Eine kurze Betrachtung
1. Macht in den Jugendämtern
In einem Jugendamt stöhnt eine ASD-Mitarbeiterin, dass sie die Arbeit sehr anstrengend finde. Ein Kollege, der aus dem ASD in den ambulanten Hilfebereich gewechselt hatte, sagt ihr: „Dann komm doch zu uns herüber, hier kann ich endlich mit den Familien so arbeiten, wie es hilfreich ist“. Die Kollegin antwortet darauf hin: „Aber dann habe ich nicht den Einfluss und die Macht wie hier!“ Die Machtposition sowohl gegenüber Klienten als auch Einrichtungsträgern ist seitens der Jugendämter eher ein Tabu. Dadurch wird verhindert, dass Unterschiede und Interessenskonflikte zwischen Klienten und Jugendamt sowie Trägern und Jugendamt deutlich und damit auch bearbeitbar werden.
Während Jugendämter noch vor ca. 15-20 Jahren teilweise in Gutsherrenart die Aufträge vergaben, gibt es heute scheinbar eine „objektivere“ Form von Fallvergabe bzw. Ermittlung des Hilfebedarf. Nicht thematisiert in der Öffentlichkeit, aber dennoch ist es in vielen Jugendämtern ein Fakt, dass die Entscheidung über die Geeignetheit von Hilfen weiterhin vielfach von Kriterien abhängen, die häufig nicht an der Hilfebedürftigkeit der Familien festgemacht werden, sondern am „Geldbeutel“ des jeweiligen Jugendamtes oder an anderen nicht fachlichen Gründen. Fachliche Bedürftigkeitskriterien rutschen immer weiter in den Hintergrund oder werden nur unzureichend herangezogen. Heute bestimmt der „Median“ und die „KLR“ welche Hilfen „geeignet“ sind.
Entscheidungen werden in Hilfeplangesprächen dem Anspruch nach gemeinsam mit den Klienten getroffen. Dass jedoch oft über die Köpfe der Klienten hinweg entschieden wird, wird immer wieder bemängelt. Hans-Uwe Otto hinterfragte auf dem Stuttgarter Jugendhilfetag 2011, ob wir uns als Profession genügend demokratisieren. Auch bezogen auf Hilfeplangespräche stellte er die Frage, ob diese ein Ausdruck einer Demokratisierung unserer Profession oder ein Ausdruck von Tyrannei gegenüber Menschen seien (vgl. Conen 2012).
Vor allem Politiker, einschließlich der Jugendpolitiker und Jugendhilfepolitiker sind scheinbar immer noch mit Steuerungsideologien und Budgetierungsideen zu locken, wenn ihnen Organisationsberater aus der Wirtschaft oder Hochschulen diese als „die“ Lösung ihrer Finanzprobleme preisen. Wie groß die Ratlosigkeit der Politiker ist, zeigt die jüngste Diskussion im Berliner Abgeordnetenhaus zum Tod der kleinen Zoe. Man stellt fest, dass alles „richtig“ gemacht wurde. Aber das ein System die Kontrolle der Familien in den Vordergrund stellt und damit die Hilfen u.a. nicht mehr auf die Veränderung, sondern auf Verhinderung setzen, ist dabei kein Thema (vgl. Jacobs, 2012).
Die Praktiker vor Ort, d.h. die einzelnen Jugendamtssozialarbeiter stehen unter starkem Druck, immer mehr müssen sie ihre Hilfeentscheidungen rechtfertigen. Abweichungen vom Median setzen die Mitarbeiter selbst so unter Druck, dass sie ihre fachlichen Standards verlassen und dies in eklatanter Weise ihre Entscheidungen beeinflusst.
