In den ersten 5 Jahren meiner Tätigkeit als Erzieherin arbeitete ich im Vorschulbereich der Heimerziehung im Stadtbezirk Hohenschönhausen.
1990 wechselte ich in den Jugendbereich. Hier begegnete mir die Arbeit mit der Gruppe, die WG-Betreuung, das Betreute Einzelwohnen bis hin zur Begleitung der Jugendlichen in den ersten eigenen Wohnraum. In dieser Zeit war ich Teamleiterin und Praxisanleiterin für Praktikanten der Fachschule.
Seit 2006 arbeite ich in einem Familienintegrativen Projekt. Diese Projektform empfinde ich persönlich als KÖNIGSDISZIPLIN in der Heimerziehung. Zu dieser Arbeit werde ich später noch etwas sagen.
Die Zeit im Vorschulbereich empfinde ich auch nach Jahren als sehr lehrreich und gab mir, Dank meiner damaligen Kolleginnen, welche zum größten Teil aus dem KITA-Bereich kamen, einen anderen und manchmal auch neuen Einblick in die kindliche Entwicklung. Während meine Arbeit zum Anfang oft von naivem Mitleid für die armen kleinen Würmchen geprägt war, merkte ich schnell, dass nur Mitleid zu haben nicht ausreicht, sondern Taten und ein Einfühlungsvermögen in die kindliche Seele folgen mussten.
Der Einblick in die Beschäftigungsinhalte des Bildungs- und Erziehungsprogrammes im Kindergarten der DDR war EIN Teil meiner Erfahrung, aber die alltäglichen Erlebnisse mit den Kindern waren viel kostbarer für meine weitere Arbeit.
Lebendige und wissbegierige Kinder sind, das konnte ich schon früh feststellen, wunderbare Geschöpfe. Sie waren es, die mich dazu anhielten, innezuhalten und irgendwie entspannter und differenzierter auf meine Arbeit zu schauen. So hatte ich immer das Gefühl zum einen Kindern auch Wissen zu vermitteln, sie mit Fragen zu konfrontieren, sie zur Neugier und zum Forschen anzuhalten. Aber es war immer auch wichtig dann wieder ganz spontane Dinge zu tun und die Kinder ebenso dazu zu ermuntern.
Beschäftigungen im mathematischen Bereich, z.B. unterbrach ich- in dem die Kinder hüpfen und stampfen konnten, dabei laut z.B. die Worte Sonne, Mond und Sterne riefen. Solch kleine Einlagen lockerten den Lernprozess positiv bei den Kindern auf.
ODER z.B. die Angst beim Klettern am Klettergerüst zu nehmen hieß für mich einfach mit auf dieses Klettergerüst zu steigen und dabei gemeinsam mit den Kindern zu singen.
Als ich anfing im Jugendbereichzu arbeiten, durfte ich mich neuen Herausforderungen stellen. Gleich zu Beginn ergab sich folgende Situation.
Ein 13-jähriges Mädchen wollte einfach verschwinden, wollte weggehen. Ich versuchte sie mit aller Macht davon abzuhalten, indem ich mich vor die Tür stellte. Naja, war natürlich nicht pädagogisch wertvoll und ich stellte mein Dasein als Heimerzieherin stark in Frage.
Ich hatte einen lehrreichen Teamleiter an meiner Seite, der mich zum Weitermachen ermunterte. Ich bin ihm heute noch sehr dankbar für seine kollegiale Toleranz und Unterstützung.
Was waren die neuen Herausforderungen?
Hier war der Moment für mich gekommen, die Wünsche, Vorstellungen, Bedürfnisse der 13- bis 17-Jährigen, aber auch ihre Träume herauszufinden. Dies konnte nur durch Zuhören, Verständnis, Reden, gemeinsame Aktionen und eine sinnvolle Gestaltung des Miteinanderlebens erreicht werden. Und wenn jemand wirklich mal los musste, dann hieß es für mich: ich werde dich begleiten oder ich hole dich dort ab, wo du nicht weiterweißt. Ich gehe mit dir die Wege, die du glaubst gehen zu müssen aber ich lasse dich nicht allein.
