I. Einleitung
Unser Alltag, unsere Konsumpraktiken und unser Kommunikationsverhalten sind alle global vernetzt. Nicht nur das Verhältnis von Nähe und Distanz hat sich verschoben, auch unsere Lebenswelt ist zunehmend virtuell geworden. Smartphones und Tablets ermöglichen einen permanenten Zugriff auf das World Wide Web. Mit dem Internet-Telefon Skype halten wir Kontakt in entfernte Winkel der Welt, über Netzwerke wie Facebook informieren wir uns und andere über Wissenswertes und Unwesentliches, wir verabreden uns per SMS oder E-Mail, unsere Musik beziehen wir online, unsere Bücher sind nun E-Books. Das Internet hat die Globalisierung auf rasante Weise vorangetrieben. Mehr und mehr ist der Globus in wirtschaftlicher, politischer, sozialer und kultureller Hinsicht verknüpft. Das Leben erscheint komplexer, immer schneller, anspruchsvoller und voraussetzungsreicher. Pädagogik ist daher gefordert, Heranwachsenden Orientierung zu vermitteln, damit diese die „Transnationalisierung der sozialen Welt“ (Pries 2008) und deren Konsequenzen intellektuell und moralisch begreifen lernen und sich kompetent und verantwortungsvoll in die Gestaltung von Globalisierungsprozessen einbringen können.
Dieser Beitrag fragt nach den Auswirkungen der Globalisierung auf die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen. Inwieweit sich deren Erfahrungswelten und die Bedingungen des Aufwachsens verändert haben, ist Thema des zweiten Kapitels. Dass Globalisierung auch herausforderungsreiche Konsequenzen für Beziehungen hat, stellt der dritte Abschnitt heraus. Abschließend werden im vierten Kapitel pädagogische Konsequenzen erörtert, die sich aus diesem Wandlungsprozess ableiten. Er fokussiert, wie Kinder und Jugendliche durch abenteuer- und erlebnispädagogische Praktiken zu kompetenten Gestaltern in einer zunehmend vernetzten Welt befähigt werden können.
II. Aufwachsen in einer globalisierten Welt
Globalisierung ist ein vielfach – fast inflationär – verwendeter Begriff, der zunächst einer Klärung bedarf. Eine allgemeine, aber praktikable Definition formuliert Klaus Seitz: „In einem allgemeinen Sinne bezeichnet Globalisierung die Ausweitung, Verdichtung und Beschleunigung grenzüberschreitender sozialer Interaktion, sofern diese dabei einen tendenziell weltweiten Charakter annehmen“ (2002, S. 96). Auch der britische Soziologe Anthony Giddens zielt auf soziale Beziehungen ab, hebt aber insbesondere die Vernetzung von Räumen durch Interaktion hervor. Er beschreibt den Prozess der Globalisierung „im Sinne einer Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen, durch die entfernte Orte in solcher Weise miteinander verbunden werden, dass Ereignisse an einem Ort durch Vorgänge geprägt werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten Ort abspielen, und umgekehrt“ (Giddens 1996, S. 85). Globalisierung ist aber ein Prozess, der nicht nur den Kommunikations-, sondern auch den Bewusstseinshorizont von Individuen ausweitet, wodurch ein neues „Weltbild“ entsteht (Nassehi 1998). Die gesteigerte lebensweltliche Komplexität lässt sich in vier Perspektiven beschreiben: in räumlicher, zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht (vgl. Scheunpflug 2003a, b; 2011; Villányi/Witte 2011; Witte/Niekrenz/Sander 2011).
