Schruth, Prof.Dr. P.: Was ist rechtlich von der den ehemaligen Heimkindern abverlangten Verzichtsvereinbarung des Fonds Heimerziehung West zu halten?

Anhand der Empfehlungen des Abschlussberichtes des Runden Tisches Heimerziehung und des Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 7.7.2011 zur Schaffung des „Fonds Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ (Fonds Heimerziehung West) werden zum 1.1.2012 in allen westlichen Bundesländern eingerichtete Anlauf- und Beratungsstellen ihre Arbeit zur Umsetzung des Fonds aufnehmen. Allgemein gesagt sind ihre Aufgaben, ehemalige Heimkinder in ihren Hilfebedarfen zu beraten, Rentenersatzleistungen zu ermitteln und für die entsprechende Mittelbewilligung durch das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) und die Mittelverwendung der Leistungsberechtigten zu sorgen. Besonders kontrovers wird die den antragstellenden ehemaligen Heimkindern abverlangte „Gegenleistung“ einer Verzichtserklärung öffentlich diskutiert, mit der diese im Falle der Inanspruchnahme von Leistungen des Fonds schriftlich zu erklären haben, dass sie wegen der aus der eigenen (damaligen) Heimunterbringung erlittenen zivilrechtlichen Schädigungen keinerlei „weitere Forderungen“ gegenüber den Errichtern des Fonds Heimerziehung West stellen werden.

Unabhängig von der rechtlichen Beurteilung einer solchen Verzichtserklärung ist für den Kontext eines solchen Verlangens gegenüber ehemaligen Heimkindern zu sagen, dass ich nur ehemalige Heimkinder kennen gelernt habe, die ihre Kindheit und Jugend als einen „einzigen Verzicht“, als einen gewaltsam erzwungenen Verlust an Lebenschancen erlebt und in aller Regel bis heute als sich daraus ableitenden Verzicht an Lebensqualität erlebt haben und dies für ihr heutiges Leben fortgeltend in umfassenden Hilfe- und Ausgleichsbedarfen beschreiben. Ausgerechnet von diesen vielen traumatisierten ehemaligen Heimkindern zu verlangen, dass sie nur eine Hilfeleistung von den institutionellen Vertretern der so genannten Verantwortungskette für das Leid und Unrecht der damaligen Heimerziehung gewährt erhalten, wenn sie ein für allemal erneut „Verzicht“ zu leisten haben, ist – milde gesagt – unsensibel, überflüssig und für viele ehemalige Heimkinder aller Wahrscheinlichkeit nach – bezogen auf die Inanspruchnahme von Fondsleistungen – leistungsverhindernd. Dies wurde auch als erhebliche Kritik an der vorgesehenen Verzichtserklärung von den VertreterInnen der ehemaligen Heimkinder und mir in der AG Leistungsrichtlinien vorgetragen und führte lediglich zu einer von den Befürwortern einer solchen Erklärung in der Beschreibung des „Verzichtscharakters“ abgeschwächten Vereinbarungstextes, der von den Anlauf- und Beratungsstellen den ehemaligen Heimkindern zur Unterschrift vorgelegt werden soll. Da aber auch die Fachkräfte der Anlauf- und Beratungsstellen auf einer ersten Fortbildungsveranstaltung Mitte Dezember 2011 in Köln deutliche Kritik an dem Vereinbarungstext zum Forderungsverzicht geübt haben, möchte ich meine rechtlichen Bedenken nochmals erläutern.

 

1. Was ist mit Verzichtserklärung hier rechtlich gemeint?

Grundlage für die Beurteilung der Verzichtsvereinbarung ist § 9 Abs.3 der Satzung des Fonds:

„Leistungen aus dem Fonds werden nur Betroffenen gewährt, die erklären, dass sie mit Erhalt einer Leistung aus dem Fonds auf Geltendmachung jeglicher Forderungen, einschließlich der Ansprüche wegen Rentenminderung aufgrund der Heimunterbringung, gegen die öffentliche Hand und die Kirchen sowie ihre Ordensgemeinschaften und Wohlfahrtsverbände, einschließlich deren Mitglieder und Einrichtungen, unwiderruflich verzichten. Dieser Verzicht umfasst auch den Ersatz von Kosten für die Rechtsverfolgung.“ Im Muster einer Verzichtsvereinbarung, die den Fachkräften der Anlauf- und Beratungsstellen vorliegt, heißt es dementsprechend, da „freiwillige Leistungen“ an ehemalige Heimkinder gewährt werden, haben ehemalige Heimkinder, denen Leistungen aus dem Fonds gewährt werden, zu erklären, „dass sie unwiderruflich keinerlei weitere Forderungen aufgrund der Heimunterbringung (…) stellen werden“. Gegenstand des Verzichts ist im wesentlichen ein Verzicht ehemaliger Heimkinder auf Geltendmachung weiterer Forderungen aufgrund der Heimunterbringung (als Gläubiger) gegenüber den Errichtern des Fonds (Bund, alte Bundesländer und Kirchen) als mögliche Schuldner solcher Forderungen.

Zivilrechtlich ist ein ausgeübter Verzicht das Aufgeben eines Rechts, der in der Praxis regelmäßig auf Initiative des Gläubigers einseitig erklärt wird, für dessen Wirksamkeit aber nach § 397 BGB ein Vertrag zwischen Gläubiger und Schuldner erforderlich ist. Der Forderungsverzicht ist die Möglichkeit einer Vertragspartei, den Schuldner aus seiner Leistungspflicht oder einem Teil davon zu entlassen. Einen einseitigen Verzicht auf schuldrechtliche Forderungen sieht das Gesetz nicht vor, denn der Gesetzgeber wollte mit der Vertragsnotwendigkeit die Achtung vor der Persönlichkeit des Schuldners gewährleistet sehen, auf dessen Willen Rücksicht genommen werden soll – kann ihm/ihr doch ein Erlass unangenehm sein. Im Übrigen fügt sich diese Regelung in den Grundsatz, dass niemand sich etwas schenken lassen muss, und der Erlass einer Schuld kommt einer Schenkung gleich. Das Vermögen des Schuldners (hier der Errichter des Fonds) wird beide Male vermehrt.

Hier geht es aber nicht um lediglich „eine“ Forderung eines ehemaligen Heimkindes als Gläubiger gegen die Errichter des Fonds, auf die verzichtet werden soll, sondern um das Erlöschen eines gesamten Schuldverhältnisses, also die Aufhebung zukünftiger, jetzt noch unbekannter Forderungen des Gläubigers aus dem ehemaligen (Schuld-)Verhältnis der Unterbringung des Gläubiger in Erziehungsheimen des Schuldners. In diesen Fällen können die Parteien – als Folge des Grundsatzes der Vertragsfreiheit (§ 311 BGB) – das gesamte Schuldverhältnis durch vertragliche Abrede aufheben, obwohl das Gesetz dies nicht ausdrücklich ausspricht. Ein Aufhebungsvertrag ist nach §305 BGB formlos möglich, er unterscheidet sich vom einzelnen Forderungsverzicht (als Schuldenerlass), dass er das gesamte Schuldverhältnis als Organismus betrifft.

Dabei haben sich die Parteien des Fonds der Möglichkeit der Vertragsgestaltung bedient, für die Zukunft ein Rückwirkungsverbot zu vereinbaren, nämlich auszuschließen, dass keine „weiteren“, jetzt noch unbekannte Forderungen aufgrund der Heimunterbringung der 40ger bis 70ger Jahre nachträglich entstehen und geltend gemacht werden können. Da der Fonds den Antragsberechtigten keine Rechtsansprüche auf Leistungen aus dem Fonds einräumt, weil freiwillige Leistungen der Errichter des Fonds, dürfte der Aufhebungsvertrag im Einzelfall den Sinn haben, dass mit der Inanspruchnahme von Leistungen des Fonds dem umfassenden Schuldverhältnis von Anfang an (ex tunc) die Grundlage entzogen sein soll. Da der Aufhebungsvertrag hier nicht auf die Zukunft beschränkt ist, ist die rechtliche Folge, dass das ganze Schuldverhältnis mit rückwirkender Kraft erlischt, sollte der Aufhebungsvertrag zwischen den Errichtern des Fonds Heimerziehung West und dem antragstellenden ehemaligen Heimkind wirksam geschlossen worden sein.

