Ich wurde gebeten für die Heim- und Erzieher Zeitschrift (HEZ) einen Artikel von ca. 5-6 Seiten zu schreiben, in dem ich meine eigene Betroffenheit und Erfahrung zum Thema Heimerziehung, meine Erfahrungen mit der Anlauf- und Beratungsstelle Berlin sowie meine Wertschätzung, aber auch meine Kritik äußere.
Das habe ich hiermit als ehemalige Betroffene getan.
Der Anfang
Im Oktober 2008 hörte ich zufällig vom Aufruf der ehemaligen Landesbischöfin, dass sich ehemalige Heimkinder aus den Jahren 1950 – 1975 bei ihr melden sollten.
Das betraf mich ganz direkt, denn ich hatte von 1950 – 1957 in einem ehemaligen evangelischen Heim in Osnabrück gelebt und gelitten.
Dennoch zögerte ich lange, bevor ich mich dazu entschließen konnte, aber von jetzt an sammelte ich jede Information im Internet, nahm mutig Kontakt zu anderen Betroffenen auf und lernte Menschen kennen, die Erfahrungen gemacht hatten, die mir viel härter, demütigender und grausamer erschienen als ich es in meiner eigenen Heimzeit erlebt hatte.
Ich stellte fest, dass eine ganze Generation von Heimkindern, etwa 500.000 bis 800.000, ein schlimmes Schicksal erfahren hatten und bis heute an den Folgen massiv leiden.
Schlimmer noch, sie gaben und geben diese Folgen unbewusst oder zwanghaft an die eigenen Kinder und Enkel weiter.
Ich spürte, dass ich endlich alles aufschreiben musste, denn die damalige Zeit hat mich so geprägt, dass ich niemals wirklich davon frei wurde.
Jahrzehntelange schwere Depressionen waren nur eine der Folgen, aber dessen war ich mir lange nicht einmal bewusst.
Nicht nur die Heimzeit selbst, sondern all die Folgen davon, und wie wir fast alle danach einfach alleingelassen und lebensunfähig ins Leben geworfen wurden, ist unverantwortlich.
Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass ich selbst es nur der Erziehung meiner liebevollen, klugen, geduldigen und konsequenten Mutter, die mich in den ersten sechs Lebensjahren allein prägte, zu verdanken habe, dass ich letztlich meinen Lebensweg gegangen bin und ihn gemeistert habe.
Ihre jahrelange schwere Erkrankung und ihr früher Tod waren der Grund für meinen Heimaufenthalt.
Ich schrieb ein Buch „Winter im Herzen. Eine Kindheit zwischen Heim und Hoffnung“ und wurde dabei wieder zu dem kleinen Mädchen Marianne, durchlitt alles noch einmal, was sie durchlitten hatte und —- wurde frei.
Das hatten vorher keine der fünf Therapien und langen Aufenthalten auf Krisenstationen geschafft.
Beim Schreiben zählte nicht, wie die Welt die Dinge sieht und beurteilt, sondern meine eigene Sichtweise war der Maßstab. Dabei zählte die Perspektive des Kindes in mir.
Die damalige Zeit, die gekennzeichnet war von unnachgiebiger systematischer Autorität, ständiger Kontrolle, Demütigungen bis hin zu seelischen und körperlichen Misshandlungen, hat mein weiteres Leben so geprägt, dass ich niemals frei und selbstbewusst werden konnte.
Die Folgen waren nicht nur fehlendes Selbstwertgefühl, sondern die ständige Angst zu versagen, nicht gut genug zu sein, nichts wert zu sein und sowieso in der Gosse zu landen.
Ich konnte niemals meine eigene Mitte finden.
Magengeschwüre seit der Kindheit und chronische Gastritis, Depressionen, Suchtpotenzial, jahrelang Tabletten, immer noch Nikotin.
Eigene Gefühle kann ich nur schwer wahrnehmen, Kritikunfähigkeit, Autoritätshörigkeit, ach, es ließe sich noch so viel mehr aufzählen.
Im SAAL sitzen (ein kleines alltägliches, sicher unwichtiges Beispiel)
Es gab im Heim sehr strenge Regeln und Verbote.
Dazu gehörte ein absolutes Sprechverbot, wenn wir abends, ab 20.00 Uhr im Sommer wie im Winter, im Bett zu liegen hatten.
Das wurde, bei angelehnter Tür, beobachtet. Wurde jemand erwischt, hieß es: „Los, Mantel an und ab in den Saal“.
Bei uns gab es keine „Kabause“ oder ein Besinnungszimmer wie in anderen Heimen.
