- Ausgabe 1/2 2007
Ich möchte einige grundsätzliche Punkte zu den Bedingungen des Aufwachsens bzw. der Verselbständigung in der heutigen Zeit benennen. Was heißt es in der heutigen Zeit aufzuwachsen?
Die Shell-Jugendstudie von 2006 hat in repräsentativen Einzelfallstudien Jugendliche ihre Situation und Zukunftschancen selbst beurteilen lassen. Hierbei lassen sich folgende generalisierende Eindrücke festhalten:
Die meisten Jugendlichen sehen ihre Zukunftsperspektiven als sehr unsicher an. Hier gilt ihre Hauptsorge der beruflichen Entwicklung, ihren Chancen auf einen sicheren Arbeitsplatz. Orientiert an dieser Prioritätensetzung soll anschließend auch die Frage der Verselbständigung diskutiert werden. Laut Shell-Studie begegnen die Jugendlichen dieser beruflichen Unsicherheit durch hohe Anforderungen an sich selbst, reagieren mit Anpassung an die Bedingungen und einer ausgesprochenen Leistungsorientierung. Dabei ist eine starke Orientierung an den sozialen Ressourcen im nahen Umfeld, ein Festhalten an den Peergroup und der Familie zu beobachten. Letztere erlebt angesichts unsicherer Zukunftsperspektiven offenbar einen Bedeutungszuwachs. Die Familie vermittelt Stabilität, Kontinuität und emotionalen Rückhalt und wird als Ressource gesehen, die durch ökonomische und soziale Unterstützung hilft, sich den Bedingungen des Arbeitsmarktes anzupassen. Jugendliche, die über diese Voraussetzungen (wie Bildung, familiäre Unterstützung, Persönlichkeitsressourcen) verfügen, fühlen sich vergleichsweise noch gut vorbereitet auf die zukünftigen Entwicklungen. Es scheint so als wäre der familiäre Halt der Garant dafür, in gesellschaftlichen Unsicherheiten sicher zu bestehen und sein Leben zu meistern. Die Familie bleibt der verlässlichste und sicherste Halt für Jugendliche in einer Gesellschaft die täglich neue Unsicherheiten und Herausforderungen bereithält.
Jugendliche, denen die benannten Bedingungen nicht zur Verfügung stehen bzw. auf wenig Unterstützungssysteme in der unmittelbaren Lebenswelt zurückgreifen können, fühlen sich schlecht vorbereitet und befinden sich in der Gefahr der Ausgrenzung, wenn sie unter diesen gesellschaftlichen Anforderungen nicht bestehen. Bei den meisten Jugendlichen, die wir z.B. im Betreuten Einzelwohnen bzw. der ambulanten Nachbetreuung begleiten, fehlt die eigene Familie als das unmittelbarste Unterstützungssystem. Laut der Shell-Studie gewährleistet jedoch familiärer Rückhalt und familiäre Unterstützung – die für die Sicherheit in der Gegenwart stehen – die Bewältigung der unsicheren Zukunft. Es sind also diejenigen Jugendlichen gefährdet auf dem Weg in die Selbständigkeit, denen die Sicherheit in der Gegenwart fehlt.
