Familiengruppenarbeit in der stationären Jugendhilfe – Ein Plädoyer für andere Zugänge in der Elternarbeit für die Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehungen und der Elternkompetenzen
Elternarbeit in der stationären Jugendhilfe basiert in der Regel auf Einzelberatungsangeboten. Ein Setting, das bei so genannten „Multiproblemfamilien“ nur wenig bedarfsgerecht und geeignet erscheint, Eltern in ihrer Erziehungskompetenz zu fördern und ihrer Erziehungsverantwortung zu stärken. Die hier vorgestellte Familiengruppenarbeit als Methode und Setting basiert auf den Konzepten der Multifamilientherapie (MFT) und der präventiven Pädagogikkonzepte des Paepaed Instituts „FuN“ (Familie und Nachbarschaft).
Ausgangssituation und Grundannahmen:
- Ein von seiner Familie getrennt lebendes Kind fühlt sich trotz der (erzwungenen) Trennung vor allem als Mitglied seiner Herkunftsfamilie. Es lebt in einem Loyalitätskonflikt zwischen zwei Systemen. Zum Einen in der Wohngruppe, in der es de facto lebt, in das sich einzuleben als gefährlich empfunden werden kann, weil es die Auflösung der Bindung zur Herkunftsfamilie manifestieren könnte und zum anderen im System des Herkunftssystems.
- Störungen der Emotionen und des Sozialverhaltens bei Kindern haben meistens ihre Ursache in intrafamiliären Konflikt- und Problemsituationen.
- Beziehungs- bzw. Bindungsmuster wirken über Generationen.
- Die Entwicklungsverläufe bei fremd platzierten Kindern verlaufen in der Regel positiv und stabiler, wenn es gelingt, eine vertrauensvolle Kooperation mit den Eltern aufzubauen und diese weitestgehend in die Erziehungsverantwortung einzubeziehen.
- Eltern, deren Kinder fremd untergebracht sind, erleben sich häufig hilflos und inkompetent, sie verlieren mit der Fremdunterbringung ihres Kindes in sehr kurzer Zeit (1/2 Jahr) den Alltagsbezug zu ihrem Kind, genannt Parentektomie – „verwaiste Eltern“.
- Die Familien sind meistens, oft auch schon über Generationen, multiplen Belastungs- und Benachteiligungsfaktoren ausgesetzt. Sie haben Zweifel an ihrer Selbstwirksamkeit und sehen für sich oft keine Veränderungsmöglichkeiten.
- Mehrfachbelastete Eltern sind in der Regel nicht in der Lage den Zusammenhang zwischen psychosozialen Belastungs-Faktoren (Familie/Schule usw.), eigenem Verhalten und Symptomen beim Kind zu erkennen, entsprechende Handlungsschritte alleine abzuleiten und umzusetzen.
- Eltern/Familien bleiben oft skeptisch gegenüber den Helfersystemen und können die regulären Hilfe- und Beratungsangebote häufig nicht annehmen.
- Die Übertragung von den Verhaltens- und Entwicklungsfortschritten des Kindes in die häusliche Umgebung gelingt häufig nicht (nachhaltig), wenn die Eltern-Kind-Interaktion nicht ausreichend bearbeitet werden konnte.
- Eltern fühlen sich häufig hilf- und machtlos (Versager) ihrem Kind gegenüber, während in der Wohngruppe scheinbar alles klappt.
- Eltern wünschen und benötigen eine praxisnahe und handlungsorientierte Anleitung/Begleitung in der problematischen Eltern-Kind-Interaktion
Grenzen und Nachteile der klassischen Hilfen:
- Mit der Fremdunterbringung konzentrieren sich die Hilfen zur Erziehung im Wesentlichen auf die Förderung des untergebrachten Kindes. Weitere bedarfsgerechte und geeignete Hilfen, welche die Eltern parallel zur Unterbringung befähigen (Erziehungskompetenzen), bzw. welche auf die Verbesserung der Beziehungsqualität zu ihren Kindern abzielen, werden bisher kaum angeboten und finanziert.
- Die Tatsache, dass oftmals noch andere Geschwisterkinder zu Hause leben und die intrafamiliären Probleme durch eine Herausnahme des „Problemkindes“ in keiner Weise gelöst sind, findet kaum Berücksichtigung, zumal davon auszugehen ist, dass sich diese häusliche Problematik in kurzer Zeit auf andere Weise Ausdruck verschafft.
