„Rückführung“ ist immer Auftrag einer stationären Erziehungshilfe, ein gesondertes Konzept dazu sei insofern nicht erforderlich, wurde uns gesagt, als wir MARIE+ [3] in einem Regionalteam vorstellen wollten. Theorie[4] und Praxis, zwei Welten – wie so oft. Aber wie kann Rückführung wirklich gelingen?
Nach vielen Jahren Erfahrung mit stationärer Hilfe zur Erziehung, haben wir einen differenzierten Blick entwickelt, für welche Kinder und Jugendliche diese – meist auf Dauer angelegte – Lebensform sinnvoll ist und für welche nicht.
Sie ist kaum sinnvoll, so lange die Eltern[5] nicht ihr ehrliches OK zur Unterbringung ihrer Kinder geben. Diese Haltung ist Ausdruck ihres Wunsches, die Kinder bei sich zu behalten, sie nicht „einfach“ hergeben zu wollen. Wir glauben, dass fast alle Eltern in dieser Phase (noch) erreichbar sind und es eine Bereitschaft bei ihnen gibt, sich aktiv darum zu bemühen, dass ihre Kinder zu ihnen zurückkehren, wenn eine zwischenzeitliche stationäre Unterbringung dennoch erforderlich ist.
Für alle Beteiligten gipfelt die Entscheidung zur stationären Unterbringung eines Kindes in einer hoch komplexen Phase der organisatorischen Klärung, wann, wie, wo und zu welchen Bedingungen das Kind untergebracht wird. Dabei soll es gelegentlich anfängliche Kontaktsperren zwischen Eltern und Kindern geben, um den Kindern „das Einleben in der Einrichtung“ zu erleichtern.
Die Eltern erleben sich in dieser Zeit und später häufig als „allein gelassen“. Sie „verwaisen“, sie fühlen sich macht- und hilflos. In der Hoffnung, das Beste für ihr Kind zu entscheiden, stimmen sie der stationären Unterbringung zu, die sie innerlich häufig zutiefst ablehnen. Wer bemüht sich in dieser Zeit um die Eltern und unterstützt sie darin, den „Verlust“ des Kindes zu ertragen und die Hoffnung dennoch nicht aufzugeben?
Mit dem Konzept der Multifamiliengruppenarbeit in der Wohngruppe MARIE+ der VJB Jugend und Familie gGmbH wollen wir Familien erreichen, die einer „begrenzten“ (max. 2 Jahre) Unterbringung zustimmen können, weil wir Ihnen zeitgleich mit der Aufnahme des Kindes ein konkretes Angebot machen, wie sie selbst wieder handlungssicher im Umgang mit ihrem Kind werden. Die Eltern sollen sich ihrer Ressourcen bewusst werden, Neues dazulernen und sich kritisch mit ihrem Verhalten gegenüber ihren Kindern auseinandersetzen. Sie sind tatsächlich von Anfang an Teil unserer Bemühungen, die Familie wieder zusammen leben zu lassen.
Deshalb verpflichten sich die Eltern vor der Aufnahme des Kindes, an regelmäßigen Familiengruppenterminen teilzunehmen. Die Eltern oder Familienangehörigen der Kinder werden an diesen Nachmittagen im Idealfall untereinander zu Ratgebern und Beobachtern. Initiiert und begleitet werden diese Termine, die etwa vierzehntägig stattfinden, von der Familientherapeutin[6] und den Gruppenerzieherinnen. Diese bleiben dabei aber möglichst im Hintergrund und geben höchstens den Rahmen der Treffen vor. Die Pädagoginnen übergeben bei diesen Treffen den Eltern oder Familienangehörigen wortwörtlich „die Verantwortung für ihr Kind“. Es sind also die Eltern, die auf die Kinder achten und reagieren müssen, wenn diese sich wie auch immer verhalten. Die Familien bekommen kleine Aufträge oder es wird ein bestimmtes Thema miteinander besprochen. Dabei sprechen die Familien miteinander eine gemeinsame Sprache, denn sie haben Gemeinsamkeiten, die sie in anderen Gruppenkontexten (z. B. Elternabend in der Schule) nicht vorfinden. Hier weiß jeder, dass die anderen Familien auch Probleme haben und das erleichtert es, sich auszutauschen. Fremdwahrnehmung fällt leichter als Selbstwahrnehmung und es gibt Möglichkeiten, sich im Verhalten der anderen Familien selbst zu erkennen oder Ideen für besser geeignete Handlungsweisen zu entwickeln.
