- Ausgabe 1/2, 2007
Wir sind im Kinderhaus im Bereich „Ambulante Dienste“ als Sozialarbeiter mit Diplom und Fachhochschulabschluss tätig, in welchem die Angebote BEW/BWV, WG, ambulante Nachbetreuung sowie Einzelfall- und Familienhilfen angesiedelt sind. Das Diplom und die Fachhochschule erwähne ich nur deshalb, damit gleich klar wird, wie alt wir schon sind, denn wir gehören scheinbar zu einer aussterbenden Spezies. In Zukunft gibt es wohl nur noch Bachelor- und Master-Sozialpädagogen, wenn wir das richtig verstanden haben.
Einleitung:
Eigentlich war an dieser Stelle die Präsentation des Ergebnisses einer Evaluation gedacht, die wir per verschicktem Fragebogen durchzuführen gedachten. Wir haben aus dem Archiv die letzten Anschriften von ehemals betreuten Jugendlichen herausgesucht und einen umfangreichen, extra auf dieses Tagungsthema zugeschnittenen Fragebogen an sie verschickt. Leider scheint der Bogen zu umfangreich geworden zu sein. Auf jeden Fall ist der Rücklauf erschreckend gering und somit nicht auswertbar. Andere Fragebögen, die wir in den vergangenen Jahren verschickt hatten, teilten dieses Schicksal nicht, waren aber auch nicht so detailliert und umfangreich wie der diesjährige. Wir überlegen, die Jugendlichen jetzt direkt zu kontaktieren, um den Bogen zusammen oder per Interview abzuarbeiten.
Der Grund, eine Evaluation durchzuführen und per statistischer Auswertung zu präsentieren, lag natürlich nicht nur in der Beauftragung der freien Träger der Jugendhilfe durch die Qualitätssicherungsvorgaben des Berliner Senates, ihre Arbeit und ihre Erfolge zu evaluieren, sondern in der Hoffnung zweifelsfrei nachweisen zu können, was wir uns ohnehin schon die ganze Zeit gedacht haben. Dies gelingt uns nun am heutigen Tage so nicht.
Andererseits gibt es ja den allseits bekannten Spruch: „Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast!“ Und zu der Hoffnung im Leben sichere Erkenntnisse gewinnen zu können, die unabhängig vom Untersuchenden einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben können, sei ein Ausspruch des Physikers Nick Herbert genannt, den man in etwa so zusammenfassen könnte: „Das bestgehütete Geheimnis der Wissenschaft ist, dass es sie nicht gibt!“. Dabei spielt er auf die Definition an, die Wissenschaftler selber für die wissenschaftliche Beweisführung aufgestellt haben und bei denen immer und immer wieder einer stört und das schöne Ergebnis relativ macht, nämlich der wir, die Menschen, denen ihr Leben lang nichts als eine subjektive Sicht bleibt, die mal mehr und mal weniger mit den subjektiven Sichtweisen unserer Mitmenschen übereinstimmen. Ausgangspunkt war hier die Quantentheorie, die den Abschied von der „wirklichen Wirklichkeit“ in der Physik eingeläutet hat und von der Nils Bohr dramatisch sagt: „Wer von der Quantentheorie nicht entsetzt ist, der hat sie nicht verstanden.“ Das Ergebnis der Vorgänge um die Quantentheorie ist, das vom suchenden Menschen oder Wissenschaftler nicht gefunden wird, was in der wirklichen Wirklichkeit vorhanden ist, sondern man findet, was man sucht. Sucht man anschließend etwas, was dem Vorangegangenen widerspricht, also das Gegenteil, so findet man es oft genug ebenso.
Wenn also eine schöne Evaluation als Ergebnis wohl auch nur das Abbilden würde, was wir von ihr abgebildet haben wollen, dann können wir auch gleich formulieren was wir in unserer Arbeit erleben, fühlen, beobachten, glauben oder vermuten. Denn dies ist dann zwar auch subjektiv, aber es ist erlebtes und gelebtes Leben, mithin also wenigstens für die ein bis zwei Beteiligten eine Wahrheit. Und ob es gesellschaftlich geteilte Wirklichkeit oder Wahrheit wird, hängt davon ab, wie viele von Ihnen und wie viele Menschen in unserem Land diese Beschreibung als Wahrheit anerkennen, weil sie eventuell die gleichen Beobachtungen machen oder sich zumindest ähnliche Berichte in Gesprächen oder in der Literatur und der Presse häufen.
Wir erzählen von uns:
Der Bereich „Ambulante Dienste“ wurde im Jahre 2000, als Reaktion auf die veränderten Qualitätsstandars in Berlin im Bereich „Betreutes Einzelwohnen – BEW“, „Jugendwohngruppen – WG“ und ambulante Hilfen (hauptsächlich §§ 30,31), eingerichtet. Anfänglich haben wir hauptsächlich Jugendliche betreut, die aus unseren Regelgruppen kamen und die wir im BEW auf ein Leben als selbstständiger Erwachsener vorbereitet haben. Das Alter lag bei 18 bis 20 Jahren und der Verbleib im BEW bei meist über 2 Jahren. Die BEW-Wohnungen haben die jungen Menschen selber auf dem öffentlichen Wohnungsmarkt ausgesucht, wobei auch hier schon Kostenstandards beachtet wurden. In den Wohnungen stellten wir den Jugendlichen einen telefonischen Festnetzanschluss zur Verfügung, wobei wir die Anschlusskosten und die Grundgebühren, sowie 5.- € Gesprächseinheiten übernahmen. Was darüber lag, wurde über die Rechnung der Telekom ermittelt und dem Jugendlichen in Rechnung gestellt.
