund ihrer persönlichen, materiellen und sozialen Lage einen Weg auszuwählen bzw. ein Lebenskonzept zu entwickeln.
Auf der einen Seite voranschreitende Ausdifferenzierungsprozesse und Optionsvielfalt und auf der anderen Seite Chancenungleichheit und Unsicherheit bei Entscheidungen über die Zukunft. Eben dies sind aus soziologischer Perspektive Gegebenheiten, die zwangläufig ein Umdenken, einen Perspektivenwechsel in der Jugendhilfe zur Folge haben mussten.
Speziell für Deutschland kam Anfang der 1990er Jahre hinzu, dass sich die Bürger/innen der DDR mit der Wende Anfang der neunziger Jahre an einem Punkt befanden, wo das gesamte gesellschaftliche und auch das soziale Leben mit neuen Strukturen, Normen, Werten und Sichtweisen konfrontiert wurde.
Auf den Ebenen der Organisation und Qualifikation, aber auch bezüglich elementarer Handlungsstrukturen, waren Veränderungen in der Jugendhilfe dringend notwendig (auch in den westlichen Bundesländern), denn die traditionellen Normalitätskonstruktionen stimmten immer weniger mit den Erfahrungen, Wünschen und Idealen der Adressaten/innen überein, wodurch die Gefahr relativ groß wurde, an ihnen vorbei zu agieren. Beck konstatierte dazu: „Die moderne Gesellschaft spaltet sich auf in ein in den Institutionen geltendes Selbstbild, dass die alten Sicherheiten und Normalitätsvorstellungen der Industriegesellschaft konserviert und in eine Vielfalt lebensweltlicher Realitäten, die sich immer weiter davon entfernen“ (Beck, 1992, S. 186; zit. In: AG „Präventive Jugendhilfe“ 1995, S. 119). Hier lag für die gesamtdeutsche Jugendhilfe die Chance, zu überprüfen, in welchem Verhältnis sich die Strukturelemente der Sozialen Arbeit (Organisation, Profession und Adressaten/innen) unter den modernisierten, durch Individualisierung und Pluralisierung gekennzeichneten, gesellschaftlichen Bedingungen zueinander befinden.
Es wurde erkannt, dass sich die Jugendhilfe neu definieren muss, dass sich ihre Bedeutung für die Gesellschaft verändert hat, dass sie nicht allein die Aufgabe hat, Rand- bzw. Problemgruppen nach bestimmten normativen Kriterien in die Gesellschaft zu integrieren, d.h. den von außen bestimmten Normalzustand wieder herzustellen. Aufgrund einer sich individualisierenden, pluralisierenden und sehr risikobehafteten Gesellschaft war es nicht mehr möglich, bestimmte Problemlagen konkreten Randgruppen zuzuordnen und dementsprechende Hilfeformen zu initiieren. Durch die zunehmend schwieriger werdenden Sozialisationsbedingungen für junge Menschen, unabhängig von Schicht oder Klasse, durch fortlaufende Differenzierungsprozesse und daraus resultierende Integrationsproblemen in modernisierte Gesellschaften musste auch die Jugendhilfe ihr Selbstverständnis überdenken. Sie war nicht weiterhin eine Institution sozialer Kontrolle und Überwachung, sondern vielmehr entwickelte sie sich aufgrund zunehmender Normalisierung zu einem anerkannten gesellschaftlichen Bereich mit eigenständiger Sozialisationsfunktion. „Eine strukturelle und funktionelle Erweiterung der Jugendhilfe muss zu anderen Formen ihrer Institutionalisierung führen und dabei Elemente der Bildung und Erziehung mit Hilfen zur Lebensbewältigung auf eine neue Weise verbinden. Dafür bietet der Dienstleistungsansatz die innovative Grundlage“ (BMFSFJ 1994, S. 582). Deshalb ist es neben der Herausbildung dienstleistungsorientierter Leistungsprofile und Handlungsformen ein zentrales Vorhaben, auf organisatorischer Ebene entscheidende Transformationen vorzunehmen.
Im Mittelpunkt allerdings, und dies macht den Kern dieses fachlich begründeten Diskussionsstranges über soziale Dienstleistungen aus, stehen die „Situativität und Kontextualität sowie die Optionen und Aktivitäten des nachfragenden Subjektes“ (BMFSFJ 1994, S. 583). Eine stärkere Öffnung auf Nachfrage und Bedürfnisse hin und eine funktionelle und organisatorische Umorientierung sind demnach zusammengefasst die konstitutiven Grundelemente der Leistungsfähigkeit einer modernen Jugendhilfe.