Wir schliefen zu zwanzig Mädchen, ab etwa 8 – 14/15 Jahre, in einem Schlafraum, aber schlafen konnten wir so früh nicht.
Ich kam immer etwas später, denn nach dem Abendbrot um 18.00 Uhr war ich mit einer Betreuerin eingeteilt, die ca. dreißig Kleinen (3-6 Jahre alt) zu waschen und ins Bett zu bringen. Die Schlafwache machte ich dann alleine bis alle Kinder schliefen.
Meine Schlafgenossinnen warteten schon auf mich und baten mich noch eine Geschichte zu erzählen. Das tat ich fast immer.
Ich kannte alle Grimms Märchen und da gab es wenigstens Gerechtigkeit.
Oft wurde ich erwischt.
Dann saß ich ganz allein im dunklen Esssaal. Immer fror ich fürchterlich.
An den großen Fenstern hingen keine Gardinen. Der Mond schien herein und ließ wilde Schatten entstehen. Sie huschten herum, mal hier, mal da.
Wenn sich die Wolken vor den Mond schoben, war es fast noch schlimmer, dann wurde es stockdunkel. Wo waren die Gespenster?
Unser Heim lag am Waldrand und die Baumwipfel wogten hin und her.
Außer dem Rauschen des Windes und der Bäume waren auch die Ratten zu hören.
Sie rannten auf der Mauer zum Heizungskeller hin und her. Sie stritten sich, bissen sich und ihr Quieken drang zu mir herein.
Das alte Parkett knarrte mal hier, mal da.
Ich hatte Angst. Kerzengerade saß ich auf dem Kinderstuhl.
Mit der Hand hielt ich den Mantel über der Brust zusammen.
Zuerst wurden die Füße kalt.
Trotz allem wurde ich irgendwann so müde, dass ich einnickte, aber auch gleich wieder hochschreckte.
„Wann lässt die blöde Kuh mich endlich wieder ins Bett?“ fragte ich mich, aber sie hatte mich wohl längst vergessen.
Die Zeit schien nicht zu vergehen.
Mir fiel die Lieblingsgeschichte unseres Heimleiters (Diakon) ein. Er gab sie bei jeder Gelegenheit zum Besten. Wir Kinder nahmen sie sehr ernst und sie machte uns große Angst.
Wir schwiegen darüber. Wieder, wie immer. Wir durften ja auch nicht über unsere Familien sprechen und wie es zuhause gewesen war.
Es ging um den Bombentrichter, der direkt vor unserem Schlafsaalfenster lag, den wir immer vor Augen hatten.
Dort war der Eingang zu einem Bunker gewesen, in den sich die damaligen Heimkinder und das Personal während des Krieges geflüchtet hatten.
Als der Krieg praktisch schon vorbei war, fiel eine der letzten Bomben genau auf den Eingang.
Alle Menschen kamen auf grausame Art ums Leben und liegen noch heute dort unten!
Er malte das dann noch alles ziemlich makaber aus.
Sein letzter Satz lautete stets: „Niemand wurde gerettet. Sie mussten qualvoll ersticken. Wie sie weinten und schrien, immer weniger Luft bekamen und es gab bestimmt auch schwer Verletzte dabei mit großen Schmerzen. Stellt Euch das mal vor.“
Wir stellten es uns immer wieder genau vor und es schauderte uns immer wieder.
Saß ich allein im Saal, war auch das präsent.
Meiner Fantasie waren hier keine Grenzen gesetzt und ich hatte viel Fantasie.
Nicht mehr wollen, aufgeben.
Irgendwann spürte ich, wie ich anfing mich zu verändern und mich selbst immer weniger zu mögen.
Zwar erzählte ich den Kleinen während der Schlafwache immer noch Geschichten von eigenen Erlebnissen als ich in ihrem Alter war, wie es im Kindergarten damals ging, von Spaziergängen in der Natur, von Käfern, Blumen, Schmetterlingen und sang ihnen Lieder vor bis sie einschliefen, aber ich merkte, dass ich nicht mehr singen mochte, nicht mehr wirklich konnte. Auch malen ging nicht mehr richtig, genau wie rennen, toben, lachen, einfach nur fröhlich sein.
Etwas war in mir abgestorben.
Früher hatte ich jedes Bonbon geteilt, viele andere Dinge auch, wie die so wichtigen Stopfnadeln fürs Strümpfe stopfen am Abend und am Wochenende. Mein Vater besuchte mich ca. alle 3-4 Monate.
Er kaufte mir dann die Stopfnadeln oder eine kleine Dose Creme, Seife, einen Kartoffelschäler, ein paar Bonbons.
Die anderen hatten nicht so viel Glück.
