Herr, U. und Rosenbrock, R.: “Gesunde Qualität” – Gedanken zur Qualität der Arbeit und der Gesundheit der Arbeitenden in öffentlichen und freien Trägern der Jugendhilfe in Berlin

Ulrike Herr im Gespräch mit Hans Rosenbrock

Hans Rosenbrock, Du wirst in diesem Jahr in den Ruhestand gehen – zumindest ab Sommer nicht mehr am SFBB beschäftigt sein. Ein wesentlicher Fokus Deiner Arbeit liegt seit langer Zeit auf der beratenden Begleitung und Unterstützung der KollegInnen in den Jugendämtern.

? Was sind denn im Moment aus deiner Sicht die aktuellen Themen?

Zum einen sind die Anforderungen/Herausforderungen an die Fachkräfte der Jugendhilfe – wir sprechen jetzt schwerpunktmäßig über die Kolleginnen und Kollegen in den bezirklichen Jugendämtern Berlins – größer geworden, auf der einen Seite bezogen auf den fachlichen Anspruch, auf Grund von Qualitäts- und auch Wissensgründen – man weiß inzwischen mehr über den Bedarf, wo und wie Hilfe eingesetzt werden muss – auf der anderen Seite haben sich die Probleme der Kinder und Jugendlichen und ihrer Familien bzw. alleinerziehenden Elternteile, mit denen die Fachkräfte arbeiten, verändert und dies aus unterschiedlichen Gründen – das belegt der Fachdiskurs seit geraumer Zeit. Am Beispiel Kinderschutz wird deutlich, wie ernst die Jugendämter ihren Schutzauftrag nehmen und wie komplex und belastend die Arbeit an Kinderschutzfällen für die einzelnen Mitarbeiter/-innen trotz guter Qualifikation und vieler guter Hilfsmittel ist.

Nicht selten findet ein unguter Muster-, Haltungs- und Wertetransport zwischen Generationen statt. Wir haben veränderte Familienformen und -funktionen, teilweise sehr junge und völlig überforderte Alleinerziehende. Beispielsweise wird eine Bindungsstörung “durchgereicht” und die Folgen können oft nur durch eine unterstützende Intervention beeinflusst werden, ob das jetzt eine therapeutische Hilfe ist oder eine andere Form der Unterstützung.

Zum anderen gewinnt der Erhalt der Gesundheit der Fachkräfte eine immer höhere Bedeutung. Dafür ist es neben angemessenen Arbeitsbedingungen auch nötig, sich besser zu qualifizieren:

Wenn z.B. eine Person, mit wirklich hohe persönliche Anstrengung durch eine Beratungsweiterbildung gegangen ist und sie dann sagen kann, ihr fällt die Arbeit jetzt leichter und sie hat den Eindruck, die Arbeit ist auch effektiver geworden, dann ist das auch ein Stück Selfcare.

 

? Was ist mit Angeboten zum Auftanken für die Profis?

Ich halte es für wichtig, zu lernen, ressourcenschonend zu arbeiten und sich auch wieder “aufzufüllen” – für wichtiger denn je.

Mit steigenden Anforderungen, im Sinne von qualitativen Ansprüchen, muss dieser Anteil auch wachsen und wenn wir nicht drauf reagieren, werden noch mehr Leute ausbrennen; wir haben ja jetzt schon gut mit Burnout zu tun; das geht schließlich wieder zu Lasten der Qualität.

 

? Merkst Du eine Veränderung im Alter der Leute?

Wir haben bei den Teilnehmenden einen hohen Altersdurchschnitt – und nicht so viele junge Fachkräfte. Ich nehme wahr, dass die jungen in der Gefahr sind, sich mit ihrem Engagement schnell zu verschleißen, bzw. verschlissen zu werden, inzwischen hört man auch, dass beispielsweise die Attraktivität einer Beschäftigung als z.B. Sozialarbeiter im Jugendamt aufgrund der Rahmenbedingungen gelitten hat.

Und dann habe ich den Eindruck, dass es auch Ältere gibt, für die das Burnout-Syndrom gar nicht so im Vordergrund ist, die haben sich irgendwie arrangiert, sich eingerichtet, ihren Weg gefunden, mit dem Arbeitsalltag zurechtzukommen und aus ihrer Sicht das tun, was erforderlich ist.

 

? Hast Du eine Idee, wie das „Der alte, schwierige Mitarbeiter – Phänomen“ funktioniert? Es gibt doch hier viele Potentiale, die Stück für Stück in die Defensive geraten sind.

Es gibt Angebote, die sich mit dem Thema „Älter werden im Beruf“ auseinandersetzen. Mein Eindruck ist es, das in den sozialpädagogischen Arbeitsfeldern Kritisieren, Jammern und Klagen gut geübt ist, Wertschätzung zu geben, scheint dagegen ungleich schwerer. Da gibt es etwas zu lernen! 