Neben den Gruppentreffen bleiben die Eltern auch im Alltag in größtmöglicher Verantwortung für ihre Kinder. Sie nehmen Arzt- und Schultermine wahr und werden ggfs. auch gerufen, wenn das Kind „unbändig“ agiert, damit die Eltern miterleben, wie das Kind sich verhält und sie (mit Unterstützung der Pädagoginnen) einüben können, Grenzen zu setzen und Konsequenzen zu ziehen.
Die Mitarbeiterinnen agieren dabei als „Coaches“ für die Eltern und bleiben, wenn die Eltern da sind, im Hintergrund. Die Kinder bleiben dadurch in der Kinderrolle ihren Eltern gegenüber, sie erfahren, dass die Pädagoginnen den Eltern nicht „übergeordnet“ sind. Es ergeben sich für die Eltern Übungssituationen im Umgang mit ihren Kindern, die sie anschließend mit den Pädagoginnen reflektieren können.
Die Mitarbeiterinnen lassen sich generell von den Kindern siezen und mit Nachnamen ansprechen. Diese förmlichen und auf den ersten Blick etwas sperrigen Regeln und Rituale sind für die Familien weit weniger schwierig zu akzeptieren als wir erwartet hätten und erleichtern einen wertschätzenden Umgang miteinander.
Die Rolle der Pädagoginnen in der Wohngruppe und bei den Multifamiliengruppenterminen ist eine deutlich andere als in sonst üblichen Settings. Die Arbeit in der Wohngruppe ist viel sichtbarer für die Eltern und bietet somit auch mehr Raum für Kritik („es ist nicht ordentlich genug“, „die Erzieher sind viel zu streng“, „mein Kind wird nicht ausreichend beschäftigt“ etc.). Damit müssen die Kolleginnen umgehen können. Die permanente Transparenz, führt zu dem verstärkten Bedürfnis der Mitarbeiterinnen nach klaren Regeln und Rollenverteilungen innerhalb des Teams und in Bezug auf die pädagogische Leitung. Die häufigen Kontakte mit den Familien führen zu einer Vielzahl von täglichen Fragen und zu einem größeren Selbstbewusstsein der Eltern als in anderen Wohngruppen. Diese Erfahrung erfordert eine sehr enge Kommunikation zwischen den Mitarbeiterinnen und der Familientherapeutin und zieht einem kontinuierlichen Aushandlungsprozess über Entscheidungskompetenzen der vor Ort Tätigen nach sich (z. B. Beurlaubungen der Kinder nach Hause spontan entscheiden).
Auch die Kommunikation mit den Jugendamtskolleginnen unterscheidet sich zu anderen stationären Unterbringungsformen. Wir brauchen von Anfang an eine klare gemeinsame Haltung in der Zusammenarbeit mit der Familie. Da wir von den Eltern nicht nur deren Zustimmung zur Unterbringung sondern vor allem auch viel zeitliches Engagement während der Unterbringung der Kinder einfordern, ist es unabdingbar, dass das Jugendamt diesbezüglich „am gleichen Strang“ zieht. Wenn es den Eltern gelingt, mit dem Jugendamt Absprachen zu treffen, die dem Konzept der Gruppe widersprechen, ist der Erfolg der Unterbringung ausgeschlossen (z. B. die unregelmäßige Teilnahme an den Gruppentreffen nur mit dem Jugendamt besprechen, o. Ä.). Insofern ist auch die zeitliche Inanspruchnahme für gemeinsame Rücksprachen größer als sonst allgemein üblich.
Noch nicht eindeutig klar ist die finanzielle bzw. die die Wohnung betreffende Belastung der Eltern. Da formaljuristisch die Unterbringung des Kindes bei einer Dauer von mehr als sechs Monaten als „dauerhaft“ gilt, verringert sich der Anspruch der Eltern auf „angemessenen Wohnraum“. So kommen zu den regelmäßig stattfindenden Einzelgesprächen der Eltern mit der Familientherapeutin auch noch etliche Sorgengespräche der Eltern, in Bezug auf die ungewohnten Belastungen hinzu. Zu beachten ist auch, dass eine Umschulung der Kinder bei einer von Anfang an begrenzten Unterbringung nicht sehr sinnvoll ist und somit ggfs. noch Fahrtkosten entstehen, bzw. Hol- und Bringedienste organisiert und finanziert werden müssen, die nicht Bestandteil des Kostensatzes sind. Konzeptionell vorgesehen sind auch Hausbesuche, die eine weitere organisatorische Herausforderung darstellen.