Jugendamtssozialarbeiter werden teilweise mit offenen und subtilen Druckmitteln zur Einhaltung des Median gebracht, von fachlichen Begründungen von Hilfen zur Erziehung kann dann nicht mehr gesprochen werden. Verantwortliche der öffentlichen Jugendhilfe weisen dies meist zurück, dies würde nicht ihren Erfahrungen entsprechen. Zwischen der politischen und der fachlichen Leitung einerseits und den Frontworkern andererseits gibt es solche Unterschiede und Lücken in den Wahrnehmungen, dass man als Außenstehender den Eindruck haben kann, sich in äußerst unterschiedlichen Kulturen zu befinden.
Diese Kluft ist auf verschiedene Aspekte zurückzuführen:
- Die Managerialisierung von Sozialarbeit hat auch in die Jugendhilfe tiefe Spuren hinterlassen. In einzelnen Jugendämtern werden entgegen der gesetzlichen Vorgaben wieder zunehmend fachfremde Leitungskräfte als „Manager“ eingesetzt und diese sind oftmals weit entfernt von einem sozialarbeiterischen Selbstverständnis und „Kultur“. Verantwortliche der öffentlichen Jugendhilfe haben in den letzten 15-20 Jahren viele Innovationen und Neuerungen zu vertreten, die sich im Nachhinein als Fehlschläge und „Rohrkrepierer“ erwiesen haben. In dem Versuch, den Vorgaben der KGST und ihrer Steuerungsideologie zu entsprechen, wurde bei den Mitarbeitern viel verbrannte Erde hinterlassen.
- Diese Versuche werden nicht flächendeckend und nur unzureichend einer fundierten Analyse unterzogen; aus dem Scheitern von vergangenen Veränderungsversuchen werden keine Rückschlüsse für weitere Veränderungen gezogen. Die teilweise hektische Suche nach Neuerungen überwiegt weiterhin. Wie man so sagt: „Die nächste Sau wurde durchs Dorf getrieben“ – wer dies benannte musste mit Ächtung und Ausgrenzung aus dem beruflich-fachlichen Diskurs rechnen. Dies trifft auch heute zu für die in vielen Jugendämtern fatal gescheiterte Sozialraumorientierung, die ,wie Mike Seckinger meint, in Verwaltungsräumen endete und keine wirklich lebensweltlich bezogene Hilfen darstellen (vgl. Conen 2012).
- Die fachliche Einschüchterung der fallzuständigen Sozialarbeiter (Frontworker) führt – in Verbindung mit einem äußerst geringem gewerkschaftlichem Organisationsgrad – dazu, dass sie ihre fachliche Argumente nicht mehr einbringen, da sie sich in ihrer Fachlichkeit nicht (mehr) wahr- und angenommen fühlen. Ein teambezogener Austausch findet auch nur noch dann statt, wenn die Teamsituation es ausnahmsweise erlaubt, sich gegenseitig zu unterstützen; amtsextern allgemein übliche Fachstandards der arbeit wie externe Supervision, die auch von Aufsichtsbehörden verlangt werden, sind die absolute Ausnahme oder den Leitungsebenen vorbehalten. Nicht selten Individualisierung und Druck auf den einzelnen Sozialarbeiter sowie vielfacher Personalwechsel dazu beigetragen, dass die früher übliche gegenseitige Unterstützung nicht immer gewährleistet ist.
- Im allgemeinen wagt es kaum einer der Frontworker noch, sich profiliert zu zeigen, die meisten ziehen sich mehr oder weniger auf eine Position des Überlebenwollens zurück. Sie halten sich formal an die Vorgaben, aber unterlaufen sie, wo immer sie dies können und es nicht auffällt oder länger dauert bis es auffällt. Kontrollversuche werden als weitere Angriffe auf ihre Fachlichkeit erlebt und werden wiederum mit weiteren Unterlaufungsstrategien beantwortet – bis man die Stelle wechseln oder in Rente gehen kann.