 

2. Gibt es Bedenken zur Wirksamkeit eines solchen verzichtenden Aufhebungsvertrages?

Nun könnte man an dieser Stelle im Sinne der Errichter des Fonds und ihrem Anliegen der Befriedungsfunktion sagen, die Vertragsparteien haben sich – entsprechend der allgemeinen, verfassungsrechtlich verbürgten Vertragsfreiheit – auf etwas geeinigt und mit ihrer Unterschrift unter den Vertragstext erklärt, dass der Vertragsinhalt ernsthaft und rechtsverbindlich gemeint ist und als Vertragsabschluss Gültigkeit zu beanspruchen hat.

Allerdings steht der in Frage stehende Aufhebungsvertrag im Kontext einer besonderen Geschichte der Vertragsparteien miteinander, einer besonderen Aufarbeitung am RTH und mit einem durch Abstimmung der Parteien fixierten Abschlussbericht des RTH sowie mit durch Beschlüsse des Bundestages und der Länder- und Kirchenparlamenten autorisierten Rehabilitierungszielen gegenüber ehemaligen Heimkindern. Auf der einen Seite hat die Aufarbeitung am RTH eine verursachende Verantwortungskette von Bund, Länder und Kirchen für ein umfassendes Unrecht, massive Grundrechtsverletzungen (und damit auch Menschenrechtsverletzungen) gegenüber 100tausenden ehemaligen Heimkindern der Heimerziehungspraxis der Jahre von 1949 bis 1975 festgestellt, auf der anderen Seite kämpft seit fast acht Jahren die davon betroffene, in den meisten Fällen von dieser Erfahrung traumatisierte Opfergruppe der ehemaligen Heimkinder um gesellschaftlich-öffentliche Anerkennung des ihnen zugefügten Unrechts, um Akteneinsicht, um Entschädigung, um angemessene Geldleistungen für Leistungen der Beratung und Therapie, der Vermeidung von re-traumatisierenden Erlebnissen, um Erleichterung im Wohnalltag, um ein Mehr an gesellschaftlicher Teilhabe. Ein in diesen antagonistischen Kontext von Verursachung, Aufarbeitung und Rehabilitierung gestellter Aufhebungsvertrag als Bedingung für die Leistungsgewährung des Fonds Heimerziehung West unterliegt nicht einfach der allgemeinen Vertragsfreiheit, er ist besonderen Anforderungen der Wirksamkeitsprüfung unterworfen. Diese Anforderungen betreffen das rechtsstaatliche Kopplungsverbot, die Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB sowie den vertraglichen Anpassungsgrund wegen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB.

 

2.1. Aufhebungsvertrag und Kopplungsverbot

Die Wirksamkeit des verzichtenden Aufhebungsvertrages des Fonds Heimerziehung West könnte wegen des Verstoßes gegen das Koppelungsverbot fraglich sein. Das Koppelungsverbot als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips soll die Bürger/innen davor schützen, Verpflichtungen einzugehen bzw. sich Rechtspositionen zu begeben, die auch unter Berücksichtigung des zugrundeliegenden do-ut-des-Verhältnisses nicht gerechtfertigt erscheinen. Insbesondere soll die öffentliche Hand, wenn die Bürger/innen einen Anspruch auf eine Leistung haben, diese Leistung grundsätzlich nicht von einer Gegenleistung abhängig machen können. Die Regelung des Fonds in § 9 Abs.3 der Satzung des Fonds geht von einer Koppelung der Gewährung der Fondsleistungen von der verzichtenden Aufhebungsvereinbarung im Einzelfall aus („Leistung nur gegen Unterschrift“). Die darin liegende Koppelung der Gewährung von Leistungen für ehemalige Heimkinder an den Abschluss des verzichtenden Aufhebungsvertrages war weder vom RTH noch vom Beschluss des Bundestages umfasst, widerspricht deren Absichten, mit den Leistungen des Fonds zu helfen, „die eingetretenen und heute noch vorhandenen Folgen in ihren Auswirkungen auf den Alltag der Ehemaligen zu mindern oder gar auszugleichen.“ Die Leistungen des Fonds sollten bedingungslos sein, lediglich gebunden an die allgemein vorformulierten Fondsinhalte des Rentenersatzes und der Hilfen für Folgeschäden, sollten niedrigschwellig festgestellt und ohne Anrechnung auf konkurrierende Sozialleistungen ausgezahlt werden. Damit nicht vereinbar ist die Koppelung an einen umfassenden verzichtenden Aufhebungsvertrag, mit dem die ehemaligen Heimkinder eine ungewisse Zusicherung erteilen, zukünftig keinerlei „weitere Forderungen“ an die Errichter des Fonds zu stellen. Die Begründung der Errichter des Fonds für einen solchen Aufhebungsvertrag, er sei wegen der Befriedungsfunktion unbedingt erforderlich, ist schon wegen der eher aussichtlosen Rechtslage vorgeschoben, denn zunächst sind so gut wie alle möglichen Schadensersatzforderungen ehemaliger Heimkinder ohnehin verjährt. Was schafft dann eigentlich Befriedung im Sinne des RTH und der Beschlüsse der beteiligten Parlamente, der Errichter des Fonds? Aus Sicht der ehemaligen Heimkinder hätte zur Fondslösung eine Befriedung in Form einer monatlichen Rente von nur 300 € gehört. Dies wurde ihnen nicht zugestanden und darüber ist eher große Enttäuschung und Unfrieden als Befriedung ausgelöst worden. Die auch vom RTH gewollte Befriedungsfunktion sollte mit einer großzügigen Einlassung auf den Hilfebedarf der ehemaligen Heimkinder, also im Umsetzungsprozess der Individualisierung durch die Anlauf- und Beratungsstellen geschehen. Wenn es dabei am Ende eines solchen Beratungs- und Unterstützungsprozesses zu einer freiwilligen Erklärung im Sinne eines befriedenden Rechtsmittelverzichtes im Einzelfall gekommen wäre, hätte dies wenigstens die vom RTH und in der Folge vom Bundestag gewollte persönliche Rehabilitierung entfaltet. Es liegt daher nicht fern, in dem bedingungslos verlangten verzichtenden Aufhebungsvertrag eine Verletzung des Kopplungsverbotes zu sehen.