2.1 Herausforderungen in räumlicher Hinsicht
In räumlicher Hinsicht führt die Globalisierung durch eine rasante Steigerung der Mobilitätsmöglichkeiten zu einer Veränderung des Raumes und zu neuen Formen der Entgrenzung. In der sozialwissenschaftlichen Diskussion globaler Interaktionen gibt es eine Reihe von Konzepten, die dem veränderten Raumbezug (post-)nationaler Gesellschaften gerecht werden wollen: Denationalisierung (Michael Zürn) und Deterritorialisierung (Arjun Appadurai), aber auch Weltgesellschaft (Niklas Luhmann) und transnationale oder transstaatliche soziale Räume (Ludger Pries; Thomas Faist) gehören dazu. Sie alle zielen darauf ab, die veränderte Bedeutung von nationalstaatlichen Grenzen, von Räumen und Territorien auf den Begriff zu bringen. Durch neue Informations- und Kommunikationsmedien sowie beschleunigte Transportmöglichkeiten spielen Orte und Distanzen eine immer geringere Rolle. Menschen können an Information, Kommunikation und Interaktion teilhaben, ohne überhaupt körperlich vor Ort zu sein. Live-Ticker, Live-Fernseh- und Internetübertragungen ermöglichen bei großen Sport- oder Musikevents ein „Dabeisein“ in Echtzeit. Die Welt schrumpft zu einem „global village“ (Marshall McLuhan). Das digitale Zeitalter eröffnet neue Möglichkeiten der Kommunikation und Interaktion. Jenseits territorialer Grenzziehungen verläuft Kommunikation netzwerkartig und strukturiert sich über Ländergrenzen hinweg auf einer Vielzahl von Kommunikationskanälen. Ergebnis dieses Prozesses sind neue Formen von Nähe und Ferne, denn Nähe und Ferne verändern sich unabhängig von realen Distanzen. Räume (in der Ferne) nähern sich an, während sich andere Räume (in der Nähe) in ihrer Erreichbarkeit zu entfernen scheinen. Doch selbst wenn die Beziehung zum Raum sich im Zuge gestiegener Mobilitäts- und Kommunikationsmöglichkeiten verändert hat, bleibt doch die leibliche Gebundenheit an den lokalen Raum bestehen. Der britische Soziologe Robert Robertson (1995) spricht deshalb von „glocal contexts“. Er gibt dem Phänomen der Interaktion zwischen Globalisierung und Lokalisierung den Namen der Glokalisierung und meint damit den „Prozess einer simultanen Globalisierung des Lokalen und Lokalisierung des Globalen“ (Eickelpasch/Rademacher 2004, S. 61). Folgt man Robertsons Ausführungen, wird deutlich, dass Lokales und Globales keineswegs einander ausschließen. Vielmehr bedingen Globales und Lokales einander wechselseitig.
2.2 Herausforderungen in zeitlicher Hinsicht
Globalisierung führt ebenfalls zu einem veränderten Zeitbewusstsein, gewissermaßen zu einer „Schrumpfung der Zeit“ (UNDP 1999, S. 1). Der Soziologie Hartmut Rosa (2005) hat in seiner gegenwartsdiagnostischen Studie drei Formen der Beschleunigung in den modernen Industriestaaten herausgearbeitet, die unser gesellschaftliches Zusammenleben grundlegend bestimmen: die technologische Beschleunigung (mit ihren Auswirkungen auf die Kommunikation, Produktion und den Transport), die Beschleunigung des sozialen Wandels und die Beschleunigung des Lebenstempos. Der schnellere Arbeitsplatzwechsel, der häufigere Wechsel von Lebenspartnern und Wohnorten sind Ausdruck dieser sozialen Beschleunigung. Menschen werden immer flexibler und finden zugleich immer weniger Verankerung in stabilen sozialen Beziehungen (vgl. Beck 1986). Die Beschleunigung des Lebenstempos, die Rosa beobachtet, drückt sich u.a. darin aus, dass wir versuchen, mehr Dinge in kürzerer Zeit zu erledigen. Für den Bildungsbereich ist diese auf Effizienz und Ökonomie gerichtete Entwicklung offensichtlich: Frühkindliche Bildung setzt schon bei den Jüngsten an und soll ihnen eine umfassende Förderung zukommen lassen. Das Abitur wird in der 12. statt in der 13. Klasse geschrieben. Das Bachelor-Studium führt bereits in drei Jahren zum Abschluss.
Neben den gegenwärtig freigesetzten Beschleunigungen sind auch „Entgrenzungen“ von Zeitstrukturen zu beobachten, etwa aufgrund einer Diffusion von Arbeitszeit und Freizeit im Dienstleistungssektor und der zunehmenden Notwendigkeit lebenslangen Lernens (vgl. Böhnisch/Lenz/Schröer 2009 S. 98ff.). Aus dem Bewusstsein einer individuell gestaltbaren, aber damit auch offenen und unbestimmten Zukunft erwachsen Gefühle der Unsicherheit und Ungewissheit, die als Resultate eines immer schnelleren sozialen Wandels gedeutet werden können. Für die (Rück-)Gewinnung von Sicherheit und Gewissheit bedarf es daher nicht nur der Vermittlung von Wissen über Handlungsoptionen, sondern auch der eigenen Fähigkeit, sich neue Handlungsoptionen zu erschließen und diese gegeneinander abzuwägen. Da der Mensch durch seine physischen Möglichkeiten begrenzt bleibt, muss er Umgangsweisen für die Beschleunigung und Entgrenzung von Zeit finden.