Die Wohnungsbaugesellschaften lernten uns kennen und merkten bald, dass wir ihnen ruhige Mieter und sichere Mietüberweisungen boten. Die meisten der Jugendlichen waren tagsüber in der Schule oder besuchten eine Ausbildung. Einige waren kurz vor der Aufnahme einer Arbeit.
Probleme gab es natürlich auch. Drogen, Selbstverletzung, Bulimie, Klauen usw. gab es auch damals schon. Allerdings mit einem Unterschied. Viele von den Jugendlichen, die ein Problem hatten oder problematisches Verhalten zeigten, gingen trotzdem zur Schule oder in eine Ausbildung, die sie meist auch halten konnten. Ihre intellektuellen Möglichkeiten ließen zumeist die Hoffnung zu, was sich bei späteren Kontaktaufnahmen bewahrheitete, dass sie sich in unsere Gesellschaft würden integrieren können.
Heutzutage glauben wir Folgendes für unser persönliches Erleben feststellen zu können:
- Die Jugendlichen kommen im Alter von 16 bis 17 Jahren ins BEW.
- Die mittlere Verweildauer im BEW ist auf etwas weniger als 1 Jahr gesunken.
- Der Anteil der Jugendlichen, bei denen keine Hoffnung auf zukünftige finanzielle Unabhängigkeit von gesellschaftlicher Zuwendung besteht, nimmt drastisch zu.
- Der Anteil der Delinquenz, einhergehend mit mangelndem Unrechtsbewusstsein und gleichzeitiger Glorifizierung von Delinquenz „Gangsta-tum“, nimmt deutlich zu.
- Der Anteil von Jugendlichen mit minderer geistiger Leistungsfähigkeit und gleichzeitiger psychischer Erkrankung, die vermutlich sehr lange oder lebenslang auf staatliche Hilfe und Unterstützung angewiesen sind, nimmt sehr deutlich zu.
- Wir entlassen niemanden mehr, der kurz vor der Aufnahme einer Arbeit steht.
- Wir entlassen kaum jemanden, der sich in einer Ausbildung befindet.
- Wir entlassen kaum noch Schüler.
- Anteil der Schüler mit Chance auf ein Abitur oder Fachabitur tendiert gegen Null.
- Zum Zeitpunkt des BEW-Endes bahnen sich Maßnahmen an, die der Jugendliche wahrnehmen kann, die aber nach dem Ende der Hilfe oft abgebrochen werden. Zum Zeitpunkt des Hilfeendes scheint einiges in Ordnung, es fehlt aber in der Wirkung der erbrachten Hilfen an Nachhaltigkeit.
- Das Angebot eines Festnetztelefones mussten wir nach vier Jahren aufgeben. Die Schulden auf den Apparaten gingen ins Unermessliche. Die Jugendlichen fanden immer neue Tricks, um sich über eingerichtete Nutzungseinschränkungen zur Kostenkontrolle hinwegzusetzen.
- Wir haben zunehmend mit Klagen der Wohnungsbaugesellschaften über unsere Jugendlichen zu tun. Die Zahl der Vorfälle rund um die BEW-Wohnungen hat zugenommen. Es gibt zeitweise einzelne MitarbeiterInnen von Kundenzentren der Wohnungsbaugesellschaften, die uns keine Wohnungen vermieten wollen.
- Schwangere Mädchen befinden sich kaum mehr in der Regelgruppe oder in einer Mutter-Kind-Gruppe, sondern tauchen im BEW oder in ambulanter Betreuung auf. Dieser Umstand hat damit zu tun, dass die Jugendlichen immer früher die Regelgruppen Richtung BEW und das BEW in Richtung „Ambulante Nachbetreuung“ verlassen.
- Subjektiv glauben wir festzustellen, dass das Alter für die erste Schwangerschaft immer weiter nach unten geht.
Viele der Krisen, die die Jugendlichen durchliefen, konnten wir während der laufenden Betreuung auffangen. Schulwechsel, Aufnahme einer Ausbildung oder auch die Aussicht auf einen Job sind nicht nur Lebenssituationen mit einer positiven Aussicht. Sie sind auch Schwellensituationen, die den jungen Menschen Angst vor dem Neuen und vor neuen Mitmenschen und Anforderungen machten und machen. Diese Lebensabschnitte haben regelmäßig unsere stabilisierende und ermunternde Unterstützung erfordert. Diese Phasen müssen junge Menschen ohne funktionierende Herkunftsfamilie und mit Heimkarriere auch heute noch bewältigen. Aber sie müssen dann schon oft auf die Unterstützung eines Helfers verzichten, wobei die Möglichkeit des Scheiterns scheinbar häufiger eintritt.