Anfangs habe ich geteilt, getröstet, Mut gemacht, geholfen und vor allem zugehört, aber inzwischen überlegte ich genau, wem ich Freundlichkeiten zukommen ließ oder mit wem ich Streit begann.
Ich gab auch längst keine Widerworte mehr, wenn es um Ungerechtigkeiten ging.
Die Schule, die mir früher so viel Spaß gemacht hatte, war inzwischen zur Qual geworden.
Ich war die Blödeste von allen und dazu noch ein Heimkind.
Kein Lehrer konnte mich leiden und ich verstand sogar, warum das so war.
Ich war es einfach nicht wert, sonst wäre ich ja schließlich nicht dort gelandet.
Auch im Heim war jeder allein.
Misstrauen, Neid, Intrigen gehörten genauso zum Alltag, wie die Prügel nach der Andacht am Freitagabend in der Wohnung des Heimleiters und wie die regelmäßigen täglichen Gebete.
Die vielen kleinen Bösartigkeiten untereinander wurden von den Betreuern teilweise unterstützt. Auch sie denunzierten und verpetzten uns immer wieder, was natürlich nicht ohne Folgen blieb.
Jeder versuchte zu überleben.
Die meisten Kinder waren abgestumpft, aber dennoch hörte ich im Schlafsaal immer wieder ihr leises Weinen und unterdrücktes Schluchzen.
Mir ging es auch so, aber ich war inzwischen nicht mehr fähig, jemanden zu trösten.
Ich schlief schlecht, träumte schlimme Träume.
Wenn ich davon im Dunklen aufwachte, weinte ich vor Angst und Sehnsucht nach meiner toten Mutter, die ich für immer verloren hatte.
Gefühle wie Niedergeschlagenheit, Aussichtslosigkeit, Hoffnungslosigkeit wurden immer stärker.
„Hier kommst du nie mehr heraus und falls doch, welchen Sinn könnte das Leben überhaupt noch haben?
Ich war so doof, so hässlich, so verkommen, niemand wollte mich. Allen war ich lästig und im Weg. Das würde sich auch nie ändern.
Ich sah keinen Ausweg und resignierte mehr und mehr.
Ich wollte nicht mehr leben, es hatte einfach keinen Sinn.
Ich wollte endlich tot sein, sterben, nichts und niemanden mehr sehen oder hören.
Es hatte alles keinen Zweck. Es ging nichts mehr. Ich war 10 Jahre alt.
Und doch ging dieses Leben weiter, immer weiter.
Ich besuchte die Mittelschule. Eine Versetzung schien, auch nachdem ich bereits die achte Klasse zum zweiten Mal wiederholt hatte, aussichtslos.
Im Zeugnis stand: „Es wird Marianne dringend geraten, ins Berufsleben zu gehen.“
Fünf mal eine Fünf, der Rest waren Vieren, achte Klasse, kein Schulabschluss.
So warf man mich endgültig raus in ein Leben, für das ich in keiner Weise vorbereitet war, aber ich war FREI! Auch VOGELFREI!
Die Lebenserfahrungen, die ich dann sammeln musste, versuche ich zurzeit in einem zweiten Buch aufzuarbeiten.
Beginn der Aufarbeitung
2008 hörte ich davon, dass ein Professor Dr. Kappeler hier in Berlin eine Regionalgruppe für ehemalige Heimkinder aufbaute und schloss mich an.
Es war erst ein kleines Grüppchen von 5-6 Männern als ich dazu kam.
Herr Kappeler legte nie Wert auf seinen Professor- und Doktortitel, sondern versuchte immer uns auf Augenhöhe zu begegnen.
Ich hatte zuvor nie etwas von ihm, seinen Büchern, seiner ganzen Arbeit gehört oder gelesen, aber er schien mir kompetent zu sein.
Er konnte lange ruhig zuhören, er verlor niemals die Geduld, vermittelte uns nie das Gefühl dumm oder minderwertig zu sein.
Wir konnten ihn alles fragen, alles sagen und bekamen Antworten, die wir auch verstehen konnten, obwohl wir häufig nur selbst schlecht zuhören konnten und dann verbittert, aggressiv, undiszipliniert und unangemessen reagierten.
Er gab uns Zeit und ließ uns wachsen.
Er ermutigte uns, er bestärkte uns und versuchte unser fehlendes Selbstwertgefühl aufzubauen.
Gemeinsam haben wir Dinge erreicht, von denen wir vorher keine Vorstellung hatten.
Er nahm uns mit zu Vorträgen, er ermutigte uns, an verschiedenen Universitäten selbst zu sprechen, ging mit uns in den Bundestag.