2.3 Herausforderungen in sachlicher Hinsicht
Die sachliche Dimension der gesteigerten lebensweltlichen Komplexität im Zeitalter der Globalisierung steht für den Umgang mit Wissen. Die Menge an verfügbarem Wissen wächst und ist niemals in vollem Umfang von einem einzelnen Menschen verarbeitbar. Die grenzenlose Zunahme und Verfügbarkeit von Informationen erhöht die Notwendigkeit zur Selektion und führt zu einer zunehmenden Wahrnehmung von Kontingenz, also der Ungewissheit über (künftige) Entwicklungen. Die Entstehung neuen Wissens führt nämlich zugleich zur Schaffung neuen Nichtwissens. Auswahl und Entscheidung bedeuten immer Risiko, weil die Möglichkeit, sich anders zu entscheiden, erhalten bleibt. In einer immer unübersichtlicher werdenden Welt müssen auch die ungewollten Nebenfolgen des Handelns von den Menschen bearbeitet und Probleme von hoher Komplexität und mitunter globalem Ausmaß bewältigt werden. Ulrich Beck hat dieses Problem in seiner Idee der „Weltrisikogesellschaft“ (Beck 2007) beschrieben. Die Risikogesellschaft hat eine globale Reichweite angenommen. Die durch die Mobilität und den Individualverkehr entstandenen Risiken und Schäden sind nationalstaatlich nicht mehr zu bewältigen, denn dieses Verkehrsaufkommen trägt auch zur globalen Klimakatastrophe bei. Den Menschen dieser Welt drohen Großrisiken wie Klimawandel, gentechnische Manipulationen mit unabsehbaren Folgen, Energieknappheit oder Unfälle in Kernkraftwerken, wie es das Unglück im japanischen Fukushima 2011 gezeigt hat. Ungerecht ist an dieser Entwicklung, dass der Müll der Moderne selbst in Gegenden angeschwemmt wird, wo Modernisierung noch gar nicht stattgefunden hat.
Neben der Unübersichtlichkeit verliert Wissen zudem innerhalb immer kürzerer Zeitspannen seine Bedeutung und muss demnach wieder neu erworben werden. Es treten veränderte Formen der Wissensaneignung in den Vordergrund. Ein Bewusstsein eigenen Nichtwissens ist notwendig sowie die Fähigkeit, angesichts unsicheren Wissens dennoch Handlungsoptionen zu entwerfen und Entscheidungen zu treffen.
2.4 Herausforderungen in sozialer Hinsicht
Die vierte Dimension beschreibt den Umgang mit sozialen und kulturellen Disparitäten. Eng verbunden mit der Entgrenzung des Raums und der zunehmenden räumlichen Mobilität verändert sich das Verhältnis von Fremdheit und Vertrautheit. Neue Vermischungen und Überschneidungen entstehen. Die meisten Menschen haben Anteil an mehreren Kulturen, durch die sie in jeweils einmaliger Weise geprägt werden. Mit der weltweiten Zunahme von Migrationsbewegungen wird das Zusammenleben von Angehörigen verschiedener Kulturen zur selbstverständlichen, alltäglichen Realität (vgl. Pries 2010). „Gesellschaften werden multikulturell, multisprachlich und multireligiös“ (Scheunpflug 2011, S. 208). Fremdheit wird zur Selbstverständlichkeit im urbanen Alltag. Gleichzeitig sind wir auch über Ländergrenzen hinweg mit Menschen verbunden. Steffen Mau (2007) untersucht die soziale Integration der bundesdeutschen Bevölkerung in transnationale Netzwerke. 46,5 Prozent der Personen, die keine Migrationserfahrung haben, sind dennoch via Internet und stabile Kontakte ins Ausland in transnationale Interaktionsbeziehungen eingebunden. Er spricht von einer Entgrenzung sozialer Lebenswelten. In der Generation der bis 30-Jährigen pflegen fast 50 Prozent der Menschen regelmäßige private Kontakte ins Ausland. Nicht nur Migrationsbewegungen verknüpfen die Menschen des Globus miteinander, sondern auch die neuen Informations- und Kommunikationsmedien. Ein Blick auf die räumliche Reichweite der Interaktionsbeziehungen verdeutlicht allerdings die starke Konzentration der Kontakte auf Nordamerika, Europa, Australien, die Türkei und Russland. Transnationale Netzwerke nach Afrika, Asien und Südamerika finden sich kaum. Eine Pauschalisierung von weltweiter Vernetzung im Zuge der Globalisierung sei daher, so Mau, unangemessen. Diese transnationalen Kontakte müssen individuell verarbeitet werden. Auf individueller Ebene verlangt kulturelle Vielfalt eine Auseinandersetzung mit der Differenz zwischen Vertrautheit und Fremdheit und gestaltet die Anschlussfähigkeit potenzieller Kommunikationspartner voraussetzungsreicher. Für Erziehung und Bildung ergeben sich aus dieser Situation neue Aufgaben: es gilt, (neue) Solidaritäten, Sensibilitäten und Loyalitäten zu entwickeln.
