Kleve, H.: Die Ambivalenz der Hilfe – Zwei Logiken der Sozialen Arbeit

Ausgangspunkte

Soziale Arbeit soll eine Hilfe zur Selbsthilfe sein, sich bestenfalls sogar als Fremdhilfe überflüssig machen. Das ist die klassische und aus meiner Sicht auch nach wie vor passende Vorstellung sozialarbeiterischer Unterstützung. In einer Gesellschaft, die aufgrund ihrer Risiko-Dynamik, permanent soziale Probleme schafft, ist dieses selbstdekonstruktive Bestreben für das Fortbestehen der Sozialen Arbeit als professionelle Praxis zweifellos ungefährlich.

Wie etwa Ulrich Beck (1986) bereits vor über zwei Jahrzehnten gezeigt hat, generiert die Entwicklung der modernen Gesellschaft am laufenden Band Risiken. Diese Risiken bestehen darin, dass jede Entscheidung (für oder gegen etwas), ob diese nun auf gesellschaftlicher, organisatorischer oder individueller Ebene getroffen wird, mit der Gefahr zahlreicher nicht gewollter Nebenfolgen einhergeht. Mit anderen Worten, wir leben in einer solch komplexen, d.h. unübersichtlich verflochtenen Welt permanenter Ereignisse, so dass die Wirkungen, die aus Entscheidungen erwachsen, nicht prognostiziert werden können. Die Gesellschaft, mithin unser Leben sowie die Art und Weise, wie wir dies betrachten, sind kontingent geworden: Von einem auf den anderen Moment kann sich alles ändern. Was heute eine Lösung war, ist schon morgen das Problem – und umgekehrt.

Soziale Arbeit ist die Profession, so eine These, die aus dieser Ambivalenz moderner gesellschaftlicher Entwicklung erwachsen ist (vgl. Kleve 2007), die sich dieser negativen Dialektik der Moderne verdankt, die eben jene Probleme bearbeitet, die der vermeintliche und unaufhaltbare Fortschritt selbst permanent erst schafft.

Aber nicht nur diesbezüglich ist die Soziale Arbeit mit Ambivalenz verschweißt. Ambivalenz, also Doppeldeutigkeit, Widersprüchlichkeit, Gegenläufigkeit scheint auch auf, wenn wir das beobachten, was Soziale Arbeit tagtäglich vollführt. Wenn wir uns das sozialarbeiterische Helfen anschauen, dann lassen sich – idealtypisch, grob holzschnittartig – mindestens zwei Logiken der professionellen Hilfe unterscheiden, die – sehr abstrakt formuliert: als die selbstkonstruktive Art und die selbstdekonstruktive Art des Helfens bezeichnet werden könnten (vgl. dazu bereits ausführlich Kleve 2003, S. 131ff.). Auch die Hilfen zur Erziehung lassen sich auf der Basis der Unterscheidung dieser beiden Logiken des Helfens reflektieren.

 

Selbstkonstruktives Helfen

Selbstkonstruktives Helfen ist ein helfendes Handeln, das genau das permanent verfehlt, was ich eingangs als das klassische Postulat der Sozialen Arbeit bezeichnet habe: die Hilfe zur Selbsthilfe. Ein solches Helfen verfestigt die professionelle Fremdhilfe, es konstruiert permanent Gründe dafür, dass es weitergehen muss, ihm wohnt gewissermaßen ein Unendlichkeitsbestreben inne. Selbstkonstruktives Helfen konsolidiert damit eine dauerhafte Asymmetrie von Klienten und Helfenden.

Dirk Baecker (1994) formuliert hinsichtlich der Sozialen Arbeit drei Verdachtsmomente: den Motivverdacht, dass Helfen eher der Finanzierung der helfenden Organisationen als den Adressaten dient; den Effizienzverdacht, dass Hilfe in dem Moment, in dem sie gewährt wird, uneffizient wird, weil die Potentiale der Selbsthilfe eher verschüttet als gefördert werden; und den Stigmatisierungsverdacht, dass Helfen über die Markierung der Hilfsbedürftigkeit die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass diejenigen dauerhaft hilfsbedürftig bleiben, denen geholfen wird.