Es waren Dinge, die wir uns selbst nie getraut hätten, nicht mal uns hätten vorstellen können.
Wir lernten zu diskutieren, zu streiten und zu kämpfen, wir veränderten uns, aber dieser Lernprozess ist auch heute lange nicht abgeschlossen.
Inzwischen hat sich nach all den Bemühungen, Kämpfen, Petitionen, Rückschlägen, Fortbildungen und erneuten Versuchen viel zum Positiven verändert, was heute so selbstverständlich erscheint, aber das kann nur der Anfang sein.
Es bleibt noch viel zu tun, unsere Aufgabe ist noch lange nicht zu Ende.
Herr Kappeler zog sich im Frühjahr 2012 aus gesundheitlichen und persönlichen Gründen zurück.
Januar 2012
Am 19. Januar 2012 wurde unsere Berliner Anlauf- und Beratungsstelle im Nachbarschaftshaus Friedenau offiziell eröffnet. Es gab viel Prominenz und Pressebeteiligung, aber schon im April 2012 fand ein Wechsel der Leitung statt.
Von da an merkte ich, wie eine Struktur entstand und alles plötzlich besser funktionierte.
Vor allem war uns wichtig, dass wir engagierten, ehemaligen Heimkinder in jeden Schritt eingebunden wurden.
„Unsere Anlaufstelle“ sollte nicht nur aus Büro- und Beratungsräumen bestehen, sondern wir wollten einen richtigen Treffpunkt haben, den wir uns selbst gestalten konnten, in dem wir mitarbeiten und uns auch so treffen konnten, zu Gesprächen und zum Kaffee.
Und den bekamen wir und den benutzen wir.
An fünf Tagen in der Woche machen wir ehrenamtlich eine Telefonberatung und unterstützen als Betroffene neue Betroffene, die viele Fragen stellen, reden möchten und ihre Anträge stellen wollen, aber auch viele Ängste, Vorbehalte, Unsicherheiten mitbringen.
Dienstags gibt es zusätzlich das Offene Cafe für persönliche Kontaktaufnahme.
Das ist eine sehr schwierige und belastende Aufgabe. Immer wieder wird man mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert und gleichzeitig ist das Cafe ständig voll, das Telefon steht nicht still, die Konfrontationen bleiben bei dem großen Anlauf und den langen Wartezeiten nicht aus.
Die angestellten Sozialarbeiter haben wir sorgfältig gemeinsam ausgewählt. Wir haben versucht zu erkennen, ob sie aufgrund ihrer Qualifikation für diese schwierige Aufgabe und die großen, damit verbundenen psychischen Belastungen gewachsen sind und vor allem, ob sie diese Aufgabe wirklich machen wollen.
Sie verfügen über unterschiedliche Kompetenzen und sind damit vielfältig ansprechbar.
Im Umgang mit mir persönlich spürte ich ihre Wertschätzung, ihr Einfühlungsvermögen und ihre Empathie.
Das war im April 2012, aber inzwischen sind sie so überlastet, dass die Arbeit kaum noch zu leisten ist und bereits Wartezeiten von bis zu 18 Monaten für die Antragsteller aus Ost- und West-Berlin bestehen.
Auch wir Ehrenamtliche sind total überlastet. Unser Geschäftsführer hat inzwischen eine Supervision auf unsere dringende Bitte hin eingerichtet. Alles läuft natürlich auf der Basis der Freiwilligkeit.
Gemeinsam haben wir auch eine Kulturgruppe gebildet, um etwa einmal monatlich eine Veranstaltung anzubieten, in der Heimkinder von damals eigene Werke vorstellen können, wir Ausstellungen, Lesungen und Erzählungen vorstellen oder Filme anbieten und gemeinsam diskutieren.
Eine eigene Theatergruppe probt schon eifrig, eine Malgruppe soll im Oktober beginnen und eine Schreibgruppe ist geplant.
Aber für diese Selbstorganisation besteht ein großer Bedarf an Begleitung.
Das, was an personellen Ressourcen aus der Fondsentwicklung bisher für die Beratungsstellen zur Verfügung steht, reicht für diese Begleitung nicht im Geringsten aus.
Es ist ganz viel passiert, aber es gibt immer noch und immer wieder ein schwer zu ertragendes Konfliktpotential.
Es wird deutlich, dass wir ehemaligen Heimkinder, die wir doch so ähnliche Schicksale haben und uns eigentlich verbunden fühlen müssten, noch Jahrzehnte später so viele Verhaltensweisen mit uns herumschleppen, die uns daran hindern, eine wirkliche Gemeinsamkeit zu entwickeln.
Marianne Döring, Berlin, 1.9.2013