Der erste Blick, die erste Wahrnehmung:
ausgelaugt, müde, kraftlos, erschöpft, ruhelos – so begegnen uns vom SOS-Jugenddienst des SOS-Kinderdorf e.V. Jugendliche und junge Erwachsene, die die Straße als Lebensmittelpunkt gewählt haben. Seit nunmehr 15 Jahren begleiten wir diese wohnungslosen jungen Menschen und erreichen sie über eine niedrigschwellige aufsuchende Sozialarbeit.
Aber wir erleben sie auch voller Wut, aggressiv, lautstark, zerstörerisch, radikal. Sie bewegen sich in prekären Lebensverhältnissen. Ihnen ist der Schritt in die Erwachsenenwelt noch nicht gelungen – vielfältige Hürden standen und stehen ihnen immer noch im Weg.
Im Alltag erleben sie krisenhafte Entwicklungen. Weltwirtschaftskrise, Umweltkrise, Krise der Familie und Krisen des Zusammenlebens. Sie aber suchen nach Gewissheiten, wollen ihre Ängste loswerden, erhoffen sich Stabilität und Zuversicht.
Der zweite Blick:
wenn wir uns die Mühe machen intensiver hinzuschauen, in die Tiefe zu gehen: Wir nehmen Menschen wahr, die nach einem gelingenden Leben streben, nach Anerkennung, Erfolg und dem Gefühl wichtig und wertvoll zu sein.
Dies ist ein Teil der Wirklichkeit – und der andere Teil?
Wir Erwachsene und Eltern bedrängen diese jungen Menschen oftmals mit wenig plausiblen Forderungen, moralisieren und ereifern uns. Wir fordern viel, verfügen aber selbst über unzureichende Erfahrungssicherheit. Bewährte Sicherheiten wanken. Spannungen und Auseinandersetzungen im Elternhaus, Hilflosigkeit und Überforderung von Eltern und jungen Erwachsenen lassen die Situation eskalieren.
Verbale Auseinandersetzungen, gegenseitige körperliche und seelische Verletzungen enden mit dem Rausschmiss oder Auszug des Jugendlichen (noch nicht volljährig), bzw. jungen Erwachsenen aus dem Elternhaus.
Spätestens jetzt werden sie mit einer Hartz IV-Regelung konfrontiert, die sie bei gesetzeskonformer Anwendung auf die Straße, in die Wohnungs- und Obdachlosigkeit treibt. Denn: junge Erwachsene unter 25 Jahre müssen im Elternhaus wohnen, sich in der familiären Bedarfsgemeinschaft aufhalten, ohne Anspruch auf eine eigene Unterkunft. Bitte beachten Sie die Wortwahl: Wir sprechen nicht mehr von Wohnung, sondern von einer Unterkunft. Der nächste Schritt der Anpassung an Realitäten in unserer Wortwahl ist dann Behausung.
Jetzt beginnt die tägliche Suche, meist ein entwürdigender Spießrutenlauf, um den nächtlichen Schlafplatz. Welcher Kumpel, welcher Bekannte kann mir zumindest kurzfristig ein Dach über dem Kopf zur Verfügung stellen? Welchen Preis bin ich bereit dafür zu zahlen?
Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, welche Gegenleistungen möglich sind:
materielle Güter aus Diebstahl, Drogenbeschaffung, sexuelle Dienstleistungen von Jungen und Mädchen. Die Gefahr, dass hier eine kriminelle Karriere ihren Anfang nimmt oder selbstzerstörerisches Suchtverhalten beginnt, ist deutlich greifbar. In dieser Situation wirken prekäre Lebenslage und zerrütteter Selbstaspekt (wie tief bin ich gefallen) (die Fachliteratur spricht vom Demoralisierungssyndrom) unheilvoll zusammen.