Genau genommen beschreibt Baecker damit nicht die Soziale Arbeit, sondern die selbstkonstruktive Logik des Helfens. Die Etablierung dieser Logik wird freilich in einer Gesellschaft wahrscheinlich, deren Funktionssysteme in einer – wie die Systemtheorie formuliert (vgl. Luhmann 1997): autopoietischen Struktur verfasst sind. Demnach drehen sich Funktionssysteme (etwa Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Recht etc.) vor allem um sich selbst. Sie nehmen ihre Umwelt nur nach Maßgabe eigener Kriterien in den Blick, und diese Kriterien ruhen auf Prinzipien, die den Selbsterhalt und die Selbstexpansion, das Wachstum der Systeme zu forcieren suchen. Einen solchen systemischen Charakter hat freilich auch die Soziale Arbeit.

Gestützt wird diese autopoietische Logik von Organisationsprinzipien kapitalistischer Prägung, nach denen auch Soziale Arbeit den Marktgesetzen unterworfen wird. Wenn etwa mit Hilfe von Fachleistungsstunden oder Tagessätzen das bezahlt wird, was diese Organisationen fallbezogen leisten, dann erhöht sich erneut die Wahrscheinlichkeit, dass die Hilfe dazu tendiert, sich selbst zu erhalten, sich zu verfestigen und sich auszudehnen – jenseits der individuellen Intentionen der helfenden Akteure und ihrer Adressaten. Denn jedes Mal, wenn im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe erfolgreich geholfen wurde, gerät die Organisation ins Stocken, weil sie den „Nachschub“ an weiteren Hilfen sichern muss. Deshalb ist – insbesondere aus ökonomischen Gründen – das andauernde Helfen und nicht die erfolgreiche Beendigung der Hilfe für Organisationen attraktiv.

 

Selbstdekonstruktives Helfen

Aber es lassen sich durchaus Tendenzen einer anderen Art des Helfens entdecken, die sich trotz der autopoietischen Strukturen der gesellschaftlichen Funktionssysteme immer deutlicher zeigen. Als konkrete Beispiele von Konzepten, die einer solchen Hilfelogik zu folgen versuchen, könnten etwa das SIT-Modell nach Michael Biene, die Sozialraumorientierung und in diesem Kontext insbesondere der Familienrat sowie in gewisser Weise auch das Case Management genannt werden.

Selbstdekonstruktives Helfen setzt dort an, wo es tatsächlich darum geht, die Hilfe zur Selbsthilfe zu realisieren, sich als helfende Institutionen, zumindest fallbezogen wieder überflüssig zu machen, das Helfen also zu dekonstruieren. Hinsichtlich eines solchen Helfens können einige allgemeine Prinzipien herausgestrichen werden, die auch in den genannten Konzepten hervor scheinen.

So wird eine andere Inklusion ins Hilfesystem angeboten als dies üblicherweise der Fall ist: Die Nutzerinnen und Nutzer Sozialer Arbeit werden als Experten für die Lösungen ihrer Probleme gesehen. Dies geht beim Familienrat so weit, dass in der entscheidenden Phase einer solchen Zusammenkunft von Familienangehörigen und Freunden, also in der Phase, in der Lösungen für die belastenden Probleme gesucht werden, die Professionellen im wahrsten Sinne des Wortes außen vor bleiben, sie sind schlichtweg nicht dabei. Damit wird zugleich der professionelle Verweisungszusammenhang durchbrochen, der sich zumeist dann etabliert, wenn Professionelle maßgeblich die Lösungssuche betreiben: Sie referieren auf andere helfende Institutionen, spinnen ein immer enger werdendes Netz von Organisationen, die sich um den Fall weben. Wenn jedoch die Professionellen lösungsabstinent bleiben, dann können alternative Lösungen entstehen, die vor allem diejenigen Welten stärkt, in denen sich die Lösungen ohnehin bewähren müssen: die Lebenswelten.