Ich bin überzeugt davon, dass ein Teil des Rückzugs der älteren Mitarbeitenden an mangelnder Wertschätzung liegt, vielleicht auch, weil sie ein gefordertes “Tempo” nicht mehr unbeschadet mitmachen können.

 

? Es steht doch an, bei der großen Gruppe, zwischen 50 und Rente, die das betrifft, zu sehen, wie Aktivierung gelingen kann.

Ja, das steht Institutions- und Einrichtungskulturbezogen an. Es kann nicht sein, dass dies von der Gruppe ausgeht, die davon betroffen ist. Betroffen von mangelnder Wertschätzung sind sie alle. Das ist eine Frage der ganzen Arbeitskultur. Ich denke, es ist zuerst ein Leitungsthema. Leitung muss hier Stellung beziehen, Unterschiedlichkeiten fördern und würdigen, ebenso Belastbarkeiten, Tempo, verschiedene Qualitäten usw.

Andernorts ist man schon schlauer: Es gibt Wissensbörsen, an denen Senioren ihr Wissen und Ihre Erfahrung zur Verfügung stellen und im Profit-Bereich die Anwerbung Senior-Consultants – gut bezahlte und sehr wertgeschätzte Mitarbeiter/-innen.

 

? Möglicherweise wird in Organisationen erst aus der Erkenntnis heraus, dass wir keine neuen Leute nach bekommen, dazu führen, uns mit den Leuten, die wir haben, in die Zukunft zu entwickeln und uns von alten Bildern über Berufsbiografien und Sichten auf die einzelnen Personen verabschieden?

Der Nachwuchsmangel ist ja längst da! 

Leitung braucht aus meiner Sicht an dieser Stelle weniger Beratungskompetenz als kommunikative Kompetenz und Kontaktfähigkeit, um die Mitarbeiter/-innen wahrzunehmen und als Personen mit Ressourcen, mit Wissen, mit Erfahrung, die aber ihre Besonderheiten haben, zu erkennen.

Sie braucht natürlich auch – wie in der Beratungshaltung – Respekt, Interesse und Zutrauen, muss Wertschätzung und Kritik geben können.

 

? Und mehr als im Klientelkontext – deutliche Orientierung!

Mitarbeitende haben nicht so viele Freiheiten, wie sie die Klient/-innen haben, die haben mehr.

 

? Du wirst Dich im Laufe des Jahres 2012 vom SFBB verabschieden, wirst verabschiedet werden. Was wünschst Du Dir, dass „Dein“ Haus im Blick behält, nicht aus den Augen verliert?

1. Das Ohr am Bedarf des Feldes und der darin arbeitenden Personen. Es ist unsere Aufgabe, berufsbegleitende Fortbildungsveranstaltungen anzubieten. Dafür müssen wir mit einem Fuß im Feld sein, d.h. sowohl bei den freien Trägern der Jugendhilfe als auch in engem Kontakt mit den unterschiedlichen Ebenen der bezirklichen Jugendämter. Die wesentlichen Dinge klären sich nach meiner Erfahrung über direkte Kontakte mit Personen. Mit dem anderen Fuß tanzen wir auf vielen Hochzeiten: Wissenschaft, Gremien, Träger, Hochschulen, Universitäten usw.

2. Ich würde mir wünschen, wenn es um die Person meiner Nachfolge geht, dass diese sich beraterisch zur Verfügung stellt, auch “vor Ort” wenn es Sinn macht.

Ich mache mir gerne ein Bild davon, wie in den Jugendämtern gearbeitet wird, wie die Bedingungen sind und wie die Atmosphäre ist. Diese Eindrücke haben Einfluss auf meine unterschiedlichen beratenden Tätigkeiten dort.

Es gibt wirklich viele aus meiner Sicht wichtige und interessante Anliegen und Fragestellungen zwischen Jugendämtern und SFBB.

3. Im Hinblick speziell auf die Erziehung- und Familienberatungsstellen z.B. fände ich es gut, wenn meine Nachfolge eine therapeutische Zusatzausbildung hätte. Ich gehe davon aus, dass dann ein Standing auf Augenhöhe mit Menschen in den Beratungsstellen, die oft über therapeutische Ausbildungen verfügen, möglich ist.

Wir hatten z.B. zu Beginn der Notfallpsychologie-Fortbildungen sehr viele Teilnehmende mit therapeutischen Zusatzausbildungen. Notfallpsychologie hat einen anderen Anspruch als Therapie. Das müssen die Teilnehmenden wissen, weil sie mit notfallpsychologischen Aufgaben in ihrer Arbeit konfrontiert sind. Es gibt eine Notrufkette z.B. bei Großschadensereignissen (Amoklauf, Panik), und ihre Aufgabe ist direkt hinter den Rettungskräften angelegt. Sie haben viel mit kleinen und auch großen und schrecklichen Familiendramen zu tun, durch die Traumatisierungen, sowohl bei den Betroffenen als auch bei Zeigen des Geschehens und Helfern ausgelöst werden.

