Hohn, F., v.d.Gönna, J.: Familiy Group Conference – Internationale Verbreitung

Rückblick:  Family Group Conferences in Neuseeland

Family Group Conferencing (FGC) ist aus der Kultur der Maori entstanden. Die Maori sind die Ureinwohner Neuseelands. Bei ihnen wird jedoch der Begriff Familie nicht so verwendet, wie wir es tun. Während bei uns Familie nur diejenigen Personen sind, welche mit uns blutsverwandt sind, stellen bei ihnen alle Personen, die etwas mit dem Kind zu tun haben, die Familie dar. Dies sind zum Beispiel Freunde der Familie, Lehrer, oder auch der behandelnde Arzt. Seit 1989 ist das Konzept von Family Group Conferencing im „Children, Young Persons and their Families Act“ verankert. In diesem Gesetz ist der genaue Ablauf der Konferenz geschildert, sowie dessen Anwendung. Die Paragraphen §20 bis §38 beschäftigen sich ausführlich mit diesem Thema. Heute ist es so, dass in Neuseeland dieses Hilfeplankonzept vor allen anderen Konzepten seine Anwendung findet. Wird also bei einem Kind Kindeswohlgefährdung vermutet, dann wird als erste Maßnahme FGC angewendet, bevor andere Methoden oder Interventionen in Betracht gezogen werden. (Straub 2005, Ripp).

Folgendes Zitat fasst die Verbreitung und den Stellenwert von Family Group Confernecing in der Sozialen Arbeit treffend zusammen:

„Family Group Conference ist ein Verfahren, das in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen hat. Es wurde in Neuseeland zur Hilfeplanung und    Entscheidungsfindung in Situationen der Kindeswohlgefährdung entwickelt und ist mittlerweile auch in anderen Ländern und sozialarbeiterischen Handlungsfeldern angekommen. Der Schwerpunkt des Verfahrens liegt bei der Erarbeitung von Lösungen durch die erweiterte Familie […] in einer Versammlung. […]“ (Haselbacher 2010).

 

Family Group Conferences in Israel

In Israel wird das alternative Hilfeplankonzept erst seit 1998 / 1999 angewendet. Die Anwendung dort findet weniger in Fällen der Kindeswohlgefährdung, sondern hauptsächlich in der Arbeit mit jugendlichen Kriminellen, statt. Das Verfahren wird in insgesamt 14 Polizeiwachen in Israel angewendet. Eine Besonderheit in Israel ist, dass immer ein Polizist mit in der Konferenz sitzt. Der beabsichtigte Effekt dabei ist die Vermittlung von Respekt vor Polizei und Staat, sowie ein größeres Verantwortungsbewusstsein. FGC wird in Israel als ein Verfahren zum Täter-Opfer-Ausgleich verwendet. Die Anwesenheit des Opfers ist jedoch nicht zwingend erforderlich. Das Konzept wird bei 12 bis 17,5 Jahre alten Jungen angewendet. Das häufigste Verbrechen sind zwar „kleinere Kavaliersdelikte“, wie z.B. Diebstahl, aber auch bei schwerwiegenderen Taten findet das Verfahren Anwendung.  2003 wurde in Israel eine interessante Studie durchgeführt. Bei der genaueren Betrachtung von 160 Familienräten wurde ersichtlich, dass davon 75 Familienräte erfolgreich absolviert wurden. 15 Familienräte waren zu diesem Zeitpunkt noch in der Vorbereitung. 70 Jugendliche haben die Chance nicht wahrgenommen und der Familienrat kam nicht zur Anwendung, oder scheiterte. Der Familienrat wird in den meisten Fällen bevorzugt, weil damit Haftstrafen verhindert werden können.  Jugendliche, die dieses Angebot nicht wahrnehmen, erwartet meist eine strengere Strafe. Bei einem Familienrat, ist der Jugendliche allerdings zu Engagement verpflichtet und muss Willen zur Wiedergutmachung beweisen. Dazu sind nicht alle der Jugendlichen bereit, bzw. fähig. (Gal-on-Lechno).