- Sozialarbeiter haben, vermutlich mehr als Menschen in anderen Berufen, ein noch höheres Bedürfnis nach Gestaltung und kreativem Einfluss auf ihre Arbeit. Sie leben auf, wenn sie Veränderungsprozesse mit ihren Klienten herbeiführen bzw. bewirken können. Angesichts der Gängeleien und Verunmöglichung, die früher noch mögliche eigene Beratungsarbeit bei 5-6 eigenen Klienten durchzuführen, haben Sozialarbeiter in den Jugendämtern einen hohen Verlust an dieser – für ihre Berufsidentität bedeutenden – eigenverantwortlichen Gestaltungsmöglichkeit hinnehmen müssen – und wehren sich mit passivem Widerstand (soweit ihre Identität davon geprägt wurde).
2. Berufsmotivation
Die in den letzten ca. 15 Jahren stattgefundene Aushöhlung der Fachlichkeit der Jugendamtsozialarbeiter fordert ihren Zoll. Sozialarbeiter – auch in den Jugendämtern – zeichnen sich durch einen wichtigen Aspekt aus, der sie von anderen nicht-psychosozialen Berufen wesentlich unterscheidet. Ihre Berufsmotivation ist davon geprägt, dass sie Menschen helfen wollen, sie gehen davon aus, dass (positive) Veränderungen bei Menschen möglich sind.
Die Ökonomisierung, Standardisierung und Medianisierung in der Jugendhilfe entspricht nicht den Vorstellungen, die Sozialarbeiter bewogen hat, dieser Tätigkeit nachzugehen. Sich nur mit Akten zu beschäftigen sowie mit standardisierten Abläufen konfrontiert zu werden, ist nicht das, was sie in diesen Beruf gelockt hat. Soweit Mitarbeiter aus „früheren Zeiten“ noch das Wissen haben, wie die „alte“ Sozialarbeit ihrer Berufsidentität entsprach, trauern insbesondere diese Mitarbeiter diesen Zeiten hinterher. Platz für die Trauer um ihre berufliche Identität wird ihnen jedoch nicht eingeräumt, findet auch im offiziellen Fachdiskurs nicht ihren Raum, wenn auch bekannte Größen der Jugendhilfe wie Hans Thiersch und Hans-Uwe Otto mittlerweile inzwischen zum Verlust der Identität von Sozialer Arbeit Position beziehen.
In den Jugendämtern selbst ist dieser Verlust der Identität von Sozialarbeitern kein Thema. Von den Verantwortlichen der öffentlichen Jugendhilfe wird angesichts der öffentlichen Finanzsituation auf die Notwendigkeit von Medianen, Steuerungen usw. hingewiesen. Nur selten sprechen Leitungskräfte mit den Sozialarbeitern über die Veränderungen der Arbeit in Bezug auf deren ursprüngliche Berufsmotivation und was es für sie heißt, nicht mehr als „Helfer“, sondern als „Casemanager“ und „Verwalter von Hilfen“ tätig zu sein. Darüber zu sprechen wäre jedoch einer der Schritte, die m. E. notwendig wären, will man in den Jugendämtern, die umfangreichen fachlichen Erfahrungen der älteren Mitarbeiter positiv nutzen und nicht auf die Berentung der älteren Kollegen warten (bis 2025 sind ¾ der Stellen in den Jugendämtern neu zu besetzen!). Die neueren, jüngeren Mitarbeiter greifen häufig auf ein lineares, an einfachen Lösungen orientiertes Hilfeverständnis und Menschenbild zurück und sollten auf keinen Fall damit alleine gelassen werden. Anmerkung: In den USA sind in den Jugendämtern (CPS) nur noch Berufsanfänger tätig, die so schnell als möglich dort wieder weggehen (hohe Fluktuation)!