Im neunten Jugendbericht (BMFSFJ 1994) wurde ein Konzept mit zentralen Bezugsdimensionen (Orientierungsmodell) entwickelt, welches einen Weg zeigt für den Perspektivwechsel der Jugendhilfe, „von einem staatlichen bzw. parastaatlichen Eingriff hin zu einer sozialen Dienstleistung“ (BMFSFJ, S 584) mit einem eigenständigen fachlichen Profil. Ansatzpunkt für entsprechende Strukturen ist ein dringend erforderliches verändertes Verhältnis von Organisation und Professionellen zu den Adressat/innen der Jugendhilfe, entsprechend deren gewandelten gesellschaftlichen Bedürfnis- und Problemlagen. Ein Wechselverhältnis zwischen den jungen Menschen, ihren Einstellungen, Haltungen und Orientierungen sowie deren individuellen Problemlösungskompetenzen und Ressourcen bzw. deren Bedarf an sozialer Unterstützung, und der Angebotsseite der Jugendhilfe, kann zukünftig dazu beitragen, dass sich Organisationsformen, Handlungsgrundsätze und Leistungsangebote herausbilden, die Ausdruck einer modernen, den gesellschaftlichen Bedingungen angemessenen, als Dienstleistungsorganisation institutionalisierten, Jugendhilfe sind und die flexible, problemangemessene und lebenslagenbezogene Präventions- und Interventionsformen ermöglichen (vgl. BMFSFJ 1994). Die Modernisierung bzw. stärkere Dienstleistungsorientierung der Jugendhilfe vollzieht sich über die Teilbereiche der:
- Organisationsentwicklung,
- Kompetenzentwicklung und
- Angebotsentwicklung.
Um im Zuge von Rationalisierung und Entbürokratisierung nichts an Qualität und Leistungsfähigkeit moderner Jugendhilfe einzubüßen, ist speziell auf Organisationsebene eine stärkere Flexibilisierung der Aufbau- und Ablauforganisationen notwendig. Im Sinne der Kompetenzentwicklung gelangen die Mitarbeiter/innen durch zunehmende Reflexivität zu der Fähigkeit, das Verhältnis von Problem und Handlung durch den Einbezug veränderter Wirkungszusammenhänge aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Stichwortartig ist dies damit zu erläutern, dass Hilfeangebote und Leistungen nicht aufgrund von einfachen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen erstellt werden können oder nach standardisierten, stark maßnahmeorientierten Verfahren, schubladenartig bestimmten Problemkonstellationen spezialisierte abgegrenzte Hilfeformen (insb. § 27 ff. KJHG) zugeordnet werden können. Hinte, als eine zentrale Figur der Debatte um die Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe meint dazu: „Es gibt nicht das angemessene Verfahren, die richtige Vorgehensweise, die probate Methode, die durch Untersuchungen abgesicherte Wirkung. Eine wirklich bedarfsgerechte Hilfe ist immer wieder situativ neu zu entwickeln und der jeweils wechselnden Lage des Kindes bzw. des Jugendlichen anzupassen …“ (Hinte 1999, S. 13).
Die Qualität der Fachkräfte zeigt sich also in der Fähigkeit, die individuelle Person mit ihren Fähigkeiten, Ressourcen, sozialen Beziehungen, mit ihren eigenen Bedürfnissen, Wünschen, Interessen aber auch Schwächen und Schwierigkeiten in ihrem Lebensumfeld in den Blick zu nehmen und darauf aufbauend, eine nur auf diese Person bezogene Hilfe zu erarbeiten. Der Dienstleistungsaspekt der Angebotsentwicklung in Verbindung mit den Dimensionen der Organisation und Qualifikation begründet und entwickelt sich durch das sehr komplexe Verhältnis zwischen Nachfragenden und Anbietenden von Jugendhilfeleistungen. Grundvoraussetzung für die Realisierung einer innovativen aktiv gestaltenden Jugendhilfe im Kontext des sozialen Dienstleistungsansatzes ist die schwerpunktmäßige Ausrichtung an den Bedürfnissen der Adressaten/innen, deren Problemdeutungen und Selbstverständnis, d.h. eine Zielgerichtete Ausrichtung an den Nachfragenden ist notwendig, um adäquater auf die gewandelten Lebensbedingungen reagieren zu können, anstatt weiterhin basierend auf den Normalitätskonstruktionen der Sozialgesetze vorstrukturierte, versäumte Leistungen mit dem Ziel der Anpassung zu erbringen.