Nachdem das BEW als Hilfe beendet wird, bekommen wir häufig die Möglichkeit, noch drei bis sechs Monate Nachbetreuung anbieten zu können. Ab dem Moment der tatsächlichen Eigenverantwortungsübernahme in allen Bereichen durch den Jugendlichen, gibt der Betreuer oder die Betreuerin alle Zuständigkeit und Verantwortung an den jungen Menschen ab und verliert die Möglichkeit, eigeninitiierten Einfluss bzw. Kontrolle auf Schul- und Ausbildungsgeschehen, Zustand der Wohnung, Finanzen usw. zu nehmen.
Unserem Erleben nach sind die Begründungen für ein Betreuungsende inzwischen unberechenbar und willkürlich geworden. Mal wird die Hilfe beendet, weil alles so gut läuft und mal, weil alles so problematisch ist. Die Jugendhilfe lässt die Jugendlichen immer früher im Stich, provoziert damit erhebliches Krisenpotential, was den Jugendlichen dann wieder als Begründung für ein noch schnelleres Hilfeende vorgehalten wird. Dies ist die negative Variante.
Aber auch für die positive Variante haben wir einige Kritikpunkte gesammelt. Im positiven Fall, wird der Jugendliche nach erfolgreicher Übung von Fähigkeiten oder böswillig ausgedrückt „Dressur“, aus der Hilfe entlassen. Wenn er Fähigkeiten in der praktischen Ausführung von Tätigkeiten erfolgreich erlernt hat, wie z.B. Geldeinteilung, Einkauf, Sauberkeit, Tagesstruktur, und so weiter, gilt er als fähig, sein Leben nun selbst und ohne weitere Unterstützung bestreiten zu können. Diese simple Sicht auf die Situation ist unserer Meinung nach ein Grund dafür, warum zwar einiges zum Hilfeende gut aussieht, aber in der Nachhaltigkeit die Hilfen so sehr herabsetzt, dass unsere Gesellschaft erhebliche Kosten entstehen dürften, die vermutlich die Einsparungen in der Jugendhilfe um ein Vielfaches übersteigen werden.
Dies betrifft nicht nur die heiß diskutierten Auswirkungen auf steigende oder nicht steigende Jugendkriminalität, sondern vor allem die wenig beachtete Zunahme psychischer Erkrankungen, die nicht nur das Gesundheitssystem belasten (welches ja schon recht erfolgreich nach Möglichkeiten der Leistungsverweigerung bzw. Leistungseinschränkung und Entgeltsteigerung sucht), sondern vorher die Jobagenturen und Arbeitsämter beschäftigt und finanziell belastet.
Von der rapiden Abnahme von Mitmenschen, die grundlegende Fähigkeiten zur Gestaltung und dem Erhalt einer Demokratie mitbringen, wie der Fähigkeit, sich Informationen zu beschaffen, sie zu verstehen und eine eigene Entscheidung für oder gegen eine Partei zu treffen, ganz zu schweigen.
Haben wir früher Jugendliche oft erst mit 19 oder 20 ins BEW bekommen, erleben wir heute kaum 19- oder 20-Jährige in der ambulanten Nachbetreuung, geschweige denn im BEW (im BEW in den letzten zwei Jahren keinen, wenn wir uns recht erinnern).
Waren im Jahre 2000 von den Betreuungen, die wir in unserem Bereich durchführten, 90% BEWs und 10% ambulante Nachbetreuungen von BEWs, hat sich dies inzwischen auf ein 50-50 Verhältnis verändert. Hier zeigt sich die gekürzte BEW-Dauer und der schnelle Wechsel in eine ambulante Nachbetreuung. Die Einzelfall- und Familienhilfen, unabhängig vom BEW-Bereich, haben deutlich zugenommen. Dies führen wir auf die erhöhte Kostenattraktivität ambulanter Angebote gegenüber stationären Angeboten genauso zurück, wie auf unseren zunehmenden Bekanntheitsgrad in diesem Tätigkeitsfeld.
Es scheint uns feststellbar, dass Menschen, die ohne eine funktionierende eigene Familie auf die Heimerziehung angewiesen sind, deren Familienersatz also ein Team von sich abwechselnden Erzieherinnen und Erziehern und anderen Gruppenkindern und -jugendlichen in einer Regelgruppe sind, dass sie diesen „Familienersatzrahmen“ auch noch immer früher verlieren, was die heutigen entwicklungspsychologischen Erkenntnisse konterkariert und obendrein im krassen Gegensatz zur gesellschaftlichen Entwicklung der so genannten „Normalen“ steht, die nämlich immer länger im elterlichen Haushalt verbleiben.
Interessant zu erwähnen ist hier, dass gerade die gesellschaftlichen Veränderungen hin zu finanzieller Unsicherheit, Ausbildungs- und Arbeitsplatzknappheit usw. dies in den sogenannt „normalen“ Familien bewirken, während die Wirkung auf die „Benachteiligten“ ins genaue Gegenteil schlägt. Die Untersuchungen hierfür sind im „ISA-Jahrbuch zur sozialen Arbeit 2005“ zu finden, welches wir nun weiter anführen und teilweise zitieren und in welchem unter anderem ein Ergebnis des Mikrozensus vom Statistischen Bundesamt 2005 (2005-15-0150) enthalten ist:
Es wurde untersucht, wie lange ledige Frauen und Männer in der Bundesrepublik im elterlichen Haushalt leben.