Diese Gesprächsmetaebene – wo stehen wir miteinander? – wäre dringend notwendig, um die inneren Kündigungen und die enorme Wut an der Basis wieder in eine konstruktive Bahn bringen zu können. Jede Art von organisatorischer, noch so gut gemeinter „Umstrukturierung“ wird nicht (mehr) die Bereitschaft zur Diskussion bei den Mitarbeitern fördern, die Zeiten der Offenheit sind vielfach verspielt. Eine Thematisierung der „Ist-Situation“ wäre ein Ausdruck von neuem Vertrauen, was aber erst wieder zurückgewonnen werden müsste. Wenn Mitarbeiter sich nicht mehr äußern und keine Vorschläge mehr einbringen, ist dies nicht auf Desinteresse zurückzuführen, sondern auf Resignation und Vertrauensverlust. Ihre Fachlichkeit wurde zu häufig ignoriert.
3. Stimmung
Die Wut über die Gängeleien, die Arbeitsverdichtung sowie die Bürokratisierung scheinen vielen Verantwortlichen der öffentlichen Jugendhilfe nicht bekannt. So manches Mal kann man auch den Eindruck haben, dass sie dies eigentlich auch nicht unbedingt wissen möchten, denn so können alle Beteiligten so tun als ob man noch miteinander arbeiten könnte, wo doch alleine Burnout-Rate und hoher Krankenstand bei jedem Arbeitsmediziner die Alarmglocken schlagen lassen würden.
Mitarbeiter in den Jugendämtern fühlen sich nicht nur in ihrer Fachlichkeit nicht ausreichend innerhalb ihrer Organisation gesehen; vor allem Mitarbeiter, die in ihrer Fachlichkeit auf Beratung und Veränderungsprozesse in den Familien setzen, sehen sich immer wieder Situationen ausgesetzt, die es ihnen erschweren, sich für ihre Klienten engagiert einzusetzen. Wenn sie die Füße still halten, sich nicht gegen Hilfepläne wehren, die nicht ihren fachlichen Vorstellungen entsprechen, haben sie es leichter in ihrer Organisation zu überleben. Nur: dies kostet Geld! Und: es ist Teil der inneren Kündigungen – mit all deren Kosten.
Dass so mancher Jugendamtsozialarbeiter angesichts seiner eigenen Arbeitsverdichtung, der Bürokratisierung seiner Arbeitsabläufe und der Einschränkungen seiner eigenen Gestaltungsmöglichkeiten, seinen Druck weitergibt an die Mitarbeiter der freien Träger der Jugendhilfe ist kein Wunder. Das Abladen von Druck, die Verleugnung der Notwendigkeit von Qualität bei hochkomplexen Familienprozessen sowie die „Eifersucht“ auf die vermeintlich „besseren“ (Beratungs-)Möglichkeiten der Trägermitarbeiter mit Klienten zu arbeiten, treffen jedoch leider immer häufiger auf Träger, die sich allem anpassen und jede noch so hanebüchene Zumutung der Jugendämter mitmachen, um Aufträge zu bekommen. Anstatt den Jugendämtern – geschlossen! – zu zeigen, dass mit ihnen so manches nicht zu machen ist.
Wie wenig Verantwortliche der öffentlichen Jugendhilfe über die Stimmung an der Basis zu wissen scheinen, wird deutlich, wenn diese erstaunt darüber sind, dass die Mitarbeiter neue Ideen oder gar Reformen zwar zur Kenntnis nehmen, aber sich nicht mehr an Diskussionen dazu beteiligen. Inzwischen scheint es in manchen Jugendämtern möglich zu sein, „Neuerungen“ einführen zu können, ohne dass es eine gründliche und fundierte fachliche Diskussion mit den Mitarbeitern dazu gibt. Die Mitarbeiter äußern sich einfach nicht mehr, sie nehmen die „Neuerung“ zur Kenntnis, aber sinnen auf Wege, diese unterlaufen zu können oder durchzustehen, bis auch diese sich wieder aufgrund einer weiteren „Neuerung“ überholt hat.