So gab es eine z.B. sehr komplizierte Gruppenkonstellation. Jugendliche bummelten die Schule, kamen abends nicht pünktlich, na man kennt das ja. Ich habe mir gedacht, wenn ich jetzt mit Strafen anfange oder immer nur rede, was bringt das?! Also habe ich eingeführt, dass es jeden Nachmittag eine Plauderstunde gab. Mit Kuchen mit Kakao, Kaffee. Egal ob die Jungen und Mädchen in der Schule waren oder nicht. Jeden Nachmittag in Ruhe reden, lachen, nachdenken. Am Anfang waren es nur wenige, die das gut fanden. Aber es wurden immer mehr. Und dann saßen wir alle da. Und dann, dann war das mit der Schule plötzlich anders. Ich wunderte mich. Aber indem wir zueinander gefunden hatten, waren die Mädchen und Jungen mutiger geworden, trauten sich wieder in die Schule und freuten sich nach Hause zu kommen. Manche nannten das „Kuschelpädagogik“. Es war mir egal.
Und wir erfanden die so genannten Abenteuerwochenenden. Alle, die Lust hatten zogen am Samstag los. In die weite Welt. Wir wanderten. Und wir schliefen in Zelten in der Natur. Wir zogen durch die Gegend. Und abends wurden die Zelte schief und krumm- aufgebaut, eine Feuerstelle angelegt und ein Donnerbalken mit Naturblick gezimmert. Für das leibliche Wohl waren die Jugendlichen zum Teil selbst angehalten, nämlich mit einem einfachen Stock, Angelsehne und Haken am Ufer eines Sees auszuharren, bis zufällig sich ein Abendbrotsfisch daran verirrte. Dass ein Zelt im Wald so gut aufgebaut werden sollte, dass es einem Regenguss standhält bekamen die Jugendlichen dann selbst mit. Und dass Ruhe und Ausdauer zum Angeln gehört zeigte ihnen dann der Fisch an der Angel.
Und wir bauten mit den im Wald zur Verfügung stehenden Mitteln ein Floß, welches eine Person ans andere Ufer befördern musste. Wir waren erstaunt mit welcher Kreativität und Ausdauer die Jugendlichen ein funktionales 1Mann Floß zusammen zauberten.
Die Aktionen Überlebenswochenende hätte nicht zu einem bleibenden Erlebnis geführt, wenn nicht Kollegen und Kolleginnen mit einer entsprechenden Lust, Eigenmotivation und einem Ideenreichtum sich an genau dieser Sache beteiligt und mit eingebracht hätten. Auch die damals derzeitig bei uns tätigen Praktikanten wurden mit in diese Idee eingebunden und so manch einer brachte noch viel abenteuerlustigere Vorschläge mit ein.
Eine Jugendliche, welche immer sehr ausgiebig- ohne Rücksicht auf die Wasserrechnung in der Gruppe duschte, musste im Wald erstmal feststellen, dass Wasser nur in anderer Form und nicht so reichhaltig vorhanden war. Nach diesem Ausflug veränderte sich ihr Duschverhalten und nach ihrer ersten eigenen Wasserrechnung in ihrer Wohnung natürlich noch mehr. Manchmal telefonieren wir noch miteinander und diese Erinnerung erzeugt immer noch bei uns beiden einen Lacher.
Kuschelpädagogik, Abenteuerpädagogik, Alltagspädagogik.
Letzteres beinhaltete natürlich auch eine Befähigung der Jugendlichen im hauswirtschaftlichen Bereich. Die unter anderem Abläufe von Kochen, Einkaufen, Zimmer und Gruppenbereich säubern zum Inhalt hatten und ja wahrscheinlich immer noch haben. Dabei war es mir wichtig, diese notwendigen Aufgaben zum Teil ihres Lebens werden zu lassen, in dem ich alle Abläufe, wohl dosiert auf jeden Einzelnen abgestimmt, mit ihnen gemeinsam erlebte, erarbeitete, übergab.