Fasst man die Konsequenzen von Globalisierung für die alltägliche Lebensführung von Heranwachsenden, aber auch von Erwachsenen zusammen, zeigt sich, dass die Auflösung einer traditionellen Vorstellung von Raum und Zeit, Ferne und Nähe sowie Vertrautem und Fremden tiefgreifende Veränderungen in den Lebensbedingungen mit sich bringt. Aufwachsen zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist nicht (mehr) nationalstaatlich verfasst, sondern in seiner globalisierten Kontextuierung zu denken (vgl. ausführlich Witte/Niekrenz/Sander 2011). Nicht Übersichtlichkeit, Einheitlichkeit und Begrenztheit bestimmen das Leben heute, sondern Vielfalt, Komplexität und Entgrenzung. Welche Herausforderungen ergeben sich aus diesen Entwicklungen für zwischenmenschliche Beziehungen?
III. Beziehungen in einer globalisierten Gegenwart
Soziale Beziehungen in Familien, Partnerschaften, Freundschaften oder Netzwerken sind massiv in Modernisierungsprozesse eingebunden. Individualisierung, Pluralisierung, Rationalisierung und Globalisierung als Teilprozesse von Modernisierung zeigen sich in der Vielfalt von Lebensentwürfen und von Formen des Zusammenlebens. Patchworkfamilien, Alleinerziehende, Ehepaare mit Kindern und ohne Kinder, Lebensabschnittsgefährten, gleichgeschlechtliche Beziehungen, Singles, polyamouröse Partnerschaften, Paare mit jeweils eigenem Haushalt – diese zahlreichen Lebensformen deuten an, dass die traditionelle Kleinfamilie ihre Dominanz in den Entwürfen des Zusammenseins verliert.
Die Eingebundenheit von immer mehr Menschen in transnationale Kommunikationsströme befeuert den Globalisierungsprozess ebenso wie die Entwicklung neuer Formen von Beziehungen und Kontakten, die immer häufiger allein im Internet existieren. Es entwickeln sich virtuelle Formen von Gemeinschaft, die sich in Foren und sozialen Netzwerken formieren und oft wegen ihrer Unverbindlichkeit nur von kurzer Dauer und äußerst instabil sind. Solche Beziehungsgefüge lassen sich als posttraditionale Gemeinschaften bezeichnen (vgl. Hitzler/Honer/Pfadenhauer 2008). Diese Gesellungsformen werden der komplexen Realität aufgrund ihrer Unverbindlichkeit, Fluidität und Situativität in besonderer Weise gerecht: Der oder die Einzelne kann sich für eine temporäre Mitgliedschaft entscheiden, ohne eine dauerhafte Verpflichtung gegenüber Anderen einzugehen.
Während Vergemeinschaftungen im Internet virtuell und unabhängig von Raum und Zeit bleiben, gibt es aber gleichzeitig ein Bedürfnis nach Begegnungen von Menschen in Echtzeit. Es werden Gelegenheiten gesucht, die jene Körperlichkeit betonen, die in einem zunehmend virtuellen Alltag an Bedeutung verliert (vgl. Niekrenz 2012a). Feste und Events sind solche Anlässe für Zusammenkünfte vieler Menschen, die sich in flüchtigen und nur vorübergehenden Formen von Gesellung vergemeinschaften. Die Grundlage von Gemeinschaftsbildung stellen hier gleiche Konsumpraktiken oder ein ähnlicher ästhetischer Selbstausdruck dar. Es geht um den Selbstgenuss und das Wir-Erlebnis in der Unmittelbarkeit des Hier und Jetzt. Kommunikation findet nicht mehr körperlos statt, sondern wird oftmals allein dem Körper überlassen. Rockkonzerte, Musik- und Sportfestivals, Kirmes, Oktoberfest, Karneval oder Sportereignisse sind Anlässe für solche Ausgelassenheiten.