Gerahmt werden die Versuche, die selbstdekonstruktive Hilfelogik zu etablieren, von strukturellen Bestrebungen, um die sozialen Bedingungen zu modifizieren, unter denen Soziale Arbeit gemeinhin abläuft. Die Sozialraumorientierung schlägt demzufolge etwa vor, die Finanzierung Sozialer Arbeit zu verändern, und zwar so, dass nicht die defizitorientierte Fallarbeit bezahlt wird, sondern die Lösungssuche und die Etablierung von sozialen Strukturen, in denen Probleme gar nicht erst entstehen bzw. bürgerorientiert und selbstbestimmt angegangen werden können.

Selbstdekonstruktives Helfen verabschiedet sich von der klassischen Interaktionsdynamik der Professionen: Die klassischen Laien werden von Anfang an als kompetent betrachtet, ihre Probleme selbstbestimmt und unterstützt durch ihr lebensweltliches Netzwerk zu lösen. Dies setzt freilich bei den Fachkräften eine besonders reflektierte Professionalität voraus, die die Fallstricke Sozialer Arbeit (vgl. Ackermann 2011) wach im Blick behält, die auf den Ebenen der Interaktion, der Organisation und der gesellschaftlichen Strukturen dazu (ver-)führen, dass sich Hilfsbedürftigkeit eher verfestigt als sich zu verflüssigen oder zu pulverisieren. In dieser Hinsicht reflektierte Professionelle wissen, wie das Verhältnis von Hilfe und Nicht-Hilfe passend arrangiert werden kann, so dass sich die Selbsthilfepotentiale der Nutzerinnen und Nutzer Sozialer Arbeit sowie ihrer Lebenswelten tatsächlich nachhaltig zeigen können. In SIT-Projekten führt dies dann beispielsweise dazu, dass sich ganz neuartige Strukturen der multifamiliären Selbsthilfe generieren: Familien, die SIT durchlaufen haben, helfen sich nach Abschluss des Programms selbst, bilden multifamiliäre Netzwerke

 

Fazit

Sozialarbeiterische Hilfe ist per se ambivalent. Denn jedes professionelle Helfen ist in zweifacher Weise mit der Nicht-Hilfe verkoppelt: zum einen zielt es darauf, Selbsthilfe anzuregen und sich bestenfalls gänzlich überflüssig zu machen und zum anderen geht es mit der Gefahr einher, dass es sich als Fremdhilfe verfestigt, chronisch wird und diejenigen abhängig macht, die es zu emanzipieren versucht. Diese Grundambivalenz Sozialer Arbeit kann mit der vorgeschlagenen Unterscheidung von selbstkonstruktiver und selbstdekonstruktiver Hilfe als Reflexionsgrundlage genutzt werden, um auch die Erziehungshilfen zu betrachten. Demnach lassen sich Hilfen eher der einen oder eher der anderen Hilfelogik zuordnen. Nach meinen Erfahrungen und Untersuchungen können zumindest das SIT-Konzept, der Familienrat als Verfahren der Sozialraumorientierung und auch Aspekte des Case Managements als starke Versuche gelten, selbstdekonstruktiv zu helfen.

 

Literatur

Ackermann, T. (2011): Fallstricke Sozialer Arbeit. Systemtheoretische, psychoanalytische und marxistische Perspektiven. Heidelberg: Carl-Auer.

Baecker, D. (1994): Soziale Hilfe als Funktionssystem der Gesellschaft, in: Zeitschrift für Soziologie, Heft 2, S. 93-110.

Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp

Kleve, H. (2003): Sozialarbeitswissenschaft, Systemtheorie und Postmoderne. Grundlegungen und Anwendungen eines Theorie- und Methodenprogramms. Freiburg/Br.: Lambertus.

Kleve, H. (2007): Postmoderne Sozialarbeit. Ein systemtheoretisch-konstruktivistischer Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft. Wiesbaden: VS.

Luhmann, N. (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bände. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

 

Autor: Prof. Dr. Heiko Kleve, Sozialarbeiter und Soziologe ist Professor für Soziale Arbeit an der Fachhochschule Potsdam. Kontakt: kleve@fh-potsdam.de; http://sozialwesen.fh-potsdam.de/heikokleve.html