Verkürzt gesagt, erfordert die Entscheidung, in der Marie+ unterbringen zu wollen von allen an der Hilfe Beteiligten ein größeres (zeitliches) Engagement, damit die Hilfe zum Erfolg führt. Dieser ist im besten Fall eine Rückführung des Kindes in den Haushalt der Eltern, häufig mit begleitender ambulanter Unterstützung, aber auch eine endgültige, echte Akzeptanz der Eltern für eine dauerhafte stationäre Unterbringung kann ein Ergebnis sein, das das Gelingen einer stationären Hilfe für das Kind wahrscheinlicher macht.
Wir befinden uns noch im Anfangsstadium, obwohl es schon die ersten erfolgreichen Rückführungen, aber auch Entscheidungen zur dauerhaften Unterbringung der Kinder in andere Wohngruppen gegeben hat. Die Arbeit ist extrem anspruchsvoll und erfordert eine tiefgreifende, grundsätzlich wohlwollende und von den Ressourcen der Eltern überzeugte Grundhaltung. Eltern und Kinder erspüren umgehend, wenn ihnen nur vordergründig zugestanden wird, veränderungsfähig zu sein. Eine begleitende Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiterinnen ist deshalb unverzichtbar.
Die Rückmeldungen der Eltern bestätigen, dass sie sich angenommen und angemessen wertgeschätzt fühlen. Sie erleben, dass sie selbst weiterhin die Verantwortung für ihre Kinder haben und sie willkommen sind. Es findet deutlich weniger Entfremdung zwischen Kindern und Eltern statt als in anderen Settings und die Erwachsenen sind am Ende der Unterbringung besser in der Lage, sich den Kindern gegenüber klar und verantwortungsvoll zu verhalten.
Auf der andern Seite müssen sich die Pädagogen auch im Umgang mit den Eltern abgrenzen, dürfen sich nicht von diesen und deren Problemen vereinnahmen lassen. Das enge Setting ermöglicht eine Vertrautheit, die manche Eltern kaum noch missen möchten. Der Wunsch mancher Eltern, sich in den Gruppenalltag einzubringen, muss an bestimmten Punkten begrenzt werden. Die zeitlichen Ressourcen der Mitarbeiter sind durch die notwendige Kommunikation und Dokumentation absolut ausgereizt, so dass – von den Eltern häufig gewünschte – lange abendliche Telefonate mit den Mitarbeiterinnen z. T. drastisch begrenzt werden müssen.
Die Eignung von Familien für das Programm muss im Vorfeld der Unterbringung sorgfältig geklärt werden. Der zeitliche und finanzielle Aufwand der Eltern muss genau besprochen werden. Umschulungen der Kinder müssen idealer Weise weitestgehend vermieden werden, um eine Entfremdung des Kindes aus seinem bisherigen Umfeld zu vermeiden. Weitere Hilfen für die Familien müssen mit dem Programm der MARIE+ in Einklang gebracht werden, um sich gegenseitig ausschließende Zielformulierungen zu vermeiden. Das erfordert gute und von Offenheit geprägte Kooperation mit anderen Helfersystemen und dem Jugendamt. Die dafür notwendigen Zeitressourcen sind sorgfältig einzuplanen.
Wir brauchen noch Zeit und mehr Erfahrung, um weitere Routinen in der MARIE+ zu installieren. Wir befinden uns in einem Lernprozess, sind aber bereits mehr denn je davon überzeugt, dass Elternaktivierung wichtig und möglich ist.
MARIE+, Träger: VJB / Jakus gGmbH
[3]in Anlehnung an:
Eia Asen, Michael Scholz: Praxis der Multifamilientherapie. 2. Auflage, 2012, Carl-Auer-Verlag.
Eia Asen: MFT-V. Working with Abusive and Violent High Risk Families. DVD-Rom, Daphne 2011.
[4] § 34 SGB VIII
[5]Der sprachlichen Einfachheit halber spreche ich von „Eltern“, gemeint sind aber immer auch andere wichtige Familienangehörige oder
(Ex-) LebenspartnerInnen eines Elternteiles, abhängig von der jeweiligen Familienkonstellation des Kindes.
[6]Männliche Kollegen sind selbstverständlich auch gemeint, ich habe mich aus Gründen der besseren Lesbarkeit für die weibliche Schreibweise entschieden.