- Kommt es dennoch vor, dass weitere Hilfen in der Familie installiert sind, ist die notwendige enge Vernetzung dieser Hilfen in der Regel nicht gegeben. In manchen Familien werden so über die Jahre unzählige Hilfen und Helfersysteme eingesetzt, die kaum in einer gemeinsamen Hilfeplanung (Kita, Therapeut, Familienhilfe, Schule, Einzelfallhelfer, Tagesgruppe, Heim, Klinik usw.) unter der Beteiligung der Eltern überprüft und abgestimmt wurden, wodurch eine bedarfsgerechte und ressourcenorientierte enge Verzahnung von gemeindenaher psychosozialer Versorgung, ambulanter und stationärer Hilfen nicht erfolgt. In diesen Fällen kann der Eindruck entstehen, dass die Hilfen die Familien zusätzlich hilfloser machen und die Erziehungsverantwortung zunehmend an Experten delegiert oder von diesen übernommen wurde.
- Eine gezielte Elternförderung im Sinne von Befähigung und Förderung der Erziehungsverantwortung, welche auf den Bedarf und die Zugangsmöglichkeiten der Familie abgestimmt ist, ist kaum vorhanden, oder ist während der Fremdunterbringung nicht vorgesehen.
Nimmt man den Wortlaut „Hilfen zur Erziehung“ als Auftrag ernst, ist ein Umdenken in der Hilfestruktur unumgänglich. Wie auch im 13. Kinder- und Jugendbericht[1] gefordert, bedarf es Förderprogrammen, die sich stärker an den Bedürfnissen und Handlungsmöglichkeiten von Heranwachsenden und deren Familien ausrichten und einen Lebenswelt- und Kontextbezug herstellen. Auch im Hinblick auf die zu Recht geforderte Wirkungsorientierung und den Rückführungsauftrag in den Hilfen zur Erziehung, ist eine stärkere Fokussierung auf kompetenzstärkende Hilfen auch besonders für Eltern von fremd untergebrachten Kindern unerlässlich.
Folgt man dieser Erkenntnis, bedarf es bei der Entwicklung geeigneter Hilfe- und Fördermaßnahmen eines grundlegenden Umdenkens in der Struktur der Hilfen und auch im Rollenverständnis der Helfer.
So lange die traditionelle Berater- und Erzieherrolle eher geprägt ist von Expertentum („ich sage dir wie es geht, ich bin der bessere Erzieher für dein Kind“) bzw. Betreuer sich (verständlicherweise) eher in der Rolle der „Ersatzeltern“ (bessere Eltern) sehen, fördert diese Haltung „die Konkurrenz um das Kind“ und damit in der Folge auch die Hilflosigkeit der Eltern. Diese Haltung fördert in gewisser Weise die Auf- bzw. Abgabe der elterlichen Erziehungsverantwortung[2]. Folgt man jedoch dem Grundsatz, dass die Verantwortung stets bei den Eltern bleibt, auch wenn die Helfer es besser wüssten, erfordert dies von uns einen entscheidenden Haltungs- und Rollenwechsel: D. h. vom Expertenberater/-erzieher zum Unterstützer der tatsächlichen Eltern. Dies ist auch schon deshalb erforderlich, da Eltern häufig – verstärkt durch die heutige allgemeine Konsumhaltung – von der Einrichtung, dem Helfer eine solche Service-Leistung erwarten oder sich wünschen. Den Eltern die Verantwortung abzunehmen bedeutet aber, mit ihnen potenziell eine Konkurrenz einzugehen, sie als Eltern zu entwerten, elterliche Resignation zu verstärken und damit möglicherweise tradierte und generationsübergreifende Beziehungs- und Erziehungsdefizite aufrecht zu erhalten.
Ein solcher Paradigmenwechsel, von einer kindzentrierten zu einer familienzentrierten Betreuung, ist aber nicht nur für uns Helfer eine Herausforderung, sondern auch deshalb schwierig, weil für Eltern die (zeitweilige) Unterbringung in einer Wohngruppe zunächst eine Entlastung und sehr eng mit dem Wunsch auf eine „Behandlung“ ihres Kindes verknüpft ist oder ihnen wenigstens eine „Super-Nanny“ zeigen soll, wie es besser geht.
Betrachtet man dann noch die Aspekte des wirkungsorientierten Lernens, d. h. wie werden Eltern tatsächlich befähigt und können diese das dann auch im Alltag umsetzen, dann muss sich unsere Arbeit stärker an Konzepten orientieren, die auf dem Erleben und Erfahren am Handlungs- und Erfolgsmodell beruhen. Erkenntnisse und Ratschläge führen in der Regel nicht zwangsläufig dazu, dass Menschen ihr Verhalten entsprechend verändern (können). Hierzu bedarf es der Hilfestellung in der konkreten Situation, des Experimentierens und des Wahrnehmens, des Anerkennens von Fortschritten, Ressourcen und Erfolgen.