Beziehungen kommen in der globalisierten Welt in sehr großer Pluralität und Optionenvielfalt vor. Die Art und Weise, wie wir Beziehungen eingehen und pflegen, bestimmt unsere Lebensführung und unser In-der-Welt-Sein. In Zeiten fortschreitender Pluralisierung und Individualisierung werden stabile Bindungen schwieriger denn je, aber zugleich auch wichtiger und ersehnter als jemals zuvor. Auf die Erfahrung des Verlusts an stabilen Bindungen wird mit einer Aufwertung von familialen und intimen Beziehungen reagiert. Die Shell Jugendstudie 2010 zeigt, dass die Bedeutung der Familie für Jugendliche zunimmt. Gleichzeitig wird das Bedürfnis nach Autonomie und Selbstverwirklichung in folgenlosen Verbindungen wie z.B. posttraditionalen Gemeinschaften befriedigt. Jugendliche leben heute sehr verschiedene Beziehungsmodelle, und es ist eine entscheidende Entwicklungsaufgabe, Kompetenzen in den unterschiedlichen Bereichen der sozialen Beziehungen auszuprägen.
IV. Die Welt als Lern- und Bildungsraum – Abenteuer- und Erlebnispädagogik in Zeiten der Globalisierung
Komplexer werdende Beziehungsmuster gehen mit einer neuen Vielfalt und Unübersichtlichkeit einher. An die Stelle von Gewissheit, Vertrautheit, Begrenztheit und Kenntnis treten in einer globalisierten Gegenwart Ungewissheit, Fremdheit, Unbegrenztheit und Unkenntnis und damit auch die Notwendigkeit, mit diesen Erfahrungen umgehen zu müssen (vgl. Treml 2011, S. 200). Wie begegnet die Pädagogik diesen neuen Herausforderungen und Veränderungen?
Fragen von Globalisierung und deren Komplexität werden von verschiedenen Bildungs- und Lernansätzen bearbeitet. Inwiefern sich insbesondere die Erlebnispädagogik in diesem Themenfeld einbringen kann, wurde bisher kaum reflektiert. Erlebnispädagogik als „eine Vielfalt von handlungsorientierten Methoden in (sozial-)pädagogischen Arbeitsfeldern“ (Galuske 2012, S. 70) will in außergewöhnlichen Situationen mit Ernstcharakter Lernprozesse anregen, die alle Sinne ansprechen und vom Lernenden ausgehen. Die Lernenden sollen diese Bewährungssituationen kooperativ, ganzheitlich und handlungsorientiert bewältigen. Bei naturnahen (Bewegungs-)Aktivitäten wie Bergwandern, Klettern, Höhlenerkundungen, Kanutouren, Segeln, Expeditionen oder Orientierungstouren, aber auch in der Stadt findet die Erlebnispädagogik ihre Medien. Traditionell wenden sich erlebnispädagogische Ansätze gegen einseitig „verkopfte“ und stark formalisierte Lernarrangements. Sie betonen vielmehr die körperlich-sinnliche Verfasstheit des Menschen und die Notwendigkeit von Bewegung, Abenteuer, Wagnis und Risiko im Bildungsprozess.
4.1 Raumaneignung – Distanzen, Nähe und Grenzen erleben
Die Entgrenzung des Raumes durch neue Informationstechnologien und Transportmöglichkeiten hat das Verhältnis zum Raum verändert. Während alte Maßeinheiten und Entfernungsangaben (z.B. Fuß, Elle) noch auf die körperbezogene Raumaneignung verweisen, führt die hochtechnisierte Überwindung von räumlichen Distanzen zu einer veränderten Wahrnehmung von Nähe und Distanz.
Ein Gespür für Entfernungen lässt sich für Heranwachsende (wieder-)entdecken, indem sie diese nur mit ihrer eigenen Muskelkraft bewältigen. Das Wandern als zweckfreies Gehen über längere Strecken in der Natur, das Mountainbiking im Gelände oder das Kanufahren auf unendlich erscheinenden Wasserwegen ermöglichen leibgebundene Raumwahrnehmungen. Hier wird der Raum angeeignet – und zwar nicht beschleunigt und „zeitsparend“, sondern sinnlich erfahrend und „verzögert“ (vgl. Dörpinghaus 2005). Indem Wanderer, Kanuten oder Biker eine Beziehung zum (Natur-)Raum herstellen, konstruieren sie ihn relational, individuell und gesellschaftlich.