Im Alter von 20 Jahren lebten im März 2004 noch mehr als 80% der Männer und ca. 70% der Frauen im elterlichen Haushalt. Für die 22-Jährigen ergab sich, dass rund 80% der Männer und über 50% der Frauen bei ihren Eltern leben. Selbst bei den 30-Jährigen leben noch 30% der Männer im elterlichen Haushalt, bei den Frauen sind es nur noch 10%. Die Frauen erreichen die statistische Gegen-Null-Tendenz mit dem 36-igsten, die Männer erst mit dem 45-igsten Lebensjahr.
Die folgende Passage ist dem Jahrbuch 2005 des ISA wortwörtlich entnommen. (Zitat von den Seiten 156/157:)
Einer Studie von Vascovics zufolge nehmen junge Erwachsene neben Wohnraum und finanzieller Unterstützung auch immaterielle Hilfen ihrer Eltern in Anspruch. Dazu zählen Arbeits- und Dienstleistungen wie etwa Wäsche waschen, Einkaufen oder Reparaturarbeiten (Vascovics 1996, S.325). Hinzu kommt der emotionale Rückhalt den Familien ihren volljährigen Kindern gewähren etwa durch gemeinsame Beratungen in Krisen- oder Entscheidungssituationen. …
In Konsequenz für die Hilfen zur Erziehung bedeutet dies, dass wenn bereits „normale“ junge Volljährige beim Übergang in den Erwachsenenstatus in solch hohem Maße auf Unterstützung angewiesen sind, wie viel mehr ist dies bei jungen Erwachsenen der Fall, die infolge ihrer sozialen Erfahrungen, ihrer psychischen Situation, ihrer Bildungserfahrungen und ihrer eingeschränkten sozialen Unterstützungspotentiale Bewältigungsprobleme noch intensiver erfahren? (Vgl. Merchel 2003, S. 80 f.) …
Reformbestrebungen wie die des KEG verlangen durch die deutliche Eingrenzung der Hilfen für junge Volljährige von jungen Menschen mit schlechten Startchancen, denen kein entlastendes Familiensystem zur Seite steht mit 18 bzw. 21 Jahren Selbstständigkeit und Reife, die bereits von jungen Menschen, die in „normalen“ Familien aufgewachsen sind, in diesem Alter nicht erfüllt werden. …
Die Folge einer Begrenzung der Hilfen für junge Volljährige wäre deshalb eine weitere Verstärkung sozialer Ungleichheit. Wer hat dem wird gegeben, wer’s nötig hat geht leer aus. Wenn jungen Volljährigen heute bei den entscheidenden Schritten des Erwachsenwerdens die notwendige Unterstützung entzogen wird, wird Ihnen gleichsam die Möglichkeit genommen morgen in einer alternden Gesellschaft eine tragende Rolle zu übernehmen: Als FacharbeiterInnen, als Pflegekräfte, als verantwortungsvolle Eltern und als engagierte BürgerInnen. …
Fazit
Reformvorhaben zur Einschränkung der Hilfen für junge Volljährige wie die des KEG sind in zentralen Bereichen fachlich nicht fundiert und problematisch, da sie in Konsequenz zu einer weiteren Verstärkung sozialer Ungleichheit beitragen und zu Verschiebeeffekten in den Bereich der Leistungen des SGB XII und des Jugendstrafsystems führen. In einigen Bereichen konterkarieren sie die Absichten, die mit Einführung des SGB VIII verbunden waren. Die Art und Weise der Argumentation gibt aber auch deutliche Hinweise auf die Legitimationspflicht, in der die Kinder- und Jugendhilfe aktuell steht.
Offene Fragen und Reformnotwendigkeiten in Angriff zu nehmen, ist hilfreich und notwendig. Dies jedoch ausschließlich unter fiskalischen Gesichtspunkten zu tun, ohne fachliche Fragen und die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen zu berücksichtigen, diskreditiert diese Bestrebungen insgesamt…“.
(KEG: Gesetzesvorschlag zur Entlastung der Kommunen im sozialen Bereich, bzw. einfach Kosten-entlastungs-gesetz)
http://de.wikipedia.org/wiki/Stufenmodell_der_psychosozialen_Entwicklung#Stufe_5:_Identit.C3.A4t_vs._Identit.C3.A4tsdiffusion_.2813_bis_18_Jahre.29:
Stufe 5: Identität vs. Identitätsdiffusion (13 bis 18 Jahre):
Identität meint, dass man weiß, wer man ist und wie man in diese Gesellschaft passt. Aufgabe des Jugendlichen ist es, all sein Wissen über sich und die Welt zusammenzufügen und ein Selbstbild zu formen, das für ihn und die Gemeinschaft gut ist. Seine soziale Rolle gilt es zu finden. Ist eine Rolle zu strikt, die Identität damit zu stark, kann das zu Intoleranz führen. Schafft der Jugendliche es nicht, seine Rolle in der Gesellschaft und seine Identiät zu finden, führt das nach Erikson zu Zurückweisung. Menschen mit dieser Neigung ziehen sich von der Gesellschaft zurück und schließen sich u.U. Gruppen an, die ihnen eine gemeinsame Identität anbieten. Wird dieser Konflikt erfolgreich ausbalanciert, so mündet das in die Fähigkeit der Treue. Obwohl die Gesellschaft nicht perfekt ist, kann man in ihr leben und seinen Beitrag leisten, sie zu verbessern. (Das gleiche gilt für zwischenmenschliche Beziehungen.)