Wollen wir hilfreiche Konzepte entwickeln, die auf die Stärkung der Erziehungsverantwortung und –kompetenzen der Eltern ausgerichtet sind und dadurch die Eltern-Kind-Beziehungen nachhaltig verbessern, bietet die Arbeit mit Familiengruppen hierfür ein sehr gutes Setting und einen bedarfsgerechten Lernkontext. In einer Gruppe lassen sich problematische Verhaltensweisen und Symptomatiken einer Familie differenzierter bearbeiten. Die Familiengruppenarbeit nutzt die Erkenntnis, dass Mitglieder aus anderen Familien neue und andere Perspektiven entwickeln können, vor allem, wenn sie mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Da Menschen in Konfliktsituationen eher dazu neigen, eine eingeschränkte Sichtweise zu haben aber gleichzeitig über eine sehr hohe Sensitivität für ähnliche Probleme bei anderen verfügen, kann diese Fähigkeit für den Reflexionsprozess und die Entwicklung von neuen Perspektiven genutzt werden.
Effekte und Vorteile der Familiengruppenarbeit[3]:
- Förderung der Solidarität: „Wir sitzen alle im gleichen Boot.“
- Stigmatisierung und schambedingte Isolation überwinden: „Wir sind ja nicht die Einzigen.“
- Anregungen zu neuen Sichtweisen und Perspektiven: „Ich sehe sehr genau bei anderen Dinge, für die ich bei mir selbst blind bin.“
- Voneinander lernen: „Wie die anderen das machen, find ich gut.“
- Sich in anderen „gespiegelt“ sehen: „Wir sind wie ihr.“
- Positive Nutzung des Gruppendrucks: „Ich kann hier nicht kneifen.“
- Gegenseitige Unterstützung und Rückmeldung: „Toll, wie ihr das macht – und wie seht ihr uns?!“
- Kompetenzen entdecken/erweitern: „Ich kann doch mehr als ich dachte, ich bin doch gar nicht so hilflos.“
- Mit „Pflegefamilien“ und Surrogaten experimentieren: „Ich kann mit anderen Kindern ganz gut – und wie deine Eltern mit meinem Kind umgehen, ist klasse.“
- Erleben intensivieren: „Hier brodelt es, es tut sich was“
- Hoffnung wecken: „Licht am Ende des Tunnels, auch für uns.“
- Neue Verhaltens-/Erziehungsmuster im „Schonraum“ üben: „Ich kann hier was ausprobieren, auch wenn es mal schief geht.“
- Selbstreflexion stärken: „Ich sehe mich hier genauer und anders.“
- Offenheit durch „öffentlichen“ Austausch schaffen: „Niemand verteufelt mich, ich kann mich öffnen.“
Damit vereint die Familiengruppenarbeit die Vorteile einer Einzelfamilientherapie/-beratung mit den Besonderheiten einer Gruppentherapie/-beratung. Die Einsatzmöglichkeiten dieses Ansatzes sind vielfältig und können als ambulante mehrstündige Programmeinheit, tageweise oder in Wochen(end)blöcken sowie (teil)stationär durchgeführt werden. Dieses Setting basiert auf Inhalten der systemischen Interaktionsarbeit und kombiniert diese mit anderen traditionellen Therapieformen und deren Methoden. Multifamilienarbeit ist eine Herausforderung, nicht nur für die Familien, sondern auch für die Mitarbeiter und erfordert sehr hohes Engagement. Die Vorteile und die positiven Effekte sind jedoch so überzeugend und der Wirkungsgrad herkömmlicher Beratungssettings oder anderer Förderprogramme so unbefriedigend, dass es an der Zeit ist, umzudenken und dieses Konzept auch in den Bereich der stationären Jugendhilfe zu übertragen.
Im Mai dieses Jahres haben wir beim VJB Zehlendorf daher mit einem Familienprogramm nach dem FuN[4]-Konzept gestartet, an dem 7 Familien freiwillig aus unterschiedlichen stationären Hilfen begeistert teilnehmen.
Familienprogramm:
- 8 Termine mit 8 Familien à 3 Zeitstunden im 14tägigen Rhythmus
- verschiedene kurze angeleitete Kooperations- und Kommunikationsspielsituationen (an separaten Familientischen), welche von den Teamern direkt in der Aktionsphase gecoacht werden
- gemeinsames Essen, welches jeweils eine Familie für die Gruppe zubereitet
- Elternzeit – Kinderzeit: Eltern-Austausch, während die Kinder separat betreut werden.