Im 9. Jugendbericht wird an dieser Stelle sehr direkt und unmissverständlich auf die immense Bedeutung von partizipativen Strukturen für die Bearbeitung psycho-sozialer Probleme in der Jugendhilfe hingewiesen (vgl. BMFSFJ 1994, S. 586). Gleichzeitig wird darauf aufmerksam gemacht, dass eine einfache Transformation von traditionell vorherrschenden Organisationsmodellen, Arbeitsformen und Handlungsmuster nicht zur Auflösung bzw. Behebung veralteter Strukturen und zu neuer Innovationskraft führt. „Stattdessen kommt es darauf an, für eine grundlegende Erneuerung der kommunalen Jugendhilfe professionelle, administrative und adressaten/innenbezogene Kriterien so aufeinander zu beziehen, dass sie einen Perspektivenwechsel von einer Fachbehörde hin zu einer modernen Dienstleistungsbehörde befördern.“ (BMFSJ 1994, S. 586)
2. Jugendhilfe als Wächteramt
Kinder- und Jugendhilfe ist in erster Linie ein hilfreiches, beratendes, unterstützendes und förderndes Angebot für junge Menschen und deren Familien. Der Staat achtet und unterstützt ggf. das “natürliche Recht der Eltern”, für die Pflege und Erziehung ihrer Kinder zu sorgen und dieser Verpflichtung nach den je eigenen Vorstellungen und Möglichkeiten gerecht zu werden (vgl. Art. 6 Grundgesetz). Dieses grundgesetzlich verankerte elterliche Erziehungsrecht schafft aber keinen rechtsfreien oder willkürlichen Raum, denn “Über ihre (der Eltern) Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft” (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz; § 1 Abs. 2 SGB VIII).
Damit ist bestimmt, was im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe als “staatliches Wächteramt” verstanden wird: Mit einer breiten Palette von Leistungen für Eltern und andere Personensorgeberechtigte sowie für die jungen Menschen selbst leistet die Kinder- und Jugendhilfe einen wichtigen Beitrag, dem Recht junger Menschen auf Förderung ihrer Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit Geltung zu verleihen (§ 1 SGB VIII). Wo gegen dieses Recht in schwerwiegender Weise verstoßen wird, muss Jugendhilfe zum Schutz von Kindern und Jugendlichen eingreifen und im Falle andauernder Gefährdungen beim Familiengericht die notwendigen Maßnahmen erwirken. Daneben hat der Gesetzgeber weitere Vorkehrungen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen in Familienpflege und in Einrichtungen getroffen.
Die generelle Zuständigkeit für die Durchführung der Jugendhilfe liegt bei den örtlichen Trägern. Ausgenommen von der örtlichen Zuständigkeit sind jene Aufgaben nach §§ 45 ff und 85 Abs. 2 insoweit, als sie sich aus dem staatlichen Wächteramt nach Artikel 6 Abs. 2 Satz 2 GG (Schutz von Ehe und Familie) ableiten. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber mit der Verankerung der überörtlichen Träger eine Service- und Sicherungsfunktion für die örtliche Ebene gestaltet, die ein partnerschaftliches Verhältnis normiert und damit die kommunale Ebene zusätzlich stützt.
Die leistungsrechtliche Ausgestaltung des SGB VIII knüpft an die eigene Bereitschaft der Nutzer/innen an, Hilfen zur Erziehung im Bedarfsfall in Anspruch zu nehmen. Die Lebenswirklichkeit indes zeigt, dass diese Bereitschaft nicht immer vorhanden ist und auch in zahlreichen Fällen nicht rechtzeitig geweckt werden kann. Der notwendige Schutz des Kindes und des Jugendlichen als Inhaber eigener Grundrechte ist damit nicht generell gewährleistet.
Über das Wächteramt (§ 1 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 Ziff. 3 SGB VIII) wird deshalb die Jugendhilfe im Konfliktfall gesetzlich verpflichtet, das Wohl des Kindes auch gegen den Willen der Eltern zu schützen, wenn ihm eine ernsthafte Gefährdung droht und die Eltern nicht willens oder in der Lage sind, die Gefährdung abzuwenden.
§ 1 Recht auf Erziehung, Elternverantwortung, Jugendhilfe
…
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.[1]
Mit Betonung sei aber darauf hingewiesen, dass solche Interventionen sinnvoll lediglich als besonderes Krisenmanagement zu verstehen sind, dessen Bedeutung für die Grundkonzeption von Jugendhilfe jedoch nachrangig ist. Es muss also im Umgang mit Öffentlichkeit und Medien offensiv darauf hingewirkt werden, dass die Skandalisierung der Krise im Einzelfall nicht das Bild von der Jugendhilfe bestimmt.