Stufe 6: Intimität vs. Isolierung (20 bis 30 Jahre):
Aufgabe dieser Entwicklungsstufe ist es, ein gewisses Maß an Intimität zu erreichen, anstatt isoliert zu bleiben. Die Identitäten sind gefestigt und es stehen sich zwei unabhängige Egos gegenüber. Es gibt viele Dinge im modernen Leben, die dem Aufbau von Intimität entgegen stehen (z. B. Betonung der Karriere, großstädtisches Leben, die zunehmende Mobilität). Wird zu wenig Wert auf den Aufbau intimer Beziehungen (was auch Freunde etc. mit einbezieht) gelegt, kann das nach Erikson zur Exklusivität führen, was heißt, sich von Freundschaften, Liebe und Gemeinschaften zu isolieren. Wird diese Stufe erfolgreich gemeistert, ist der junge Erwachsene fähig zur Liebe. Damit meint Erikson die Fähigkeit, Unterschiede und Widersprüche in den Hintergrund treten zu lassen.
Eltern oder ähnliche Bezüge (wie also Heimerziehung) sind für junge Menschen in der Phase der Schule oder Berufsausbildung eine Unterstützung, wenn Unterrichtsstoff durch den Lehrer nicht ausreichend erklärt bzw. vermittelt werden kann. Wer die Möglichkeit hat, in seinem Zuhause bei Schule und Ausbildung unterstützt und angeregt zu werden, der hat ungleich höhere Chancen, seinen Weg erfolgreich zu beenden, als Jugendliche, die ganz auf sich allein gestellt sind. Jugendliche in dieser Phase ihres Lebens auf sich alleine zu stellen, sie in die erzwungene Selbstständigkeit zu entlassen, bedeutet ganz klar die Verstärkung sozialer Ungleichheit und verhindert Chancengleichheit nicht nur in der Bildung. Die Pubertät ist auch ein Prozess der Loslösung vom Elternhaus. Dies ist sogar eine zentrale Aufgabe in dieser Lebensphase. Aber und dies ist überhaupt nicht widersprüchlich, dabei braucht der Jugendliche die Unterstützung seiner Bezugspersonen umso verlässlicher. Nicht nur die berufliche Selbstfindung muss in dieser Zeit bewältigt werden. Es stehen zahlreiche andere Aufgaben an:
- Neue und reifere Beziehungen zu Altersgenossen beiderlei Geschlechts aufbauen
- Übernahme der männlichen oder weiblichen Geschlechtsrolle
- Akzeptieren der eigenen körperlichen Erscheinung und effektive Nutzung des Körpers
- Emotionale Unabhängigkeit von den Eltern und von anderen Erwachsenen
- Vorbereitung auf Ehe und Familienleben
- Vorbereitung auf eine berufliche Karriere
- Werte und ein ethisches System erlangen, das als Leitfaden für das Verhalten dient – Entwicklung einer Ideologie
- Sozial verantwortliches Verhalten erstreben und erreichen
Dabei braucht es einen Trainer oder Mentor, eine Person, die den Jugendlichen los- und sich erproben lassen kann, aber auch mit Rat und Tat verfügbar ist, wenn es Probleme gibt. Niemand lernt zu laufen ohne hinzufallen. Es gibt Phasen der Entmutigung und des Rückzuges, die ermutigende Unterstützung erfordern. Wer Schwimmen lernen soll, den sollte man nicht einfach ins Becken werfen. Er wird vielleicht Schwimmen lernen, aber das Wasser scheuen. Das Wasser scheuen, weil man eine beängstigende Erfahrung gemacht hat. Und unverhältnismäßige Ängstlichkeit sucht nach Angstbewältigungsstrategien. Man braucht etwas, was einem das Gefühl von Stärke und Schutz vor der Angst bietet. Die Ergebnisse dieser Suche sehen wir Tag für Tag in unserer Umgebung. Hinter einem halbnackten Muskelmann mit Kampfhund, stehen Berge von Lebens- und Beziehungsangst. Und genau diese Mischung macht ihn gefährlich, oft genug tödlich gefährlich. Genauso kann die Angst in einen Kampf gegen sich selbst umschlagen. Alkoholismus, Selbstverletzung, psychische Krankheiten können die Folge sein.
Ich war versucht zu sagen, dass es zwischen diesen beiden Polen eine endlose Klaviatur von Graustufen gäbe. Dies stimmt nicht, da es sich hier nicht um gegensätzliche Pole handelt. Im Gegenteil. Sie liegen beide auf dem gleichen Ende der Skala der Ängstlichkeit und ihrer unadäquaten Bewältigung. Beide haben das enormste Zerstörungspotential. Personen dieser Gruppe können auch leicht die Stoßrichtung ihrer Strategie ändern und innerhalb der Bewältigungsarten schwanken. Gewalttätigkeit gegen andere und gleichzeitiger Alkoholismus sind ein Beispiel dafür.