Für eine Nachfolge dort sattelfest zu sein, auch mit sich selbst, das halte ich für notwendig – egal aus welcher “Schulrichtung”, ob systemisch, analytisch, gestalt oder anders.

 

? Die Pädagogik braucht dies, um wie du sagst sattelfest zu sein. Ansonsten kreieren wir hier die nächste Machtdifferenz.

Wichtig ist doch, dass hier weiter Sicherheit in beraterischen Kompetenzen im sozialpädagogischen Kontext entsteht und nicht eine Therapeutisierung gefördert wird, die dann auch noch durch die Sozialpädagogik über mangelndes Selbstbewusstsein durch eine Erhöhung der Therapeuten befördert wird. Auch hier geht es ja um Machtverhältnisse, Definitionsmacht und Augenhöhe.

Wir haben überschneidende Bereiche. Zum Beispiel Traumapädagogik – betrifft ja beide Bereiche, Pädagogik und Therapie. Die Klarheit der Kompetenzgrenzen und eine gewisse Kenntnis des anderen Feldes und dessen Sprache – das gilt für beide Bereiche – halte ich für eine funktionierende Kooperation für notwendig.

4. Wenn es nach mir ginge, würde ich den Bereich der Psychohygiene, der Ressourcenschonung noch ausbauen.

 

? Gesundheitsmanagement sozusagen?

Ja, die Entwicklung eines Gesundheitsbereiches, der wirklich die Versorgung unserer pädagogischen Fachkräfte meint und nicht irgendwelche Instrumente verteilt, die durchgereicht werden, mit denen sich die Personen aber nicht verbinden können, sondern Angebote, welche die Fachkräfte für den wirklich sehr anspruchsvollen und anstrengenden Beruf stärken. Natürlich kann man solche Angebote auch in der Volkshochschule besuchen – ich würde jedoch gerne für unsere Fachkräfte in unserem Institut ein solches Angebot bereithalten und ausbauen.

 

? Ja, weil es etwas mit Berufsstandespflege zu tun hat. Mit Würdigung und Anerkennung. Volkshochschule wäre Privatisierung. Sehr viele dieser Belastungsthemen werden ja privatisiert.

Es ist auch ein Stück Fürsorge des Arbeitgebers. Da trifft das wieder zu, was ich vorhin zu den Alten gesagt habe. Eine bestimmte Art und Weise der Würdigung und Pflege brauchen alle.

 

? Wenn Du entscheiden könntest, was das SFBB weniger, gar nicht mehr- oder anders machen sollte- was wäre das?

Ich finde, als Bildungsstätte haben wir die Verpflichtung – auch bei adhoq-Anfragen und “Notfällen” zu sagen, wir schauen uns das an, spielen das mal durch, sehen, ob das und wie es konzeptionell umzusetzen ist. Wir spielen die Konsequenzen durch und entwickeln dann etwas Solides. Das ist auch unser Auftrag.

Wir sind aber auch in einer Doppelrolle: Auf der einen Seite sind wir Teil der Senatsverwaltung, auf der anderen Seite sind wir Bildungsstätte und dem Feld verpflichtet. Das geht nicht immer ohne Konflikte, intern, extern und intrapersonell.

 

? Da steckt für die Zukunft drin – noch mehr auf Qualität zu achten, mutig zu sein, zu sagen wir haben hier einen bestimmten Auftrag – wir sind bereit Widersprüchlichkeiten auszuhalten – aber wir stehen zu unserem Auftrag. Es sollte doch gerade mit dem Konzept der SRO eine Haltungsveränderung bewirkt werden. Das Herangehen hat dies doch konterkariert.

Ja, das ist ein Beispiel, wo ein guter Ansatz, eine gute Idee, über die Art und Weise, wie sie implementiert wurde – und implementieren heißt ja, einen Fremdkörper in etwas Organisches einzusetzen und zu hoffen, dass er angenommen wird – sich weit von den angekündigten Möglichkeiten und angestrebten Effekten entfernt.

Der Begriff Schulung spricht für sich. “Implementierung” und “Schulung” stehen für die dahinter stehende Haltung.

 

? Eigentlich müsste das doch Integration heißen – oder letzten Endes Inklusion – oder – da sind wir bei der grundsätzlichen Bedeutung von Haltung angelangt. Die Haltung ist ja auch ein Inklusionsergebnis.

Ein organischer Prozess der Integration, der von den Beteiligten mit entwickelt und vor allem mitgetragen wird, ein Prozess auf hohem kommunikativem Kompetenzniveau – bei gleichzeitiger Bereitstellung der strukturellen Ressourcen für eine nachhaltige Umsetzung – das wäre es gewesen.

 

!!! Herzlichen Dank für das Gespräch und eine gute, letzte Zeit am SFBB.!!!