 

2.2. Aufhebungsvertrag und Sittenwidrigkeit

Die Unwirksamkeit könnte aus Gründen des Verstoßes gegen die guten Sitten gegeben sein, wenn der verzichtende Aufhebungsvertrag des Fonds Heimerziehung West nichtig ist, weil darin ein Rechtsgeschäft gesehen werden kann, das „unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen“ entstanden ist und zu einem Vermögensvorteil geführt hat (§ 138 Abs.2 BGB). Berührt ist hier die Unfreiwilligkeit der Entscheidung eines ehemaligen Heimkindes für eine Leistung aus dem Fonds Heimerziehung West und der damit verbundenen notwendigen Zustimmung zu dem Aufhebungsvertrag. Die ehemaligen Heimkinder als Gläubiger möglicher zukünftiger Forderungen wegen der damaligen Heimunterbringung bedürfen wegen ihrer besonderen Folgeschäden aus den Erfahrungen der Heimunterbringung eines besonderen Schutzes vor Aufdrängung von nicht absehbaren Nachteilen. Die Errichter des Fonds als mögliche Schuldner nutzen die von vielen ehemaligen Heimkindern als Zwangslage beschriebene Situation aus, alles das an Leistungen zu nehmen, was ihnen an staatlichen und kirchlichen Wiedergutmachungen angeboten wird. Lässt man die möglichen negativen Wirkungen des verzichtenden Aufhebungsvertrages auf die Beanspruchungen des Fonds durch die ehemaligen Heimkinder außen vor, dann erklären ehemalige Heimkinder regelmäßig, dass sie nicht bereit sind zu einer Zustimmung zu dem Aufhebungsvertrag, aber sich wegen deren Bedingung für die Leistungsgewährung zur Zustimmung gezwungen fühlen. Weil regelmäßig ehemalige Heimkinder als Opfer traumatisierender Heimerfahrungen nicht schlicht als rationaler Akt einer abwägenden Überlegung auf Leistungen des Fonds verzichten können, ist in den meisten Fällen kein rechtsgeschäftlicher Bindungswille im Sinne des   § 311 BGB zur Einigung auf den Aufhebungsvertrag gegeben, sondern ein Eingriff in die Selbstbestimmung der ehemaligen Heimkinder. Damit ist aber nicht auszuschließen, dass der verzichtende Aufhebungsvertrag in diesem Kontext in vielen Fällen wegen des Verstoßes gegen die guten Sitten (§ 138 BGB) unwirksam sein könnte.