Provokant philosophiere ich darüber, ob Rechtsradikalismus tatsächlich eine Meinung ist oder nicht doch eher ein psychisches Krankheitsbild?
Aber zurück zur Relevanz, psychologische Erkenntnisse verstärkt in unserer Arbeit berücksichtigen zu müssen: Während wir es zunehmend mit psychischen Erkrankungen jedweder Couleur bei den Leistungsempfängern zu tun haben, wächst das Wissen um diese Erkrankungen und den angemessenen Umgang damit, bei den Leistungsgewährern und Leistungserbringern scheinbar nicht im gleichen Tempo mit. Diagnosen von Psychologen und Psychiatern werden mitunter nicht verstanden, nicht ernst genommen oder übergangen und werden vielleicht auch mal aus Kostengründen in ihrer Aussage, Empfehlung oder Konsequenz nicht berücksichtigt. Daraus könnten Fehlunterbringungen resultieren, die anfänglich nicht als falsch erkannt würden, da nur unterstützende zusätzliche Hilfen fehlten, deren Fehlen sich aber am Ende der Hilfen, nämlich im BEW oder der ambulanten Nachbetreuung um so deutlicher zeigten. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Was in einer stark stützend agierenden Regelheimerziehung nicht deutlich wird, kann sich in einer, mit ungleich mehr Freiheit ausgestatteten Hilfeform, ganz unverstellt zeigen.
Da diese Ausführungen das Thema nicht abschließend behandeln können, beenden wir den Tiefgang mit Betrachtung auf das Einzelne und kehren zur Sicht auf das Ganze zurück, indem wir noch einmal übersichtlich zusammenfassen, aber mit neuen Worten ausführen.
Es ist ja ein bekanntes Dilemma in der Politik, dass auf der Suche nach dem eigenen Vorteil und der positiven Selbstdarstellung, kurzfristige Erfolge den langfristigen Erfolgen vorgezogen werden. So müssen innerhalb einer Legislaturperiode eingeleitete Kursänderungen und Maßnahmen augenwischende Erfolge aufweisen, um wiedergewählt zu werden. Dass wir inzwischen in einem System leben, in dem wir tiefgreifende Veränderungen brauchen, wird zwar wahrgenommen, aber als unlösbar hingenommen.
So ist auch die Entwicklung in der Jugendhilfe im Allgemeinen, und im BEW im speziellen zu sehen. Die Jugendämter stehen im Zwang, Kosten zu sparen, was sie an die Jugendhilfeträger in Form von kontinuierlich kürzer werdenden Hilfen weitergeben. Hinzu kommen immer problembelastetere Jugendliche mit immer geringeren positiven Fähigkeiten, die immer weniger Zeit bekommen, sich zu entwickeln und zu stabilisieren.
Die Crux an der Sache ist nur leider, dass die Gesellschaft zwar kurzfristig Geld gespart hat, langfristig die Jugendlichen aber nicht selbstständig werden (oder werden können) und die Sozialsysteme der Gesellschaft im schlimmsten Fall ein Leben lang in Anspruch nehmen müssen. In diesem Zusammenhang nennen wir nicht nur das ALG II, sondern auch Gefängnis (bei delinquenten Jugendlichen oder Schuldnern), Psychiatrie (oder andere Belastungen der Krankenkassen), Hilfen nach dem BSHG oder das Fehlen des Einzahlens in die Rentenkassen.
Hier wäre dringend ein Umdenken vonnöten, um langfristig Geld zu sparen. Eine etwas längere Jugendhilfemaßnahme, respektive ein Begleiten der Jugendlichen in ihren ersten Krisensituationen im selbstständigen Leben (z.B. Aufnahme einer Ausbildung oder eines Berufes), würde der Gesellschaft kurzfristig mehr Kosten verursachen, langfristig aber große Summen einsparen.
Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft nicht allein das Eintrittsalter ins BEW oder die ambulante Betreuung, sondern die Verweildauer in der Zweierbetreuung. Wir leisten hauptsächlich Beziehungsarbeit. Ohne eine Beziehung werden wir den Jugendlichen keine Ratschläge geben können, keine persönlichen Gespräche führen und nicht an ihrer Entwicklung teilhaben, geschweige denn Einfluss nehmen können. Ohne Beziehung ist eine Betreuung ausschließlich ein „Ich-und-Ich“, aber niemals ein „Wir“. Zusätzlich ist die Wirkung der besprochenen Dinge und trainierten Eigenschaften ohne tragfähige Beziehung nicht nachhaltig.
Um aber eine Beziehung aufbauen zu können, benötigen beide (Betreuter und Betreuer) Zeit. Beziehungen müssen wachsen, gemeinsam durch Krisen gehen und dadurch tragfähig werden. Es ist also fatal, schon am Anfang der Hilfe zu wissen, dass die Hilfe bereits in einem halben Jahr beendet wird. Oder anders ausgedrückt wird keine tragfähige (höchstens eine oberflächliche) Beziehung entstehen, wenn der Jugendliche schon vor dem Beginn der Hilfe deren Ende vor Augen hat.