§ 1, Abs. 2, Satz 1 SGB VIII begründet die Pflicht der Eltern, ihrer Erziehungsaufgabe nachzukommen. § 1626 Abs. 1 BGB unterstreicht diesen Pflichtcharakter, indem dort umgekehrt zunächst die Pflicht der Eltern und dann ihr Recht genannt ist. Abs. 2, Satz 2 SGB VIII begründet das Wächteramt des Staates darüber, dass die Eltern ihre natürliche Pflicht erfüllen, indem die Gemeinschaft über diese Betätigung wacht.
Elternrecht und staatliches Wächteramt werden hier rechtlich miteinander verknüpft. Damit erhofft man sich die Würde und das Wohl junger Menschen am besten zu schützen. Zwischen den beiden Polen Elternrecht und staatliches Wächteramt ist somit das Kindeswohl angesiedelt.
Eine Pflichtverletzung im Sinne einer Kindeswohlgefährdung liegt vor, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes nicht mehr gewährleistet ist oder die Gewährleistung erheblich in Frage gestellt wird. Wird durch elterliches Tun oder Unterlassen diese Grenze überschritten, handeln die Eltern nicht mehr in Pflichterfüllung ihres Elternrechts. Das Elternrecht ist somit durch das Gesetz von vornherein begrenzt durch seine ausschließliche Ausübung zum Wohl des jungen Menschen. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet das Elternrecht deshalb zutreffender als “Elternverantwortung” (BVerfGE 24, 143).
Das staatliche Wächteramt soll jedoch nicht nur als Reaktion auf eine bereits eingetretene Kindeswohlgefährdung wahrgenommen werden, sondern muss auch präventiv ausgeübt werden, d.h., dass durch Unterstützung und Ergänzung der elterlichen Erziehung eine Gefährdung des Kindeswohls frühzeitig zu erkennen und dieser zu begegnen ist. Erst wenn die Gefährdungsschwelle des § 1666 BGB erreicht ist, ist der Staat in Ausübung seines Wächteramtes zu einem Eingriff in das Elternrecht berechtigt, aber auch verpflichtet. Der junge Mensch hat auf diesen staatlichen Eingriff unter den Voraussetzungen des § 1666 BGB einen eigenen Rechtsanspruch. Sowohl in Bezug auf den Eingriff als auch die Gewährleistung des Rechtanspruches der jungen Menschen kommt dem Jugendamt eine besondere Bedeutung zu.
Diese besondere Bedeutung des Jugendamtes (nicht nur des ASD) wird im Zuge der Novellierung des SGB VIII mit Blick auf den § 8a ausdrücklich und differenzierter als bisher hervorgehoben. Hier wird die Gesamtverantwortung des Jugendamtes ergänzt durch die eindeutige Bestimmung der Verantwortung aller „Träger von Einrichtungen und Diensten, die Leistungen nach diesem Buch erbringen“. Dabei sind im Sinne des Wortlautes des § 1 SGB VIII „Darüber wacht die stattliche Gemeinschaft.“ sogar einzelne Handlungsschritte für die Fachkräfte (nicht nur die des ASD sondern wie im vorstehenden Absatz ausgeführt für alle Träger von Einrichtungen und Diensten, die Leistungen nach diesem Buch erbringen) festgelegt. Demnach haben alle Fachkräfte:
- den Schutzauftrag … wahrzunehmen,
- bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos eine … erfahrene Fachkraft hinzuziehen,
- bei den Personensorgeberechtigten oder den Erziehungsberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinzuwirken,
- das Jugendamt zu informieren, falls die angenommenen Hilfen nicht ausreichend erscheinen, um die Gefährdung abzuwenden.
SGB VIII § 8a – Schutzauftrag bei Kindswohlgefährdung
(1) Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte abzuschätzen. Dabei sind die Personensorgeberechtigten sowie das Kind oder der Jugendliche einzubeziehen, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird. Hält das Jugendamt zur Abwendung der Gefährdung die Gewährung von Hilfen für geeignet und notwendig, so hat es diese den Personensorgeberechtigten oder den Erziehungsberechtigten anzubieten.