 

2.3. Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB)

Verträge – wie hier der Aufhebungsvertrag – sind grundsätzlich einzuhalten („pacta sunt servanda“). Verträge können allerdings in ihren Grundlagen dadurch erheblich beeinträchtigt sein, dass sich entweder die bei Vertragsschluss vorliegenden Umstände im Nachhinein erheblich ändern oder gar nicht so vorgelegen haben, wie es die Parteien angenommen haben. In diesen Fällen stellt sich die Frage, ob die Parteien nach wie vor an ihre Vereinbarung mit unverändertem Inhalt gebunden sind.

Nach § 313 BGB kann eine Anpassung  des Vertrages verlangt werden, sofern sich die Umstände, die zur Grundlage des Vertrages gemacht wurden, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert haben und die Parteien den Vertrag nicht oder mit einem veränderten Inhalt geschlossen hätten, wenn sie die Veränderungen hätten voraussehen können. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn eine so genannte Zweckvereitelung des Vertrages gegeben ist.

In unserem Fall könnte eine Zweckvereitelung des Vertrages dann eintreten,

•     wenn es einem ehemaligen Heimkind gelänge, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine positive Entscheidung dergestalt zu erzielen, dass z.B. die Errichter des Fonds wegen ihrer Bestätigung der Verantwortung grundrechtswidriger Verletzungen von ehemaligen Heimkindern angehalten werden, eine weitergehende Entschädigungslösung zu Gunsten der betroffenen ehemaligen Heimkinder zu realisieren;

•          wenn – neben dem in diesem Jahr startenden Fonds Heimerziehung Ost – mit der Öffnung der Anwendbarkeit des Strafrechtlichen Rehabilitationsgesetzes für die Entschädigung erlittenen Unrechts ehemaliger Heimkinder in der DDR ungleiche staatliche Ausgleichsleistungen in Ost und West für vergleichbare Tatbestände des zugefügten erzieherischen Unrechts praktiziert werden.

Diese angenommenen Gründe einer so genannten Zweckvereitelung als Grundlage für den Wegfall der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB waren und sind gegenwärtig zum Beginn der Fondsumsetzung West noch nicht absehbar, aber nicht undenkbar. Maßstab der Anwendung des Wegfalls der Geschäftsgrundlage ist ein grobes Missverhältnis zwischen den beidseitigen Belastungen, das aus Gründen der Gerechtigkeit einer Anpassung des Vertragsinhalts unentbehrlich macht. Dies hat zur Folge, dass der Vertragsinhalt an die veränderten Umstände angepasst wird. Ist das nicht möglich oder einer der Parteien nicht zumutbar, darf die benachteiligte Partei vom Vertrag zurücktreten, so dass die vertraglichen Verpflichtungen nach § 313 Abs.3 BGB gänzlich entfallen. Treten danach z.B. die oben genannten Gründe der Zweckvereitelung ein, so muss es den ehemaligen Heimkindern, die wegen der Leistungsgewährung des Fonds Heimerziehung West einen Aufhebungsvertrag unterschrieben haben, möglich sein, „weitere Forderungen“ gegen die Errichter des Fonds notfalls mit gerichtlicher Hilfe zu stellen und durchzusetzen.

 

3. Liegt in dem Aufhebungsvertrag der Errichter des Fonds mit den ehemaligen Heimkindern auch ein wirksamer Rechtmittelverzicht?

Sollten ehemalige Heimkinder wegen der unter 2. dargestellten Gründe „weitere Forderungen“ an die Errichter des Fonds (außer-)gerichtlich stellen wollen, fragt sich, ob der im Rahmen des Fonds Heimerziehung West abgeschlossene Aufhebungsvertrag dies prozessual unzulässig macht. Die Zulässigkeit des Rechtsmittelverzichts ist in den einzelnen Verfahrensordnungen unterschiedlich geregelt. Dabei ist der Rechtsmittelverzicht regelmäßig als zulässig zu betrachten, in den meisten Verfahrensarten auch schon vor Ergehen des Urteils. Ein trotz erklärten Rechtsmittelverzichts eingelegtes Rechtsmittel ist unzulässig und muss somit verworfen werden. Grundsätzlich ist aber die Gewährleistung des Rechtsschutzes ein Grundrecht Art. 19 Abs. 4 GG, das jedem/r Bürgerin und damit natürlich auch ehemaligen Heimkindern zusteht. Nun ist der Inhalt des Aufhebungsvertrages kein ausdrücklicher Rechtsmittelverzicht, weil nur von dem Verzicht die Rede ist, auf das Geltendmachen „weiterer Forderungen“ zu verzichten. Inzident gehört jedoch zum Geltendmachen von Forderungen auch deren (außer-)gerichtliche Durchsetzbarkeit nach den Regeln der Prozessordnungen. Fraglich ist, ob der rechtsmittelverzichtende Inhalt des Aufhebungsvertrages wirksam ist und zu Lasten ehemaliger Heimkinder und ihrem Rechtsschutzinteresse prozessual Wirkung entfaltet.