Im leib-sinnlichen Durchqueren von Landschaften, im Erreichen von Gipfeln in luftiger Höhe, von Flussmündungen oder Schutzhütten können Nähe und Distanz erfahren und gegebenenfalls relativiert werden. Die eigenen körperlichen, aber auch geografischen Grenzen, die Naturerlebnisse mit all ihren Hindernissen aufzeigen, eröffnen die Möglichkeit, Grenzen zu erleben, anzuerkennen oder zu überwinden. Hier entsteht ein Gefühl für Raum und auch für Welt. In Reflexionsprozessen kann dieses Gefühl in die Erfahrung kondensieren, dass der Mensch ein Teil der Natur und nicht deren Beherrscher oder Bezwinger ist. Die „Wahrnehmung des Mitseins auf der Erde“ (Meyer-Abich 1997, S. 145) kann unser Verhältnis zur Welt neu bestimmen. Mit der Domestizierung als Teil des komplexen Modernisierungsprozesses geht auch das Missverständnis einher, dass die Erde nichts weiter als der menschliche Lebensraum ist, in dem die anderen Arten sich einrichten müssen oder verschwinden sollen (ebd. S. 146). Verstehen wir Globalisierungsprozesse vom Standpunkt des Mitseins auf der Welt aus, so erscheinen die Folgen von globaler Umweltzerstörung, Raubbau an Ressourcen, Verschmutzung von Lebensräumen oder globaler Erwärmung umso dramatischer. Abenteuer- und erlebnispädagogische Settings bieten die Möglichkeit, im Erleben und Verstehen des Lokalen die Eingebundenheit in das Globale aufzuzeigen. Die Abhängigkeit des Hier vom Dort lässt sich erst erahnen, wenn Heranwachsende eine Vorstellung von der Bedeutung ihres unmittelbaren Lebensraumes erlangen können.
4.2 „Zonen des Innehaltens“ – Entschleunigung in der Tempogesellschaft
In der so genannten „Tempogesellschaft“ empfinden wir den Alltag als immer schneller und hektischer. Stress – in seiner negativen Bedeutung – wird schon von Kindern erlebt. Der gefühlte und reale Zeitdruck verändert das Zeitbewusstsein. Die soziale Beschleunigung bedarf daher mehr und mehr der Kompetenz, mit Zeitknappheit sowie der dadurch bedingten Unsicherheit umzugehen. Dazu gehört u.a. die Fähigkeit, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden und seinen Alltag zu strukturieren (vgl. Scheunpflug 2011, S. 209). Ebenso ist es wichtig, „Zonen des Innehaltens“ zu schaffen, die Muße und Entspannung ermöglichen (Böhnisch/Lenz/Schröer 2009, S. 104). Wandern, Segeln oder Paddeln als Aktivitäten in abenteuer- und erlebnispädagogischen Settings setzen auf die Erfahrung der „Entschleunigung“ als Kontrast zur oft allzu hektischen Alltagswelt. Während des Zurücklegens einer Wegstrecke im abenteuerlichen Unterwegssein (vgl. Becker 2005) lassen sich neue temporale Wahrnehmungsmuster ausbilden. Im Unterwegssein in der Natur können Kinder und Jugendliche die „Langsamkeit entdecken“ und die Augen wieder für scheinbar unbedeutende Details öffnen. Hier darf sich Lernen nicht an der Maxime von Effizienz orientieren, sondern muss das Beobachten, Experimentieren und Erleben als Element einer erfahrungsorientierten Pädagogik betonen. Lernen durch Erfahrung (John Dewey) eröffnet nach dem Prinzip des Ausprobierens (Trial and Error) auch die Freiheit, Fehler machen zu dürfen. Während bei eher kognitiv orientierten Lernmodellen die rein intellektuelle Beschäftigung mit einem Lerngegenstand im Mittelpunkt steht, geht es im Learning by Doing um die direkte praktische Auseinandersetzung mit einer Situation oder auch – für Lernprozesse besonders wichtig – mit einem Sachverhalt. Der oder die Heranwachsende ist in diesen Prozess der Auseinandersetzung als Person vielschichtig eingezogen: leib-nah, affektiv-unmittelbar, fantasierend und sprachlich. Durch die Reflexion und Einordnung der gemachten Erfahrungen in größere persönliche, soziale und politische Zusammenhänge werden neue Einsichten und Verhaltensweisen ermöglicht. Und das braucht Zeit! Vor dem Hintergrund von Globalisierung müssen Lernprinzipien der Abenteuer- und Erlebnispädagogik sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen delokalisierten und lokalen Handlungsmöglichkeiten, zwischen Komplexität und notwendiger Reduktion, zwischen Zukunftsorientierung und der Auseinandersetzung mit historisch bedingtem Zeitgeschehen auseinandersetzen.