 

Family Group Conferences in Europa

Familienräte wurden ab dem Jahre 1990 über die englischsprachigen Länder nach Europa gebracht. Am weitesten verbreitet sind sie in Großbritannien (England, Wales, Schottland, Nord-Irland) und den sogenannten „Benelux“-Staaten (insbesondere in der Niederlande). Ebenfalls mehrjährige Erfahrung bei der Durchführung von Familienräten haben die skandinavischen Länder Norwegen, Dänemark, Finnland und Schweden. Sowohl in Großbritannien, als auch in Skandinavien hat bereits eine politisch-juristische Auseinandersetzung mit dem Verfahren Familienrat stattgefunden und es wird gezielt als  Maßnahme zur Gewährleistung der Subsidiarität eingesetzt. Einige Länder in Osteuropa (Polen, Slowakei, Russland) befinden sich in Bezug auf die Anwendung und Verbreitung von Familienräten noch, ähnlich wie Deutschland, in der Anfangsphase. Die Anwendungsbereiche unterscheiden sich in den anwendenden Ländern teilweise stark. So finden Familienräte am häufigsten Anwendung in Bezug auf Kindeswohlgefährdung, oder in der Jugendgerichtshilfe. Aber auch in der Migrationsarbeit und in Zusammenhang mit dem Thema Obdachlosigkeit werden sie in einigen Ländern durchgeführt. (Samuray, Hampe-Grosser 2007).

 

Europäische Netzwerktreffen

Die europäischen Netzwerktreffen finden seit dem Jahr 2003 regelmäßig jährlich statt. Sie bieten eine Austauschplattform zum Thema Family Group Conference für alle Länder Europas, sowie Russland. Neben Ländern, welche das Verfahren bereits anwenden und Erfahrung mit diesem haben, sind auch Verwandtschaftsrat-unerfahrene, aber interessierte Länder willkommen. An dem Treffen nehmen durchschnittlich 10 Länder teil. Um die Veranstaltung familiär und überschaubar zu halten, gibt es eine Teilnehmerbegrenzung auf fünf Personen pro teilnehmenden Land. Die Teilnehmer sind  Personen, welche aufgrund ihrer Arbeit einen Bezug zu, oder Erfahrung  mit Verwandtschaftsräten haben. Es handelt sich also meist um Mitarbeiter aus Dachverbänden / freien Trägern, welche Verwandtschaftsräte durchführen, oder Interessierte von politischer Ebene. Das Gastgeberland wechselt jährlich. Bisher waren Gastgeber: England (2003), Belgien (2004), Wales (2005), Dänemark (2006), Deutschland (2007), Schottland (2008), Polen (2009), England (2010). Das Netzwerktreffen im Jahre 2011 wird in der Niederlande stattfinden. Die Netzwerktreffen in dem jeweiligen Gastgeberland werden dort von einem Dachverband, oder einem freien Träger, welcher Familienräte koordiniert, organisiert. Bei der Zusammenkunft tragen die Teilnehmer vergangene Entwicklungen, die aktuelle Situation, sowie angestrebte Ziele in Bezug auf Verwandtschaftsräte aus dem jeweiligen Land vor. Neben fachlichem Input steht vor allem der Praxisbezug in Form von Erfahrungsaustausch im Vordergrund. Dabei werden auch, häufig durch Anwenden der Methode „Open Space“, gemeinsam Vereinbarungen, längerfristige Ziele, oder Richtlinien erarbeitet. Die Transparenz und Vernetzung auf Europa-Ebene soll so verbessert werden. (Children 1st 2008).

 

Family Group Conferences in Großbritannien

Im Jahre 1989 wurde in Großbritannien mit dem „UK Children Act“ eine Gesetzesgrundlage geschaffen, welche einen rechtlichen Rahmen bietet um die Partizipation der Familien an ihrem Hilfebedarf zu fördern. Staatliches Eingreifen soll minimiert werden, die Betroffenen und Angehörigen stärker in den Hilfeprozess mit einbezogen werden. Das Zusammenarbeiten der Professionellen mit den Familien soll partnerschaftlich stattfinden. In Anbetracht dieser Prinzipien, kann der UK Children Act durchaus mit dem ebenfalls im Jahr 1989 in Neuseeland, dem Ursprungsland der Family Group Conferences, erschienen „Children, Young Persons and Their Families Act verglichen werden. Nachdem eine Delegation von einigen Family Group Conferencing – Erfahrenen aus Neuseeland über das Verfahren informiert und dieses umworben hatte, wurden zwischen 1990 und 1992 verschiedene Pilotprojekte gestartet. (Nixon 1999).

In den einzelnen Ländern Großbritanniens hat sich die Umsetzung des Verfahrens unterschiedlich entwickelt. Neben dem Hauptfeld der Jugendhilfe und des Jugendschutzes haben sich je nach Land noch weitere spezifische Anwendungsgebiete herauskristallisiert. In jedem Land agiert ein Dachverband für FGC. Diese stellen insbesondere für Familien wichtige Lobby-Gruppen dar. Sie bieten eine Plattform für die freien Träger, welche FGC anwenden, oder anwenden möchten. Die Dachverbände beschäftigen sich mit der Entwicklung einheitlicher Standards in Bezug auf Koordinatorenschulungen und Durchführung der Familienräte. Es wird deutlich, dass die Implementierung von Familienräten in Großbritannien nicht von administrativer Ebene her, sondern vielmehr in Form einer „Bottom up“-Struktur, geschieht. (Straub 2010).