Wie das Bundesverfassungsgericht stets betont hat, verlangt der Rechtsschutz, den Art. 19 Abs. 4 GG dem Einzelnen im Hinblick auf die Wahrung oder die Durchsetzung seiner subjektiven öffentlichen Rechte gewährt, eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle. Die Gewährleistung schließt einen möglichst lückenlosen gerichtlichen Schutz gegen Verletzungen der Individualrechtssphäre durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt ein. Ein solcher Rechtsschutz ist von besonderer Bedeutung, wenn es um die Abwehr von Grundrechtsverletzungen oder um die Durchsetzung verfassungsrechtlicher Gewährleistungen zugunsten des Einzelnen gegenüber der öffentlichen Gewalt geht. Insbesondere ist mit der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs.4 GG der möglichst lückenlose gerichtliche Schutz gegen die Verletzung der Rechtssphäre des Einzelnen durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt gemeint. Insoweit liegt in einem Rechtsmittelverzicht nur dann ein Grundrechtsverzicht, als auf Rechtsschutz gegen Akte der vollziehenden Gewalt verzichtet wird. In diesem Sinne kann ein Akt der Exekutive, der in Rechte des Bürgers eingreift, richterlicher Nachprüfung nicht entzogen werden. Exekutiv gehandelt haben hier die Errichter des Fonds, die unter maßgeblicher Beteiligung der öffentlichen Hand (Bundesregierung, Ländervertreter) parlamentarische Beschlüsse des Bundes und der Länder mittels einer Verwaltungsvereinbarung und einer ausführenden Satzung vollzogen haben. Solche exekutive Akte der öffentlichen Hand (resp. Kirchen) müssen von den Gerichten daraufhin überprüft werden (können), ob sie materiell den durch das Grundgesetz abgesicherten Mindestanforderungen der Gerechtigkeit entsprechen und daher rechtsstaatskonform sind. Da keine gesetzliche Regelung zur Rehabilitierung bzw. Opferentschädigung ehemaliger Heimkinder beschlossen wurde, ist eine Inzidentkontrolle eines Gesetzes im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde nicht möglich.

Der zwar einseitig abverlangte, aber in der Form einer zweiseitigen Vereinbarung gekleidete rechtsmittelverzichtende Inhalt des Aufhebungsvertrages geht – zumindest aus Sicht der Errichter des Fonds – von einer einvernehmlichen Regelung beider Vertragsparteien aus, um im Sinne einer Befriedungsfunktion für die Zukunft Rechtssicherheit zu erlangen, nicht wegen neuer möglicher Forderungen seitens der ehemaligen Heimkinder in Anspruch genommen zu werden.

Ferner muss der Rechtsmittelverzicht – unabhängig davon, ob er sich als Grundrechtsverzicht oder Verzicht auf eine sonstige Rechtsposition darstellt – freiwillig erklärt werden. Erfolgt der Verzicht nicht freiwillig, liegt kein Verzicht, sondern ein Entzug vor. Folge eines unfreiwilligen Rechtsmittelverzichts wäre die Unwirksamkeit, jedenfalls die Anfechtbarkeit der Verzichtserklärung entsprechend den Grundsätzen in § 119 BGB. An die Freiwilligkeit sind hohe Anforderungen zu stellen. Ob ein Verzicht freiwillig zustande gekommen ist, kann mitunter schwer festzustellen sein. So liegt es hier aber nicht, denn die Zustimmung zum Verzicht ist bedingungslose Voraussetzung für die Leistungsgewährung aus dem Fonds Heimerziehung West.  Die meisten ehemaligen Heimkinder sehen sich in der Bedrängnis, den rechtsmittelverzichtenden Aufhebungsvertrag zu unterschreiben, um überhaupt eine materielle/immaterielle Vergünstigung als Rehabilitierung ihres ihnen zu Unrecht zugefügten Leids aus der Zeit der Heimunterbringung erhalten zu können. Sollten sich die hier geäußerten Tatsachenbehauptungen als zutreffend erweisen, wäre die Freiwilligkeit des in der Absprache liegenden Rechtsmittelverzichts, d.h. die Selbstbestimmtheit des Grundrechtsgebrauchs, zumindest durchgreifend in Frage gestellt.