4.3 Wissen ist Macht, Nichtwissen macht unsicher – mit Kontingenz umgehen
Unsere Wissensbestände wachsen unaufhörlich, ebenso wie die Bedeutung dieser Wissensbestände. Gleichzeitig aber sind wir immer weniger in der Lage, dieses Wissen zu beherrschen. Die Notwendigkeit des problemlösenden Denkens rückt dadurch ebenso in den Mittelpunkt wie ein kompetenter Umgang mit Offenheit bzw. Nichtwissen. Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann schlussfolgert in diesem Zusammenhang: „Es müsste eine Pädagogik geben, die den zu erziehenden Nachwuchs auf eine unbekannt bleibende Zukunft einstellt. Dabei geht es nicht nur um das gewohnte Nichtwissen, um Informationsbedarf und um die Einsicht, dass man mit wenig Information auskommen muss, weil mehr Informationen die kognitiven Kapazitäten rasch überfordern (…) könnten. Das auch, aber die wichtigere Einsicht ist, dass das Unbekanntsein der Zukunft eine Ressource ist, nämlich die Bedingung der Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen. Die Konsequenz wäre, dass das Lernen von Wissen weitgehend ersetzt werden müsste durch das Lernen des Entscheidens“ (2002, S. 198).
Ein wesentliches Element der Abenteuer- und Erlebnispädagogik ist das Erzeugen von ergebnisoffenen Entscheidungssituationen. Das Abenteuer beginnt, wenn bisherige, routinemäßig praktizierte Handlungsmuster erschüttert werden, weil die Wirklichkeit im Abenteuer nichts mit der Alltagswirklichkeit gemein hat. Eine Krise des „Denkens-wie-üblich“ (Schütz 1972) setzt ein, und Handlungsalternativen müssen her. In ergebnisoffenen Entscheidungssituationen muss (neu und anders) gehandelt werden. Aus pädagogischer Sicht birgt das Abenteuer mit seiner Außeralltäglichkeit Bildungspotenzial. Bildungsprozesse werden durch die Konfrontation mit „Problemen“ ausgelöst, für deren Bewältigung die Figuren des bisherigen Welt- und Selbstverhältnisses nicht mehr ausreichen. Durch die Auseinandersetzung mit herausfordernden Bewährungssituationen erfahren die Jugendlichen in abenteuerlichen Situationen etwas über sich selbst, und es „konstituiert sich das, was das Subjekt als Subjekt ausmacht – seine Autonomie“ (Becker 2005, S. 244).
Die Abenteuer- und Erlebnispädagogik bietet die Möglichkeit, zwischen der abstrakten Welt der Globalisierung und der konkreten Lernwelt von Individuen zu vermitteln. Der Mensch wird als „Nahbereichswesen“ bzw. „Kleinbereichswesen“ verstanden (vgl. Treml 2011, S. 195), welcher den Umgang mit den Globalisierungsfolgen erst erlernen muss. Denke global, handle lokal. Diese Maxime wird beispielsweise in Umweltprojekten umgesetzt, in denen sich die Kinder und Jugendlichen nicht nur inhaltlich mit der Problematik einer fortschreitenden Umweltzerstörung auseinandersetzen, sondern auch Möglichkeiten umweltgerechten Handelns erproben können. Was in Zeiten der Globalisierung längst delokalisiert und in vielen arbeitsteiligen Schritten ausdifferenziert wurde, wird im konkreten Projekt vor Ort zusammengeführt.
4.4 Sich selbst und andere erleben – Fremdheit und Vertrautheit in pädagogischen Begegnungen
„Vertrautheitserfahrungen werden immer mehr durch Fremdheitserfahrungen ersetzt und überlagert“ (Treml 2011, S. 199), denn unser Alltag wird im Zuge der Globalisierung multikulturell und multireligiös. Diese Entwicklung erfordert, den Umgang mit Fremdem zu erlernen und Wissen über verschiedene Lebensstile, Kulturen und Religionen zu erlangen. Kommunikationskompetenz erhält eine wachsende Bedeutung. Dazu gehört z.B. der differenzierte Umgang mit unterschiedlichen Sprachcodes: Sprachkompetenz und interkulturelle Kompetenz – auch verstanden als Sensibilität für interkulturelle Konflikte – werden wichtiger denn je.