Die Shell-Jugendstudie räumt aber auch ein, dass es „die Jugend“ nicht gibt. Zum einen ist eine klare Definition von Jugend schwer, denn Jugendliche leben unter unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bedingungen, in unterschiedlichsten Konstellationen und Armut und Reichtum schafft zusätzlich unterschiedliche Ausgangspositionen. Außerdem funktionieren unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen auch die traditionellen Bestimmungen der Jugendphase, als eigenständige Lebensphase, nicht mehr:
Das heißt, es kann kaum noch auf der Grundlage von allgemeinen Merkmalen wie Alter, Abschluss von Bildungszeiten, dem Erwerb der finanziellen Selbständigkeit oder der Gründung der eigenen Familie auf den Beginn oder das Ende der Jugendphase geschlossen werden. Der gesellschaftliche Wandel hat auch Auswirkungen auf das gesellschaftliche Verständnis von Jugend. Damit ist gemeint, dass die Probleme, die Jugendliche heute zu bewältigen haben, sich kaum noch von denen ihrer Eltern und anderer Erwachsener unterscheiden. Die Jugendlichen sind gefordert, ihre eigene Biographie zu gestalten und dabei flexibel zu sein. Sie können sich dabei nicht auf tragfähige gesellschaftliche Strukturen verlassen, sondern müssen individuelle Risiken eingehen (vgl. Beck 1986) und auf Unterstützung im privaten und familiären Raum zurückgreifen. Die Jugend hat im traditionellen Verständnis demnach in der Jugendphase nicht mehr die Zeit, sich zu orientieren, zu entwickeln und zu bilden, um gut vorbereitet und gut ausgebildet in das Erwerbsleben zu starten. Sie erfährt keinen Schutzraum mehr, um sich auszuprobieren oder bei Rückschlägen/Misserfolgen aufgefangen zu werden.
Es stellt sich nun die Frage: Was kann und muss nun Jugendhilfe leisten, dass strukturell und individuell benachteiligte Jugendliche und junge Volljährige, die häufig Adressaten der Jugendhilfe sind, für die komplexen Anforderungen der individuellen Lebensbewältigung gestärkt werden?
Die Jugendlichen sind in der Gestaltung des Übergangs von der Schule in die nächste Lebensphase in besonderer Weise gefordert, denn sie können wie bereits erwähnt meist nicht auf die familiäre Unterstützung oder flexible Anpassungsleistungen zurückgreifen. Sie sind jedoch den gleichen gesellschaftlichen Anforderungen ausgesetzt wie weniger problembelastete Jugendliche.
Die gesellschaftliche Anforderung, das Arbeitsleben selbst zu organisieren, hängt ganz wesentlich von den biographischen und sozialräumlichen Möglichkeiten ab, über welche die Jugendlichen individuell verfügen. „Diese Situation erzeugt hohen Druck, der von den Jugendlichen bewältigt werden muss. Benachteiligte Jugendliche sind in der Gefahr, in diesen Bemühungen zu scheitern. Ihre individuellen und sozialen Ressourcen sind zur Gestaltung der eigenen Biographie im Blick auf den Übergang zur Erwerbsarbeit häufig nicht ausreichend. Familiäre und private Unterstützung fehlt ebenso häufig. Sie sind in besonderer Weise auf gesellschaftliche Strukturen angewiesen, die diesen Übergangsprozess unterstützen“ (Rätz-Heinisch 2004).
In der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe fallen jedoch die Hilfen für junge Volljährige bereits seit einigen Jahren unter die Sparvorgaben. Jungen Volljährigen werden im Anschluss an eine stationäre Hilfe zur Erziehung nur sehr begrenzt Hilfen zur Erziehung bewilligt. Dies ist vor allem zu beobachten, wenn Jugendliche mit dem Erreichen der Volljährigkeit aus einer stationären Heimunterbringung oder einer sonstigen Betreuten Wohnform wie dem Betreuten Einzelwohnen entlassen werden und im Anschluss im besten Fall noch ein Kontingent von ambulanten Betreuungsstunden für die Verselbständigung erhalten. Man geht davon aus, dass nach dem Ausschöpfen des Stundenkontingents der Übergang von der stationären Betreuung in die Selbständigkeit bewältigt ist. Aus der Erfahrung entfällt jedoch häufig der Blick auf die individuelle Situation der Jugendlichen und ist Stabilisierung und Nachhaltigkeit einer Hilfe kein erklärtes Ziel (vgl. Rätz-Heinisch 2004). Maßstab ist an dieser Stelle häufig doch nur das Alter und nicht der individuelle Grad der Selbständigkeit bzw. der persönlichen Reife der Jugendlichen.