Dachverband in England ist die Family Rights Group. Vor Ort werden Familienräte von rund 80 öffentlichen und freien Trägern angeboten. Dies sind beinahe 70% der Träger. Eine Gefahr für den Erfolg des Verfahrens stellen jedoch Einrichtungen dar, welche nicht Mitglied in einem FGC-Dachverband sind und Familienräte ohne Einhalten bestimmter Richtlinien und Prinzipien durchführen. Die jährliche Zahl von 400-800 durchgeführten Familienräten könnte in den nächsten Jahren allerdings stark stagnieren, da die staatlichen Zuschüsse von rund 13 Mio. € auf ca. 1,3 Mio. € drastisch gekürzt wurden. Angewandt wird FGC bei Fällen der Kindeswohlgefährdung und insbesondere als „Best Practice“, also Handlungsempfehlung vor Gerichtsverhandlungen in der Jugendgerichtshilfe. Dies hat allerdings auch kontraproduktive Auswirkungen: FGC wird häufig als lästige und schnell abzuhandelnde Pflicht angesehen. Auch in der Stadtteilarbeit (bei „sozial unverträglichen“ Verhalten wie Diskriminierung, etc., Obdachlosigkeit, Nachbarschaftskonflikten,…) und an Schulen werden vermehrt Familienräte angewandt. (Straub 2010, Rauch 2010).

Auch in Wales übernimmt die Family Rights Group die Funktion als Dachverband. Die Familienräte sind weit verbreitet und werden in fast allen Grafschaften angewendet. Durchführende Organisationen sind großenteils freie Träger. Eine Besonderheit stellen die zweisprachigen Familienräte auf Englisch und Walisisch dar.  Ebenfalls auffällig in Wales ist die intensive Nachbereitung der Familienräte durch sogenannte Young Persons Groups, eine organisatorisch und finanziell aufwendige, aber laut Erfahrungsberichten lohnende, Gruppenarbeit mit Kindern und Jugendlichen, welche in der Vergangenheit an einem Familienrat teilgenommen haben. Um die auch in Wales akute Finanzmittelkürzung zu entschärfen wird verstärkt versucht, FGC als Bürgerrechtsbewegung, z.B. durch Bewerben im Internet, publik zu machen. In diesem Zusammenhang werden beispielsweise auch ehemalige Familienrat-Teilnehmer als Koordinatoren eingesetzt. (Straub 2010, Rauch 2010).

Dachverband in Schottland ist Children 1st; jedoch agieren die einzelnen Regionen noch relativ unabhängig voneinander. Angewandt werden Familienräte immerhin von der Hälfte aller Regionen. Da auch in Schottland die gestrichenen Finanzmittel ein grundlegendes Problem darstellen, wird auch hier vermehrt auf ehrenamtliche Koordinatoren oder ehemalige FGC-Teilnehmer gesetzt. Ein großer Nachteil der finanziellen Notlage ist die stark reduzierte Anwendung von FGC als präventive Maßnahme. Der Fokus scheint nun eher auf der Anwendung als Krisenintervention zu liegen. (Straub 2010, Rauch 2010).

In Nordirland wird FGC von fünf großen Gesundheits- und Sozialhilfestiftungen durchgeführt. Erwähnenswert ist die Gründung eines nationalen Forums mit der Aufgabe, gleiche Standards für die Familienräte zu entwickeln. In Nordirland werden Familienräte in den erweiterten Ansatz der „Restorative Justice“ angewendet. Neben dem Täter-Opfer-Ausgleich ist auch der Einsatz von Familienräten im Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten von Bedeutung. (Straub 2010).

 

Family Group Conferences in Skandinavien

In ganz Skandinavien wurde das Verfahren zwischen 1994 und 2003 schrittweise eingeführt. Dazu wurden von staatlicher Seite mehrere Projekte finanziert und anschließend evaluiert. Das Vorgehen kann als „Top Down“ bezeichnet werden, von Regierungsebene her angeordnet und auf administrativer Ebene verankert. Die Anwendung von Familienräten findet in den skandinavischen Ländern sowohl in den obligatorischen Bereichen Kinder- und Jugendhilfe und Jugendgerichtshilfe, als auch je nach Land in Bereichen wie Obdachlosenhilfe, etc. statt. Bei den Nordischen Konferenzen, welche seit dem Jahr 2000 alle zwei Jahre stattfinden und so eine Zusammenarbeit von Norwegen, Dänemark, Finnland und Schweden ermöglichen, treffen sich Erfahrene und Zuständige aus den skandinavischen Ländern und tagen über die Standards und Erfahrungen bezüglich der Verwandtschaftsräte. Ergebnisse werden regelmäßig und ausführlich evaluiert und publiziert. Ein wichtiges Organ dafür ist der „Nordic Council“ (übersetzbar als Nordischer Rat), welcher große und umfassende Umfragen und Forschungsarbeiten rund um das Thema Familienrat finanziert. (Hanssen 2003).