(2) In Vereinbarungen mit den Trägern von Einrichtungen und Diensten, die Leistungen nach diesem Buch erbringen, ist sicherzustellen, dass deren Fachkräfte den Schutzauftrag nach Absatz 1 in entsprechender Weise wahrnehmen und bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos eine insoweit erfahrene Fachkraft hinzuziehen. Insbesondere ist die Verpflichtung aufzunehmen, dass die Fachkräfte bei den Personensorgeberechtigten oder den Erziehungsberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, wenn sie diese für erforderlich halten, und das Jugendamt informieren, falls die angenommenen Hilfen nicht ausreichend erscheinen, um die Gefährdung abzuwenden.
(3) Hält das Jugendamt das Tätigwerden des Familiengerichts für erforderlich, so hat es das Gericht anzurufen; dies gilt auch, wenn die Personensorgeberechtigten oder die Erziehungsberechtigten nicht bereit oder in der Lage sind, bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos mitzuwirken. Besteht eine dringende Gefahr und kann die Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet werden, so ist das Jugendamt verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen.
(4) Soweit zur Abwendung der Gefährdung das Tätigwerden anderer Leistungsträger, der Einrichtungen der Gesundheitshilfe oder der Polizei notwendig ist, hat das Jugendamt auf die Inanspruchnahme durch die Personensorgeberechtigten oder die Erziehungsberechtigten hinzuwirken. Ist ein sofortiges Tätigwerden erforderlich und wirken die Personensorgeberechtigten oder die Erziehungsberechtigten nicht mit, so schaltet das Jugendamt die anderen zur Abwendung der Gefährdung zuständigen Stellen selbst ein.
Die rechtlich fixierte Gefährdungsschwelle des § 1666 BGB ist dann erreicht, wenn:
- das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet ist,
- die Gefährdung verursacht wird durch missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung des Kindes, durch unverschuldetes Versagen der Eltern oder durch das Verhalten eines Dritten,
- die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, diese Gefahr abzuwehren.
Falls nicht schon eine Störung in der Entwicklung des Kindes eingetreten ist, ist eine Gefahr für die Kindesentwicklung dann anzunehmen, wenn die Gefahr gegenwärtig oder konkret ist. Konkret ist sie dann, wenn eine Schädigung nahe bevorsteht, d.h., wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden muss, dass diese eintritt, falls keine Maßnahmen ergriffen bzw. Hilfen eingeleitet werden. Den Eingriff in das Elternrecht nimmt aber nicht etwa das Jugendamt vor, vielmehr ist der Eingriff dem Familiengericht vorbehalten (§ 1666 BGB). Das Jugendamt ist gem. § 50 Abs. 3 SGB VIII lediglich dazu verpflichtet, dem Familiengericht die Gefahr anzuzeigen. Somit ist das Jugendamt gleichsam das Auge des staatlichen Wächters, während das Familiengericht dessen Schwert führt. Auch die Maßnahmen nach §§ 42 und 43 SGB VIII sind keine eigenmächtigen Eingriffe des Jugendamtes, da sie nur mit (ggf. nachträglicher) Genehmigung der Eltern getroffen werden können oder falls diese nicht vorliegt bzw. verwehrt wird, nach einer Entscheidung des Familiengerichts.
Für einzelne Mitarbeiter/innen des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe (sei es in der Verwaltung des Jugendamtes, sei es im Allgemeinen Sozialen Dienst, sei es in einer kommunalen Jugendhilfeeinrichtung) ergibt sich aus dem Wächteramt eine strafrechtliche Garantenstellung i.S.v. § 13 StGB. Dies bedeutet, dass sich Mitarbeiter/innen strafbar machen, wenn infolge eigenen Unterlassens ein Kind geschädigt wird oder sogar zu Tode kommt. In diesem Sinne begehen Mitarbeiter/innen dann eine fahrlässige Körperverletzung oder Tötung durch Unterlassen. Eine solche Strafbarkeit tritt aber nur ein, wenn:
- eine Rechtsgutverletzung bei dem Kind eingetreten ist,
- eine Pflicht zur Abwendung der Rechtsgutverletzung bestand,
- das Unterlassen des/r Mitarbeiters/in ursächlich für die Rechtsgutverletzung war,
- der/die Mitarbeiter/in zumindest fahrlässig[2] gehandelt hat.
Auch die Mitarbeiter/innen bei Trägern der freien Jugendhilfe haben eine Garantenstellung. Diese leitet sich jedoch nicht aus dem staatlichen Wächteramt ab, sondern aus der Tatsache der tatsächlichen Schutzübernahme, wenn sie ein Kind in Obhut (Fürsorge- und Aufsichtspflicht) haben.