Die ausgeführte Situation von Jugend verdeutlicht, dass alle Jugendlichen Unterstützung auf ihrem Weg in das Erwachsenenleben benötigen. Die Jugendphase ist jedoch aktuell eine Lebensphase, die von struktureller Ungewissheit, Krisensituationen gekennzeichnet ist. Individuell und sozial benachteiligte Jugendlichen sind selbstverständlich dieser Situation noch extremer ausgesetzt und bedürfen besonderer Unterstützung und diese kann bisher jedoch lediglich individuelle Hilfe sein! Strukturelle Formen der Gestaltung von Übergangsstrukturen sind erst zu schaffen (vgl. Schröer 2004).
Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass die individuellen Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der Jugendlichen im Vergleich zu den Erwachsenen dahingehend eingeschränkt sind, dass sich die jungen Menschen im biologischen und entwicklungspsychologischen Prozess der Adoleszenz befinden. Die Adoleszenz ist eine Zeit in der erhebliche körperliche und seelische Veränderungen stattfinden, die geprägt ist von viel Verwirrungen, des Ausprobierens und der Suche nach dem eigenen Selbst.
Nach wie vor stellt die Identitätsbildung eine wesentliche Anforderung an die Jugendzeit dar. Da die sozialen Komponenten hierbei unzuverlässig geworden sind, wird die Identitätssuche erheblich erschwert. Die zentrale Frage der Identitätsbildung: Wer bin ich? kann schwer beantwortet werden, wenn biographisch nach der Schule oder der Ausbildung eine längere Zeit der Arbeitslosigkeit anschließt (vgl. Rätz-Heinisch 2004).
Krisen- und Belastungssituationen, die durch das Zusammenspiel von biologischen, entwicklungspsychologischen und sozialen Bedingungen entstehen, begründen die besondere Unterstützung der Jugendlichen, insbesondere der benachteiligten Jugendlichen.
Die Jugendhilfe ist hier insbesondere gefordert, da bisher keine andere gesellschaftliche Institution sich der Gestaltung der Übergangsstrukturen annimmt. Ein gelungener Übergang ist aber für die Jugendlichen Voraussetzung, um überhaupt weitere Anforderungen bewältigen zu können. Die Jugendlichen benötigen in dieser sensiblen Entwicklungsphase Hilfe. Wenn bspw. ein Jugendlicher seine Zukunftsvorstellungen nicht realisieren kann, z.B. keinen Ausbildungsplatz erhält, das Geld nicht für die eigene Wohnung reicht, benötigt er einen unterstützenden Kontext, der bei der Lösung von alten Selbstkonstruktionen sowie bei Lösungs- und Neuaufbauprozessen hilft (vgl. Rätz-Heinisch 2004). Das ist meiner Ansicht nach die Basis für die selbständige und eigenverantwortliche Entwicklung des Jugendlichen und die zentrale Aufgabe der Jugendhilfe. Hierbei sollte der Trend zu standardisierten Konzepten aufgehalten werden und eher Konzepte, die konkret auf die jeweiligen Jugendlichen, deren Lebenszusammenhänge sowie individuellen Problemlagen abgestimmt sind, Anwendung finden.
Literatur:
Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1986.
Rätz-Heinisch, Regina: Brauchen junge Volljährige überhaupt Jugendhilfe? Argumente zu einer aktuellen Disskussion aus sozialpädagogischer Perspektive. Teupitz (Manuskript) 2004.
Schröer, Wolfgang: Befreiung aus dem Moratorium. Zur Entgrenzung von Jugend. In: Lenz, K./ Schefold, W./ Schröer, W.: Entgrenzte Lebensbewältigung. Weinheim u. München (Juventa) 2004.
Shell Deutschland Holding (Hrsg.): Jugend 2006. Eine pragmatische Generation unter Druck. Frankfurt am Main (Fischer Taschenbuch Verlag) 2006.