Das Engagement und die Leidenschaft vieler erfahrener Jugendamtsozialarbeiter für ihre Arbeit ist verloren gegangen, sie ziehen sich zurück. Auf Einwände von Leitungskräften, dass sie einerseits selbst unter erheblichem Druck seitens der politischen Kräfte stehen und andererseits versuchen, so gut wie möglich, auch die Interessen ihrer Mitarbeiter zu vertreten, ist leider zu entgegnen, dass dies nicht (mehr) die Ebenen sind, mit denen man das Herz und das Engagement der Mitarbeiter zurückholen kann. Auch den Gewerkschaften ist inzwischen klar, dass es den Jugendamtssozialarbeitern nicht unbedingt um die Bezahlung geht, sondern um ihr Arbeitsverständnis und -bedingungen.
Wenn Sozialarbeiter in den Jugendämtern nicht mehr ihr Engagement einbringen bzw. nicht mehr einbringen können, weil die Abläufe es nicht mehr erlauben, kostet das den Steuerzahler erheblich Geld. Diese Resignation kostet Geld! Und: Diese Resignation lässt sich nicht durch Anweisungen und Standardisierungen beeinflussen!
Gefahren
Ein Sozialarbeiter wird angesichts des enormen Drucks, dass sowohl die politische als auch die fachliche Leitungsebene eines Jugendamtes keine Fälle von Kindesmisshandlungen oder gar Kindestod in der Presse wiederfinden möchte, ein Kind eher unterbringen, als dass er in Geduld und mit angemessener Stundenzahl eine ambulante Hilfe installiert, die eine Familie darin unterstützt, in ihren Dauerkrisen konstruktivere Lösungsschritte zu entwickeln. Diese Zeit und Geduld haben heute viele Jugendamtsmitarbeiter nicht mehr, im Zweifelsfall wird das Kind untergebracht und die Arbeit an Rückführungsoptionen wird hinten an gestellt.
Die eigenen fachlichen Ansprüche können keine Umsetzung mehr erfahren, da dies Bürokratisierung und bestehende Ideologien (Sozialraumorientierung und Casemanagement) nicht ermöglichen. Angesichts der Zunahme an Fällen und gleichzeitiger erheblicher Reduzierung von Fallstunden in den ambulanten Hilfen, wird vielfach nur noch auf eine Absicherung gesetzt. Was fehlt, ist die entsprechende Hoffnung, dass mit einer Hilfe positive Veränderungen ermöglicht werden können.
Denn die allgemein zu verzeichnende gesellschaftliche Hoffnungslosigkeit findet auch ihren Niederschlag in einer tiefen Resignation angesichts des gesellschaftlich und durch Armut verursachten Elends in den Familien. Dass Sozialarbeit nur noch reaktiv – und nicht mehr gestaltend – in diese Prozesse eingreift – bzw. vorgeht, führt dazu, dass zwar – zunehmend wieder verstärkt kompensatorische – Hilfen installiert werden, aber in einer Haltung tiefster Resignation. Eigentlich erwartet keiner, dass die Familien sich noch in eine positive Richtung bewegen lassen.
Denn sonst würden nicht Familienhilfen mit 2,5 Stunden installiert (und Mitarbeiter 15-20 Familien betreuen müssen, um auf eine Vollzeitstelle zu kommen), wenig qualifizierte Mitarbeiter in die schwierigsten Familien geschickt, in Tagesgruppen keine Stunden für Elternarbeit angesetzt, Rückführungsarbeit nicht finanziell unterfüttert werden oder immer neue Modellprojekte aus Finanzierungsgründen geschaffen werden. Da Jugendhilfe am Ende einer langen Kette von Ressourcenverknappungen in unserer Gesellschaft steht, bilden sich auch hier Verhärtungen aus, die letztlich in kompensatorische und nicht auf Veränderungen im Familiensystem setzende Hilfen münden.