In der Realität reicht die Zeit in den Betreuungen oftmals nur noch für das Antrainieren von Grundvoraussetzungen, wie Geldeinteilen, Wohnung sauber halten oder Einkaufen gehen. Diese Bereiche werden vom Jugendamt oft abgefragt, sind aber meistens nur Symptome von tiefer liegenden Problemfeldern, die psychologischer Natur sind. Wir sind also teilweise gezwungen, ausschließlich an den Symptomen zu arbeiten und haben nicht mehr die Zeit, an die Wurzeln zu gehen und nach den Ursachen der Schwächen zu schauen. Das gleicht zunehmend einer Dressur, ist reines Training und in seiner Nachhaltigkeit stark beschränkt.
BEW und ambulante Betreuungen sind keine Durchgangsstationen im Leben der Jugendlichen, sondern beinhalten entscheidende Krisen- und Schwellensituationen, die in Ruhe begleitet werden müssen, ohne spürbaren Zeitdruck auf Seiten der Jugendlichen.
Wir glauben zu beobachten, dass längere Hilfen erfolgreicher sind. Je kürzer die Verweildauer im Verselbstständigungsbereich, desto öfter hören wir im Anschluss an die Hilfe von abgebrochenen Ausbildungen, von Räumungsklagen, von Alkohol- und Drogenproblemen; dies aber meistens nur über Dritte, da der Kontakt zu den ehemaligen Jugendlichen dann in der Regel abbricht. Umgekehrt sind wir nach einer langfristigen Hilfe oft noch im losen Kontakt zu den Jugendlichen, die einem von ihrem eigenen Leben berichten, von ihrer Ausbildung, die geschafft wurde, von ihren langfristigen Partnerschaften, von ihren Kindern.
Wir wünschen uns Rahmenbedingungen, in denen wir die Zeit bekommen, unsere Arbeit vernünftig erledigen zu können. Dazu gehören lösbare Aufträge, ausreichend Zeit und eine gute Vorarbeit. Wir dürfen unsere Kinder und Jugendlichen nicht im Stich lassen, wenn sie durch Krisen gehen, und wir dürfen sie nicht alleine lassen, wenn sie mal keine offensichtliche Krise haben. Wir müssen den Fokus weiterhin auf Beziehungsarbeit legen, um Selbstheilungskräfte bei den Jugendlichen mobilisieren zu können. Wir müssen sie begleiten dürfen, bis sie „stabil“ sind und Fähigkeiten erworben haben, die es ihnen zum einen ermöglichen, Selbstreflexion zu betreiben, und zum anderen, sich selbst zu gestalten. Dann werden sie in der Lage sein, ihr Leben in die Hand zu nehmen, Verantwortung zu tragen, Wege auszutesten und auch korrigieren zu können. Sie werden selbstständig sein. Und somit nicht zuletzt der Gemeinschaft nicht mehr auf der Tasche liegen und sogar im Gegenteil dazu ihren Beitrag zu unserer Gesellschaft leisten können.
Nur um es noch einmal zu betonen: Es ist derzeit nicht so, dass es keine erfolgreichen Hilfen mit ausreichend zur Verfügung stehender Zeit gibt. Diese Fälle werden lediglich zunehmend zu Ausnahmen, wobei sie vor einigen Jahren noch eher die Regel waren. Wir beobachten die Tendenz, dass zunehmend mehr Hilfen dadurch sinnlos werden, dass sie zu früh starten, zu früh enden und / oder zu kurz währen. Es ist eine besorgniserregende Entwicklung, die wir in unserem Umfeld wahrnehmen und auf die wir aufmerksam machen wollen, in der Hoffnung, ein sinkendes Boot vor dem Untergang retten zu können.
Wir wünschen uns ein Umdenken unserer Gesellschaft, so dass unsere Wünsche keine Utopie bleiben. Unsere Kinder sind unsere Zukunft, bei der wir am wenigsten sparen sollten.
Zum Schluss möchte ich noch einen kleine Textpassage vorlesen, die natürlich sofort als Kind ihrer Zeit zu erkennen sein wird, in welcher ich aber doch einiges Wiederkehren sehe, was wir bereits überwunden zu haben glauben oder glaubten.
Der Text ist einem Aufsatz von Renate Oetken und Peter Muggelberg entnommen, der sich mit Otto Rühle auseinandersetzt. Während die beiden ersteren mir gänzlich unbekannt sind, kann ich zu Otto Rühle kurz etwas sagen. Otto Rühle wurde 1874 geboren, wurde Lehrer, erhielt 1896 Berufsverbot und arbeitete als freier Redakteur und Wanderlehrer weiter. Vor dem ersten Weltkrieg wurde er ein bedeutender Schulpolitiker der linken SPD und wurde 1912 sogar Angehöriger des Reichstags als Abgeordneter. Er stimmte mit Karl Liebknecht gegen die Kriegskredite. 1918 war er Mitbegründer der KPD, die ihn 1920 wegen „anarchistischer Ansichten“ ausschloss. In den Folgejahren versuchte er sich, zusammen mit seiner Frau Alice Rühle-Gerstel, an einer Synthese von Marxismus und Individualpsychologie.