Auch Abenteuer- und Erlebnispädagogik kann auf interkulturelles Lernen angelegt sein und die außerordentliche Vielfalt von Kultur betonen. Der Ausgangspunkt interkultureller Bildung muss in einer globalisierten Welt nicht mehr der Anspruch sein, den Anderen zu verstehen, sondern die Erkenntnis, dass der Andere different und nicht verstehbar ist (vgl. Wulf 2002, 2006). Davon ausgehend plädiert der Erziehungswissenschaftler Christoph Wulf für eine reflexive Anthropologie, die der Vielzahl normativer Menschenbilder weltweit gerecht wird. Basis einer interkulturellen Bildung und Erziehung in der Weltgesellschaft sei eine Anthropologie der Differenz. Gerade die Anerkennung von Unterschieden sollte Basis von interkultureller Begegnung und Bildung sein. Wulfs These hebt die Komplexität und Ausdifferenzierung einer globalisierten Welt hervor, in der eine Gleichheitsvorstellung eine Imagination bleiben muss. Abenteuer- und erlebnispädagogische Projekte können auch internationale Begegnungen und Aktivitäten fokussieren, indem sie konzeptionell international angelegt sind. Die Grundlage für ein Ausloten des Verhältnisses von Fremdheit und Vertrautheit wird in der Abenteuer- und Erlebnispädagogik auch dadurch gelegt, dass in den herausfordernden Situationen (z.B. im Abenteuer) das Eigene durch außeralltägliche Erfahrungen vertrauter wird. Das Abenteuer macht aufmerksam auf die besondere Wahrnehmung des eigenen Körpers und des Seins in Zeit und Raum. „Wer bin ich?“ – ist eine zentrale entwicklungspsychologische Fragestellung, die die Suche nach der eigenen Identität begleitet. Indem sich Jugendliche fremden Situationen aussetzen, Routinen durchbrechen, Krisen erfolgreich durchstehen, gewinnen sie Selbstgewissheit, werden sich selbst vertrauter. Das Unterwegssein im und außerhalb des eigenen Nahbereichs evoziert die Erfahrung der Fremdheit und des Fremdseins sowie der Vertrautheit und des Vertrautseins. Diese Erfahrung ist grundlegend, um das Verhältnis von Eigenem und Fremdem reflektieren zu können, um in interkulturellen Begegnungen kompetent zu interagieren.
V. Schlussfolgerungen
Die vier Felder, in denen die Bildungs- und Lernpotentiale der Abenteuer- und Erlebnispädagogik für eine globalisierte Welt dargelegt wurden, betonen die Konstruktion von Nicht-Alltäglichem. Andere Raum-, Zeit- und Körpererfahrungen werden gesucht, um ein Verhältnis zu Raum, Zeit und Körper herzustellen. Die Abenteuer- und Erlebnispädagogik schafft also Enklaven des Innehaltens und Ausprobierens. Am Konkreten wird das Abstrakte erlernt. Globalisierung als abstrakter, hochkomplexer Prozess kann hier nur in Teilaspekten begriffen werden, und dies auch nur dann, wenn im pädagogischen Rahmen Impulse zur Reflexion über den Zusammenhang des Lokalen mit dem Globalen gesetzt werden. Die Konstruktion einer konkreten (abenteuerlichen) Welt zum globalisierten Alltag bedeutet auch, dass dessen Dynamik draußen bleibt. „Als einer der Todfeinde von Bildung“ (Koller 2009, S. 183) ist z.B. der Prozess der Beschleunigung und der zeitlichen Verdichtung anzusehen. Bildung braucht Zeit – und natürlich auch Raum. Erst in den Momenten des Innehaltens, Ausprobierens und „Nachdenkens“ entstehen die Erfahrungsspielräume, die Lern- und Bildungsprozesse ermöglichen. Auch die vielfältigen und in ihrem Bildungsverständnis mitunter wenig reflektierten Ansätze der Abenteuer- und Erlebnispädagogik müssen sich mit der Frage auseinandersetzen, wie viel Freiräume sie den Kindern und Jugendlichen für wagnisreiche und ästhetische Erfahrungen schaffen. Spontan sein können, improvisieren dürfen, nicht perfekt sein müssen – diese Chancen eröffnen Jugendlichen wichtige Entwicklungsimpulse in einer rationalisierten, sich rapide globalisierenden Welt. Bildungs- und Entwicklungsprozesse müssen misslingen, wenn „in ihnen weder Elemente kritischer Reflexion noch Spuren von Suchbewegungen und Probierhandeln aufzuweisen sind“ (Marotzki 1988, S. 318). Das gilt auf individueller Ebene, aber auch im institutionellen Bereich.
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Autorenangaben:
Matthias D. Witte; Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik.
Robert Gräfe; Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaft.
[1] Dieser Beitrag ist die gekürzte Fassung des Artikels: Witte, M.D. (2012): Von der Welt lernen. Begegnungen erleben in einer globalisierten Gegenwart. In: erleben & lernen. Internationale Zeitschrift für handlungsorientiertes Lernen. 20. Jg., H. 5, S. 4-15.