Jugendämter als auch Träger sind sich nicht zu schade Dumpingpreise auf Kosten der Mitarbeiter zu vereinbaren und nur noch billigstes Personal einzusetzen. Die am wenigsten qualifizierten Mitarbeiter arbeiten dann mit den hochkomplexesten Familiensystemen – und wenn die Hilfe nicht zum „gewünschten“ Ergebnis führt, wird dies dann auf die Unfähigkeit der Familien zurückgeführt. Jugendhilfe erweist sich inzwischen als Vorreiter von prekarisierenden Arbeitsverhältnissen, sogar die Wirtschaft geht fürsorglicher mit ihren Mitarbeitern um.
Gleichzeitig müssen qualifizierte Hilfen sowie Qualität aufrechterhaltende Einrichtungen ums Überleben kämpfen. Ihre Ansprüche und Vorstellungen mit den Familien an konstruktiven Veränderungsprozessen zu arbeiten, bedeuten Arbeit, Aufwand und Zeit für die Jugendamtssozialarbeiter, die sie nicht (mehr) haben (können) angesichts ihrer eigenen Arbeitsverdichtung. Es herrscht eher die Idee vor, jeder kann alles, jeder kann mal eben mit diesen Familien arbeiten, denn wieder sind es die Berufsanfänger – wie vor 30 Jahren – die mit diesen Familien arbeiten. Wie man mit Jugendhilfefamilien qualifiziert arbeiten kann, ohne in irgendeiner Weise sich fachlich dafür weiterqualifiziert zu haben, ist mir unerklärlich. Es ist auch nicht nachvollziehbar, dass Jugendämter dies nicht einfordern, sondern den Preis in den Vordergrund stellen. Die Hochschulen haben ihre Absolventen in keiner Weise auf diese Klienten vorbereitet. Die Bologniasierung der Sozialarbeiter-Ausbildung an vielen Hochschulen hat Ausbildung und Praxisanforderungen noch weiter auseinander klaffen lassen. Wie unzureichend diese Ausbildungen sind – was inzwischen von manchen Hochschullehrern unumwunden zugegeben wird – zeigt auch die zunehmende Zahl von Trainings für Berufsanfänger in den Jugendämtern und bei größeren Trägern. Einfacher wird allerdings dadurch die stromlinienförmige Verwendung dieser neuen KollegInnen, die sich irritationsarm in die herrschenden Abläufe und Ideologien integrieren lassen – weil sie gar keine Vorstellung davon haben, welche Kraft und Kreativität eine engagierte und kritische Sozialarbeit frei setzen kann.
4. Notwendigkeiten
Die Jugendämter befinden sich in einer Situation, in der folgende Prozesse dringend entwickelt werden müssen:
a) Berufsidentität und Berufsmotivation müssen zum Gegenstand öffentlicher Diskussion werden. Leitungskräfte in den Jugendämtern (und natürlich auch bei den freien Trägern) müssen diese Diskussion initiieren. Die müssen darin einsteigen, wieder eine Kultur des Diskurses in ihren Jugendämtern zu entwickeln, der es den Sozialarbeitern ermöglicht, ihre Arbeit so auszuüben, dass ihre sozialarbeiterische Berufsidentität zum Tragen kommt.
b) Vorstellungen zu Veränderungsprozessen bei Menschen – sowohl bei Mitarbeitern als auch Klienten – müssen in den Jugendämtern (und bei den Trägern) diskutiert werden. Was ist der Unterschied zwischen helfen und helfen zu verändern, was ist der Unterschied zwischen Betreuung und Systemveränderungsprozessen? Top-Down-Veränderungsprozesse funktionieren genauso wenig wie expertokratische Hilfeverschreibungen („Wo verselbständigen wir den jungen Mann?“), insbesondere wenn die Identität und das Berufsverständnis der Beteiligten keine Berücksichtigung findet. Und: Sozialberufler sind die Experten in Kommunikation und nicht Wirtschaftsberater!