Dieser Lebens/Überlebenskampf bindet alle Kräfte. Positive Fähigkeiten und Fertigkeiten haben keine Entfaltungsmöglichkeiten mehr und drohen dauerhaft verschüttet zu werden.
Wie reagiert die Gesellschaft auf diese Wirklichkeiten, welche politischen Strategien werden angewandt?
Die Szenerie wird beherrscht von der Diskussion über Geld und Finanzen. Das ökonomische Prinzip ist zum „Goldenen Kalb“ geworden, das wir alle anbeten. Die Fokussierung auf finanzielle Erwägungen degradiert junge Menschen zu einer Kalkulationszahl, sie werden zu einer Sache, hinter der die Person verschwindet. Junge Menschen werden vorrangig als Kostenfaktor wahrgenommen – Kosten die in diesem Umfang nicht gerechtfertigt bzw. zu senken sind.
Keiner der hier Anwesenden stellt das Prinzip in Frage, dass mit den vorhandenen Mitteln ein bestmögliches Ergebnis mit möglich geringem Aufwand unter bestmöglicher Nutzung von Ressourcen erreicht werden muss. Dieses Prinzip ist verinnerlicht und wird tagtäglich angestrebt.
Zum Problem wird das Diktat der Ökonomie jedoch dann, wenn etwa bei einer Mittelverknappung der gesetzliche Auftrag gefährdet wird oder gar billigend in Kauf genommen wird, dass junge Menschen ausgegrenzt, abgeschrieben und beispielsweise dem Gesundheitswesen, der Psychiatrie oder dem Strafvollzug überantwortet werden. Es ist auch nicht hinnehmbar, dass Jugendliche (wir reden von „nicht Volljährigen“) aus der Zuständigkeit des KJHG ausgeklinkt und der ARGE überlassen werden. Jugendamt und Jugendhilfe müssen ihre Verantwortung ohne Wenn und Aber wahrnehmen. Die Jugendhilfe darf an derartigen Krisenpunkten nicht kapitulieren, Jugendliche in diesen Krisensituationen nicht abschieben. Sie muss sich den unliebsamen, unbequemen Fakten stellen und Lösungen erarbeiten.
Der niedrigschwellige, aufsuchende Arbeitsansatz des SOS-Jugenddienstes, der sich an der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen zu orientieren versucht, hat sehr viel mit Akzeptanz und grundlegendem Vertrauen in die Fähigkeiten zur Selbstgestaltung und Eigenverantwortlichkeit zu tun, aber auch mit Parteilichkeit und Sich-einmischen. Parteilichkeit heißt nicht blind und unreflektiert auf der Seite der Jugendlichen stehen, sondern sich auf sie einlassen, sie verstehen, ein Verstehen das sich nicht in erster Linie an den eigenen Erfahrungen und Einstellungen misst und diese als ungeschriebenes Gesetz voran stellt. Hier liegen Chancen mit den jungen Menschen gangbare Wege zu finden.
Zurück zur ARGE:
Das Prinzip des Fordern und Förderns beinhaltet die Gefahr einer weiteren Ausgrenzung: gefördert werden nur noch aussichtsreiche, aktivierbare Kandidaten, der Rest – die hoffnungslosen Fälle – erhält lediglich noch eine Grundversorgung in Suppenküchen („Tafeln“), Kleiderbörsen und unwürdige Behausungen, die den Namen Unterkunft nicht mehr verdienen.
Soweit die „Wirklichkeiten“, unter denen die Akteure von Jugendhilfe und ARGE des Regionalverbandes Saarbrücken sich bewegen.
Wie bewegen Sie sich?
Bei der deutlichen Steigerung der Fallzahlen der letzten Jahre von jungen Menschen in prekären Lebenssituationen, hätte die strikte Anwendung von Sanktionsmaßnahmen einen Ausgrenzungsprozess zur Folge, der das Klientel der Jugendhilfe und der Abteilung U 25 bei der ARGE Saarbrücken zur Obdachlosigkeit verdammen und einen Verelendungsprozess in Gang setzen würde, mit der Folge immenser finanzieller Folgekosten.