- Gruppenspiele (alle) und Rituale
Konzept-Ziele:
- Eltern werden angeleitet mit ihren Kindern aktiv und kindgerecht Zeit zu gestalten (Entfremdung durch fehlendes Alltagserleben bei Fremdunterbringung)
- Elternkompetenz fördern: Eltern werden als Erziehungspersonen wertschätzend anerkannt, gefördert und gestützt. Durch die gemeinsamen Aktivitäten erleben die Familien ein positives Familienklima und eine Stärkung ihres Familienzusammenhalts
- Eltern und Kinder stärken: Die Eltern-Kind-Interaktion wird durch Spiele und Übungen angeregt – konstruktive Kommunikation und Konfliktbearbeitung werden eingeübt; Ressourcen zur Erziehung werden aktiviert
- Soziale Beziehungen festigen: Der Kontakt und das Vertrauen zu den Mitarbeitern wächst, Eltern können sich untereinander (Peergroup) kennen lernen und austauschen – neue Kontakte aufbauen und Isolation überwinden
- Kooperation fördern u. Erziehungspartnerschaft entwickeln: Innerfamiliäre Kooperation, Lernfeld in einem positiven Grundklima, in dem unterschiedliche Bedürfnisse ausgehandelt werden können. Förderung der Zusammenarbeit zwischen Einrichtung und Eltern, Abbau von Konkurrenzgefühlen, Entwicklung einer produktiven Zusammenarbeit
Kompetenzbereiche:
- Familienzusammenhalt fördern: Eltern werden gestärkt Erziehungsverant-wortung zu übernehmen – klare Grenzen und Rollen; Eltern und Kinder erleben gemeinsam Spaß, Eltern nehmen sich Zeit für ihre Kinder, sie machen neue Erfahrungen miteinander
- Selbstachtung und Achtung Anderer: Eigene Stärken und Schwierigkeiten kennen, sich selbst wertschätzen, Unterschiedlichkeiten wahrnehmen, die Anderen achten und anerkennen – Besondere Bedeutung im Hinblick auf geringes Selbstwertgefühl mit häufigen Gefühlen wie Wertlosigkeit, Schuld und Scham
- Selbst- und Fremdwahrnehmung: Eigene Gefühle, Bedürfnisse und Interessen wahrnehmen, eigenes Verhalten einordnen und verstehen lernen, die Gedanken und Standpunkte der Anderen verstehen, Gefühle der Anderen wahrnehmen und respektieren
- Kommunikation und Kontakt: Anderen zuhören und Verständnisbereitschaft mitbringen, eigene Interessen und Wünsche formulieren, auf Andere zugehen und Interesse an Kontakt zeigen, einvernehmliche Lösungen finden
- Kooperation und Vernetzung: Gemeinsame Ziele formulieren und verfolgen, Formen der Selbstorganisation erproben.
Die hohe Bereitschaft der Eltern an diesem Programm mitzumachen und sich auf die Gruppensituation einzulassen, war überraschend für uns. Nach fünf Terminen sind wir sicher, dass das Programm hervorragend geeignet ist, Eltern in ihrer Erziehungsfähigkeit zu unterstützen, ihnen handlungsorientierte Interaktionshilfen und –kompetenzen zu vermitteln, sie in ihrer Elternrolle zu stärken und ihnen neue nachhaltige Erfahrungen und Perspektiven auch im Kontakt miteinander zu ermöglichen. Inzwischen wurde das Konzept in vielen Gremien vorgestellt und stößt auf großes Interesse auch bei anderen Trägern und Jugendämtern, so dass eine Kooperations- und Arbeitsgruppe demnächst ins Leben gerufen wird. Wir sind derzeit bemüht eine Finanzierung für dieses sehr personalintensive Programm zu erreichen und arbeiten an modifizierten Konzepten für weitere Einsatzmöglichkeiten, wie z.B. Clearing, Rückführung, ambulante Hilfen und hoffen damit, einen wichtigen Beitrag für die dringend notwendige Erweiterung bzw. Neugestaltung der „Elternarbeit“ in den Hilfen zur Erziehung (stationärer Kontext und präventive Angebote) für Familien leisten zu können. Ein bedarfsorientiertes Hilfeprogramm entsteht, das insbesondere auf Eltern zugeschnitten ist, die in der Regel mit bildungsorientierten Programmen und klassischen Beratungssettings nicht (ausreichend) erreicht werden können. Auch wenn der Wirkungsnachweis noch nicht wissenschaftlich erbracht ist, gibt es bereits sehr viele erfolgreiche Projekte und Erfahrungen, die für den weiteren Ausbau der Familiengruppenarbeit als reguläres und finanziertes Angebot in der Jugendhilfe sprechen. Die Aussicht, durch dieses Angebot hilflosen Eltern die Möglichkeit zu verschaffen hilfreiche Eltern zu werden, dürfte auch in einer angespannten Haushaltslage ein wesentlicher Aspekt sein, da hier eine reelle Chance besteht Jugendhilfekarrieren zu beenden, zu verkürzen oder zumindest stabile und gelingende Kooperationen (Eltern-HzE) zu erzielen.