Meine Motivation und mein Anspruch zeigten sich immer sehr hilfreich. Man kann zum Beispiel einem Jugendlichen das Wischen des Flures für die wundervollste Sache der Welt, eben mit entsprechender Eigenmotivation vermitteln
Nicht nur das ich die Erfahrung von einem immer größer und anspruchsvollerem Arbeitsinhalt haben durfte, so stellte ich schon in meiner Zeit in der Vorschule fest, dass die Kinder ein Teil meiner Arbeit sind, aber dass eine qualitativ gute Arbeit nur mit ALLEN am Erziehungsprozess beteiligten Personen stattfinden kann. Und zu den Kindern gehören auch die Eltern.
Mit diesem Teil der Elternarbeit begann ich während meiner Zeit mit den Jugendlichen. War eine Beziehung zwischen den Jugendlichen und den Betreuern aufgebaut, so konnte man behutsam an der Beziehung zwischen Eltern und Kind in gemeinsamen Gesprächen arbeiten. Hier war es notwendig, den Eltern einen Raum und die Zeit dafür zu geben, ihre Wünsche, Vorstellungen, Träume, Sorgen und Befindlichkeiten äußern zu dürfen.
Mit dem mir anvertrauten Wissen von Eltern und Jugendlichen habe ich versucht, ausprobiert und vielleicht auch manchmal gepokert, welche die geeignete Form für ein neues Aufeinanderzugehen sein kann.
In meinem jetzigen Projekt, dem Familienintegrativen Projekt, ist die Arbeit mit der ganzen Familie Hauptbestandteil.
Sicher gibt es eine Vielzahl von Methodiken wie z.B. die Sozialpädagogische Familiendiagnose, die Genogrammarbeit oder die Ressourcenkarte die in unserer täglichen Arbeit Anwendung finden. Aber auch hier zeigt sich, dass die Ziele der Familien mit einem Weg verbunden sind.
UND dieser Weg jedes Mal zum Abenteuer wird.
Zum Abenteuer gehört Lebenslust, Neugier, Mut zum Ausprobieren, Umwege in Kauf zu nehmen und Ideenreichtum. Und wenn ich mir den Inhalt von Heimerziehung anschaue, dann kann diese nur für mich ergebnisreich sein, wenn ich ausreichend von dieser Abenteuerlust habe, die gespickt ist mit Toleranz, Ausdauer, Authentizität und Empathie und bereit bin Familien auch dazu einzuladen.
Wenn mich jemand fragen würde, wie ich mit den Eltern ins Gespräch komme, so habe ich keine allgemeingültige Antwort. Bei jeder mir anvertrauten Familie stehe ich einer neuen Herausforderung gegenüber. Einer neuen Familie, mit neuen Gefühlen, eigenen Regeln und eigener Familiensprache, die ich neugierig wie ich bin – erstmal herausfinden muss.
Ich weiß inzwischen, dass nicht nur Kinder, sondern auch die Eltern sehr sensible Antennen besitzen, ob ihnen wirklich ein interessierter Mensch gegenübersitzt.
Es ist z.B. ein herrliches Gefühl, sich mit einer Mutter und ihrem Baby Zeit zu nehmen, gemeinsam im Krabbelbereich zu liegen. Die Mutter dabei zu begleiten, wenn sie Entwicklungsfortschritte bei ihrem Kind freudig entdeckt, weil es sich gerade alleine vom Rücken auf den Bauch gedreht hat.
Ich hoffe ich konnte Ihnen einen kleinen Einblick geben, mit welcher Haltung ich den mir anvertrauten Kindern und Eltern in meiner Arbeit begegne. Wie ich schon sagte, ist die Arbeit mit Familien für mich ein Abenteuer und vielleicht inspiriert den einen oder anderen unter Ihnen mein Vortrag, sich auf dieses Abenteuer auch einzulassen.
Heidi Wilke, Familienintegratives Projekt „Familienbande“, Kinderhaus Berlin – Mark Brandenburg e. V.