 

Zusammenfassend:

1. Vorweg muss grundsätzlich festgestellt werden, dass es – milde gesagt – unsensibel, überflüssig und für viele ehemalige Heimkinder aller Wahrscheinlichkeit nach leistungsverhindernd ist, von ihnen eine Verzichtserklärung abzuverlangen, nachdem sie ihre Kindheit und Jugend als einen „einzigen Verzicht“, als einen oftmals gewaltsam erzwungenen Verlust an Lebenschancen in der langjährigen Heimunterbringung erlebt und in aller Regel bis heute als sich daraus ableitenden Verzicht an Lebensqualität erlebt haben.

2. Da es bei der Verzichtserklärung des Fonds Heimerziehung West nicht um den Verzicht auf „eine“ Forderung geht, liegt zivilrechtlich ein Aufhebungsvertrag vor, der nach §305 BGB formlos möglich ist. Ein solcher Vertragstypus unterscheidet sich vom einzelnen Forderungsverzicht (als Schuldenerlass), dass er das gesamte Schuldverhältnis als Organismus betrifft. Dabei haben sich die Parteien des Fonds der Möglichkeit der Vertragsgestaltung bedient, für die Zukunft quasi ein Rückwirkungsverbot zu vereinbaren, nämlich auszuschließen, dass keine „weiteren“, jetzt noch unbekannte Forderungen aufgrund der Heimunterbringung der 40ger bis 70ger Jahre nachträglich entstehen und geltend gemacht werden können.

3. Ein in den antagonistischen Kontext von Verursachung, Aufarbeitung und Rehabilitierung der ehemaligen Heimerziehung des Nachkriegsdeutschland den ehemaligen Heimkindern gestellter und abverlangter Aufhebungsvertrag als Bedingung für die Leistungsgewährung des Fonds Heimerziehung West unterliegt nicht einfach der allgemeinen Vertragsfreiheit, er ist besonderen Anforderungen der Wirksamkeitsprüfung unterworfen. Diese Anforderungen betreffen das rechtsstaatliche Kopplungsverbot, die Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB sowie den vertraglichen Anpassungsgrund wegen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB.

4. Der Rechtsschutz, den Art. 19 Abs. 4 GG dem Einzelnen im Hinblick auf die Wahrung oder die Durchsetzung seiner subjektiven öffentlichen Rechte gewährt, verlangt eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle. Die Gewährleistung schließt einen möglichst lückenlosen gerichtlichen Schutz gegen Verletzungen der Individualrechtssphäre durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt ein. In diesem Sinne kann ein Akt der Exekutive, der in Rechte des Bürgers eingreift, richterlicher Nachprüfung nicht entzogen werden. Exekutiv gehandelt haben hier die Errichter des Fonds, die unter maßgeblicher Beteiligung der öffentlichen Hand (Bundesregierung, Ländervertreter) parlamentarische Beschlüsse des Bundes und der Länder mittels einer Verwaltungsvereinbarung und einer ausführenden Satzung vollzogen haben. Solche exekutive Akte der öffentlichen Hand (resp. Kirchen) müssen von den Gerichten daraufhin überprüft werden (können), ob sie materiell den durch das Grundgesetz abgesicherten Mindestanforderungen der Gerechtigkeit entsprechen und daher rechtsstaatskonform sind. Wegen der Verletzung der zwingend erforderlichen Freiwilligkeit der Vertragszustimmung und des rechtsstaatlichen Kopplungsverbotes hebt der Aufhebungsvertrag des Fonds Heimerziehung West nicht die Rechtsweggarantie des Art.19 Abs.4 GG auf, insbesondere haben ehemalige Heimkinder aus den genannten rechtlichen Bedenken die uneingeschränkte Möglichkeit, weitere Forderungen (außer-)gerichtlich geltend zu machen, ohne dass entsprechende Klagen an der Zulässigkeit scheitern.