Von 1924 bis 1926 versuchten beide, proletarische Erziehungsgemeinschaften und selbstverwaltete Jugendgruppen ins Leben zu rufen. Sie gaben die Zeitschriften „Am anderen Ufer“ und „Das proletarische Kind“ heraus. 1933 Emigration nach Prag, 1936 nach Mexico, wo er 1943 im Alter von 69 Jahren starb, seine Frau beging Selbstmord.
Zitat: Die Seele des proletarischen Kindes
Nach Rühle ist das Milieu, in dem ein Kind aufwächst, stark prägend für seinen Charakter. Schon am äußeren Auftreten (Blick, Sprache, Körperhaltung) ist das Kind der proletarischen Klasse zu erkennen. Seine kulturelle Benachteiligung gegenüber der besitzenden Klasse wirkt prägend für die kindliche Psyche. Besonders das proletarische Mädchen ist in dreifacher Hinsicht unterdrückt: als Kind dem Erwachsenen gegenüber, als Angehörige des weiblichen Geschlechts gegenüber dem männlichen und als Glied der proletarischen Klasse.
Unter diesen Bedingungen empfindet das proletarische Kind ein ausgeprägtes Minderwertigkeitsgefühl. „Es sinkt in seiner eigenen Bewertung klaftertief, dafür steigen die Widerstände und Feindschaften der Umwelt in seinen Augen haushoch – in dieser qualvollen Diskrepanz schwindet ihm jeder Mut. Es verläßt den Hauptschauplatz seiner Tätigkeit und sucht einen Nebenschauplatz auf. Es weicht aus“ (2).
Dieses Ausweichen findet seinen Ausdruck häufig in Verwahrlosungserscheinungen wie Herumtreiben, Schuleschwänzen und Stehlen. Die Verwahrlosung proletarischer Kinder ist ein „soziales Phänomen breiter Ausladung“. Daher begegnen dem proletarischen Kind ständig Schicksalsgefährten. Oft verbünden sie sich in Banden, in denen die Kinder einen Ausgleich für ihr Minderwertigkeitsgefühl suchen.
Die Fähigkeit des proletarischen Kindes, sich zusammenzuschließen, erwächst aus dem zwangsläufigen Gemeinschaftsleben der Kinder, die nicht so isoliert aufwachsen, wie es oft bei Kindern wohlhabender Eltern der Fall ist. Das proletarische Kind lebt in einer Zwangsgemeinschaft mit anderen Menschen, oft in großer Familie. Es kennt neben den negativen Seiten dieser Gemeinschaft (Einengung, Brutalität) auch die positiven (Schutz, Stärke durch Solidarität). Deshalb sind ihm Zusammenschlüsse von Massen „wertvolle ideologische und praktische Mittel der Sicherung, der Erhöhung der Macht. Der ethische Ertrag dieser Einstellung auf Masse, auf das Kollektive – im Sinne eines Verpflichtetseins aller gegen alle – ist die Solidarität!“ (3).
In diesem Gemeinschaftsbedürfnis der proletarischen Jugend sieht Rühle eine Triebkaft der Revolution.
(aus miteinander leben lernen, Zeitschrift für Tiefenpsychologie, Gruppendynamik und Gruppentherapie, Heft 1, 5. Jahrgang 1980, ISSN 0342-3174, Herausgeber ist der Verlag für Tiefenpsychologie Berlin. Aufsatz von Renate Oetken und Peter Muggelberg, Erziehung als schichtspezifisches Problem, Seiten 21 bis 23)
In diesen Ausführungen ist nicht alles vergleichbar, aber es gibt doch einiges mit Wiedererkennungswert. Gesellschaftliche und soziale Deklassierung immer breiterer Bevölkerungsteile, ein Wiederentstehen einer sogenannten „Arbeiterklasse“ (die Lebensumstände vieler Angestellten erinnern eher an die, der ehemaligen Arbeiterklasse) oder einfach das Entstehen einer Klasse der Recht- und Besitzlosen.
Wo Rühle hier positives Revolutionspotential zu sehen meinte, welches auf der gegenseitigen Solidarität fußt, belehrte in die nachfolgende Zeit des Nationalsozialismus darüber, wie gefährlich eine vorschnelle und einseitige, von eigenen Wünschen und Hoffnungen überlagerte, Deutung sein kann. Menschen, die sich selbst nicht lieben gelernt haben, lieben keinen anderen. Wenn sie Gemeinschaft gestalten, dann ist sie streng hierarchisch und ihre Struktur Autoritär. Er schaffte es also scheinbar nicht, tiefer in die Psychologie einzudringen und blieb eher ein politischer Visionär.
Wir haben heute die Chance aus Vergangenem zu lernen und Fehler nicht zu wiederholen, oder ist auch das schon zuviel von uns Menschen verlangt?
Wir danken Ihnen recht herzlich für Ihre Aufmerksamkeit und hoffen in der Zukunft weiter miteinander im Gespräch über die behandelten Themen zu bleiben, auch wenn die Sichtweisen sicherlich an einigen Punkten auseinandergehen.