In Norwegen werden Familienräte seit 1994 angewandt. Mittlerweile sind sie flächendeckend in allen fünf Regionen verbreitet. Daher soll an dieser Stelle auf Norwegen am ausführlichsten eingegangen werden. Dänemark und Finnland sind jedoch mit der norwegischen Situation vergleichbar. Das Vorgehen in Norwegen ist staatlich einheitlich organisiert. Anwendungsbereich ist die Kinder- und Jugendhilfe. Auch in Schulen sind Familienräte üblich. 1998 wurden von der Kommission zwei Projekte für diesen Anwendungsbereich finanziert. In 18 Kommunen wurden insgesamt 65 Familienräte organisiert.  Ein nationaler Implementierungsplan von 2003, ausgearbeitet von der Kommission für Kinder, Jugendliche und Familienangelegenheiten, will die Umsetzung von Familienräten in allen Kommunen bis zum Jahr 2012 umsetzen. Darin geht es um die Ausbildung von Sozialarbeitern und Koordinatoren, die Durchführung und Organisation von Familienräten, sowie Forschung und Evaluation. (Hanssen 2003).

In Dänemark wird die Verbreitung und Bekanntmachung von Familienräten intensiv unter Miteinbeziehen von Medien wie dem Internet vorangetrieben. (Rauch 2010).

In Schweden ist das Verfahren räumlich kaum verbreitet. Von 390 Landkreisen wird es derzeit nur in 10 angewendet. (Rauch 2010).

 

Family Group Conferences in Osteuropa

In den osteuropäischen Ländern Polen, Slowakei und Russland befindet sich FGC, ähnlich wie in Deutschland noch in der Anfangsphase und wird zurzeit mit einer überschaubaren Anzahl an Projekten durchgeführt. Auf administrativer Ebene ist Widerstand vorhanden, Probleme in Familien werden als Versagen des Staates angesehen, sodass Hilfe nur in Notsituation als Krisenintervention in die Wege geleitet wird. Die Implementierung erfolgt daher in einer „Bottom up“-Bewegung ausgehend von Stiftungen und freien Trägern. Diese werden teils von Dachverbänden und Organisationen aus dem Westen unterstützt und finanziert. Insbesondere die Eigen Kracht Centrale aus den Niederlanden machte den Verwandtschaftsrat durch Informationsveranstaltungen und Fortbildungen in Osteuropa publik. Durch die Ausbildung von Koordinatoren konnten so erste Schritte in Richtung Implementierung gemacht werden. (Straub 2010).

In Polen wird die Implementierung von FGC besonders durch die 2001 gegründete Stiftung „Hoffnung für Familien“ vorangetrieben. Diese wird bis zum Jahr 2013 von dem European Social Fond finanziert, wodurch die Zukunft von FGC bis dahin gesichert zu sein scheint. Bis 2014 sollen Familienräte auf Verwaltungsebene als verbindliche Maßnahme verankert werden. „Hoffnung für Familien“ führt die Familienräte nicht mehr selbst durch, da dies auf wenig Resonanz stieß. Die Zuständigkeiten dafür wurden direkt an die Basis, zu den Kommunen verlagert.  Die Stiftung agiert nun vielmehr als Dachverband und bildet die Bürgerkoordinatoren, bisher ca. 100, auf kommunaler Ebene aus. Bis 2010 haben an die 400 Familienräte, unterstützt durch die Stiftung, stattgefunden. (Straub 2010, Rauch 2010).

Auch in der Slowakei wurden durch Unterstützung der Eigen Kracht Zentrale schon einige Familienräte durchgeführt. (Straub 2010).

In Russland werden Familienräte ebenfalls nur von westlich unterstützten und zentral gelegenen freien Trägern angewandt. Dafür besteht eine breite Palette an Anwendungsbereichen: von SOS-Kinderdörfern bis hin zur Integration von Menschen mit Behinderung und Suchtprävention werden Familienräte eingesetzt. (Straub 2010).

In Serbien und der Ukraine gibt es bereits wenige geschulte Koordinatoren, momentan steht allerdings noch Überzeugungsarbeit, auch in Bezug auf die Finanzierung, im Vordergrund. (Straub 2010).

 

Quellen

 

franziska.hohn@fh-potsdam.de
jasmin.von.der.goenna@fh-potsdam.de