Um dem entgegenzuwirken, haben Jugendhilfe und ARGE U 25 einen konstruktiven Dialog begonnen und schon Lösungen erarbeitet und umgesetzt.
- Obdachlose junge Erwachsene können beim SOS-Jugenddienst der SOS-Jugendhilfen eine Postadresse einrichten, um für die ARGE erreichbar zu sein. In 2009 waren täglich bis zu 60 Personen mit einer Postadresse gemeldet. Auf das gesamte Jahr bezogen waren 213 Personen gemeldet. Der SOS-Jugenddienst prüft im Einzelfall, ob ein Zusammenleben im elterlichen Haushalt noch möglich ist. Muss dies verneint werden, kann der Jugendliche die Kostenübernahme für eine eigene Unterkunft beantragen.
Der SOS-Jugenddienst greift darüber hinaus Anliegen der jungen Erwachsenen auf und strebt eine Verbesserung der persönlichen Lebenssituation an.
- In Völklingen, Ludweiler, Geislautern und den anderen Stadtteilen erleben seit Herbst letzten Jahres Jugendliche ihr Blaues Wunder. Plötzlich steht es vor Ihnen: am Waldrand, auf der Skater-Bahn, beim Treff mit dem Kasten Bier, das blaue Mobile SOS-Büro, ein heimeliges Wohnmobil, wo sie bei einer Tasse Kaffee Ansprechpartner finden, die zuhören, aber auch unbequeme Fragen Stellen, warum sie wieder mal die Schule schwänzen oder den Termin bei der ARGE nicht wahrnehmen.
Es gibt sie, die Möglichkeiten. Die Stadt Völklingen, mit großer Unterstützung des Oberbürgermeisters, hat unsere Idee aufgegriffen und die Finanzierung für mehrere Jahre gesichert.
- Wohnraumclearing
- Regelmäßige Fallbesprechungen von ARGE, Jugendamt, SOS-Jugendhilfen und SOS-Ausbildungs- und Beschäftigungszentrum
Ausblick: Der Regionalverband ist zuständig, sowohl für die Jugendhilfe als auch für die ARGE. Dies ist eine mehr als günstige Voraussetzung für konstruktive, zukunftsweisende Entwicklungen und Lösungen.
Voraussetzung ist ein klares, kompromissloses Bekenntnis zu Lebensrecht und Menschenwürde als unumstößliches Fundament von Unterstützungsleistungen der Jugendhilfe und der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Erst wenn die Politik es unterlässt, die Keule „Einsparungen“ zu schwingen, die kurzfristig die Statistik schönen, langfristig aber höhere Folgekosten verursachen, können die vielfältigen Kompetenzen von MitarbeiterInnen der Jugendhilfe und der der ARGE fruchtbar werden.
Es geht um ein Gesamtkonzept, dass Hilfe bzw. Unterstützungsbedarf erkennt und Hilfe und Unterstützung in fachlich und ethisch angemessener Weise anbietet und nachhaltig wirkt. Gegebenfalls kann die Idee des 2. Arbeitsmarktes für Jugendliche und junge Heranwachsende ein Mosaikstein in diese Richtung sein.
In der Wärmestube Saarbrücken, z. B., ist es gelungen, 5 ehemalige Langzeitobdachlose mit unbefristeten Arbeitsverträgen auszustatten.
Wir haben die Wahl: Entweder gelingt es uns, die Kompetenzen von jungen Menschen sichtbar zu machen, ihnen Felder zu eröffnen, auf denen sie erfahren können, zu welchen Leistungen sie fähig sind, dann haben sie die Chance, für sich einen gangbaren Lebensweg in die komplizierte Erwachsenenwelt zu finden und ein Teil dieser Gesellschaft zu werden.