c) Führungsstil und Personalführung insbesondere auf der mittleren Leitungsebene müssen überprüft und revidiert werden. Der Führungsstil in einer Reihe von Jugendämtern entspricht nicht demokratischen Gepflogenheiten, er wirkt eher verwaltend, nicht selten von oben herab anordnend.
d) Leitungskräfte sollten bereit sein, ihren Führungsstil zu überprüfen und installierte Veränderungen einer kritischen Betrachtung zu unterziehen und ihren Beitrag zum vielfachen Desinteresse und vor allem zur Resignation aber auch verdeckter Ablehnung zu sehen und entsprechende Vorgehensweisen zu entwickeln. Das verspielte Vertrauen, bedarf eines langen Prozesses und einer auf Wertschätzung basierenden und die Berufsidentität berücksichtigenden Personalentwicklung.
e) Fehlschläge und gescheiterte Reformen müssen in den Jugendämtern und in der Fachöffentlichkeit analysiert und daraus abzuleitende Veränderungsschritte mit den Mitarbeitern diskutiert und deren Ideen dazu aufgriffen werden.
f) Qualität von Hilfen muss anders diskutiert werden; die hochkomplexen Probleme in den Jugendhilfefamilien bedürfen hochkomplexer Hilfen – und nicht linearer Ideen, die den Absicherungsbestrebungen von Politikern dienen.
g) Daher wäre es dringend notwendig anonyme Befragungen zum Betriebsklima, zu Veränderungen in der Berufsmotivation und den Erfahrungen mit den Reformen durchzuführen – und darüber einen Diskurs mit den Mitarbeitern zu beginnen. Angesichts des massenhaften Schweigens in vielen Jugendämtern wird dieser Prozess nur langsam beginnen können, da Mitarbeiter in den letzten 20 Jahren gelernt haben, den Mund zu halten.
h) Letztlich sind grundlegende Fragen zu stellen, zu diskutieren und sind Antworten zu finden: Was braucht man an Fachkräften für die Jugendhilfefamilien? Welche Qualifikation braucht eine Fachkraft? Welche Jugendhilfe will sich dieses Land leisten?
Diese Betrachtungen beziehen sich auf viele Diskussionen mit Mitarbeitern in den verschiedensten Regionen Deutschlands, vor allem seit mein Aufsatz „Was ist los in der Jugendhilfe?“ und mein Buch „Ungehorsam – eine Überlebensstrategie“ erschienen sind (vgl. auch Seithe, 2010). Selbstverständlich gibt es eine ganze Reihe von Jugendämtern, die in den letzten Jahren das Engagement ihrer Mitarbeiter wahren konnten. Was sie dazu beitragen konnten, sollte in einem öffentlichen Diskurs erörtert und von anderen Jugendämtern aufgegriffen werden.
Ich habe die Anfrage zu diesem Beitrag so verstanden, dass das allgemeine Schweigen aufgebrochen und eine Diskussion über die Situation in den Jugendämter initiiert werden soll. Denn das Schweigen ist es, was konstruktiven Veränderungen im Wege steht.
Literatur:
Conen, Marie-Luise: Was ist los in der Jugendhilfe? Zwanzig Kritikpunkte. In: Forum Erziehungshilfen 2006, 12, 3, S. 170-181.
Conen, Marie-Luise: Ungehorsam – eine Überlebensstrategie. Professionelle Helfer zwischen Realität und Qualität. Heidelberg: Carl-Auer Verlag, 2011
Conen, Marie-Luise: Bericht vom 14. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag 7.-9.6.2011 in Stuttgart. In: Kontext – Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für systemische Therapie, Beratung und Familientherapie, 2012, Heft 1.
Jacobs, Stefan: Zoes Tod macht auch das Parlament ratlos. In: Der Tagesspiegel, 10.2.2012, S. 9
Seithe, Mechtild: Schwarzbuch Soziale Arbeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010