Ich freue mich, dass die HEZ ein Themenheft zum Familienrat herausgibt.
Das eröffnet die Möglichkeit verschiedene Aspekte des Verfahrens einer breiteren Fachöffentlichkeit bekannt zu machen. In Berlin wird das Verfahren Familienrat in allen Bezirken diskutiert. Jugendämter entwickeln Projekte, Träger schreiben sich das Verfahren in ihr Portfolio. Der „Spirit“ oder besser gesagt die Haltung des Verfahrens ist in Berlin jedoch noch nicht angekommen.
Institutionelle Betroffenenbeteiligung und Familienaktivierung sind seit Jahren als Trägerangebote in Berlin Mangelware. Zwar gab es in den vergangenen Jahren immer wieder Versuche diese Ansätze in die Breite zu bringen, doch sind all diese Versuche gescheitert, verkümmert oder fristen in kleinen Oasen ihr Dasein: Aufsuchende Familientherapie, stationäre Einrichtungen in denen Eltern mit aufgenommen werden (wir haben in Berlin m.W.n. 3 solche Einrichtungen) und nun Familienrat. Es eint diese Projekte/Verfahren ein erweitertes Verständnis von Betroffenenbeteiligung. Menschen sollen nicht danach unterschieden werden, ob sie Klienten oder Berater sind. In diesen Projekten/Verfahren werden Eltern und Familienangehörige vielmehr als Experten und zwangsläufige Ressource betrachtet und aktiv beteiligt.
In der Praxis finden wir demgegenüber oftmals familienergänzende oder –ersetzende Angebote, in denen Kinder oder Jugendliche ihr neues Zuhause finden sollen. Ist dies nicht der Fall, sind Kinder oder Jugendliche unbequem (oder besser gesagt: loyal ihrer Herkunftsfamilie gegenüber), oder arbeiten Eltern nicht mit (weil sie beispielsweise mit der Unterbringung nicht einverstanden sind), so entstehen die Voraussetzungen für einen teuflischen Kreislauf des Einrichtunghoppings, bishin, dass die betroffenen Kinder/Jugendlichen möglicherweise in der Kinder- und Jugendpsychiatrie landen.
Aus einer ganz anderen Richtung gerät diese klassische institutionelle Sozialarbeit nun in den Fokus: durch den Runden Tisch Heimerziehung (www.rundertisch-heimerziehung.de). Erwachsene, die als Kinder seit den 1950er Jahren in Heimen untergebracht waren, rühren sich, klagen an, fordern ein. Wie konnte sich ein Leben so und so entwickeln? Wieso wollten mich meine Eltern nicht? Wieso durfte ich nicht zuhause wohnen bleiben? Was war los?
Unabhängig der Herkunft, ob Ost oder West, wichtig ist es bestimmte Aspekte zu verstehen, die die Interaktion zwischen Betroffenen und Fachkräfte bestimmen, strukturelle Merkmale, die sich auf die Dynamik der Arbeitsbeziehung auswirken: Zwischen Familien und psychosozialen Fachkräften herrscht eine komplementäre Arbeitsbeziehung. Familien betrachten sich als Hilfesuchende, als Nicht-Experten. Fachkräfte betrachten sich als hilfreich, als Experten. Trifft eine Familie mit ihrer Einrittskarte „Problem“ aufs Hilfesystem, so werden die Fachkräfte aktiviert. Von den Fachhochschulen und Universitäten konditioniert Probleme zu erkennen und zu diagnostizieren, beginnen die Fachkräfte nun ihren Trekking-Prozess. Flankiert wird diese Fachkräfte-Aktivierung oftmals durch biographische Faktoren, die in der Vita der Fachkräfte liegen (Parentifizierung, Traumatisierung, Hilflosigkeit). Die Familien teilen den Fachkräften mit, dass es Probleme gibt, die Fachkräfte bieten an die Probleme zu lösen. Es entsteht das sogenannte Abgabemuster. Die Familien geben ihre Probleme ans Hilfesystem ab und werden inaktiv. Die Fachkräfte nehmen die Probleme an und werden aktiv. Das Drama nimmt seinen Lauf. Fachkraft A bemüht sich das Problem zu verstehen und Lösungsideen zu entwickeln. Vielleicht ist auch die eine oder die andere Idee für die Familie interessant, vielleicht aber auch nicht. Ideen kommen und gehen, Fachkräfte kommen und gehen. Burn outs entstehen. Falls Familien zu kritisch mit den Vorschlägen der Fachkräfte sind, verbünden sich Fachkräfte (A+B+C). Das Muster wechselt in den symmetrischen Zustand. Oftmals ist schon eine Kränkung bei den Fachkräften entstanden, weil die Familien die Vorschläge nicht annehmen. Nun agieren die Fachkräfte zunehmend paternalistisch. Sie meinen es gut, und das wollen sie durchsetzen.
Selbst aber wenn die Fachkräfte gut reflektiert sind, so zollen die strukturellen Trägerinteressen (erforderliche 80-90 %ige Auslastung zur Sicherung des Überlebens des Angebotes) eine Schwächung des Klientels. Hilflosigkeit sichert Strukturen. Es wirkt das sogenannte Hilfeparadoxon.
Diese Erkenntnisse sind nicht neu und in der Fachliteratur unlängst beschrieben.
Familienrat hat seine Wurzeln in einer Bürgerbewegung Neuseelands. Die Maoris protestierten Ende der 1980er Jahre gegen die britisch-koloniale Form der Sozialarbeit. Kinder wurden untergebracht, ohne dass zuvor die familiären Ressourcen der erweiterten Familie (Maori: Whanau) geprüft und strukturell genutzt wurden. Es wurde der Vorwurf des institutionellen Rassismus erhoben. Gänzlich den Vergleich zwischen den Lebensbedingungen der Maori in Neuseeland und dem deutschen Jugendhilfesystem zu ziehen, wäre unredlich. Doch lassen sich auch in der Praxis des deutschen Jugendhilfesystems Erfahrungen und Faktoren zusammentragen, die (fach-) koloniale oder zumindest paternalistische Bedingungen begünstigen:
- Die Fachkräfte konzentrieren sich auf die Arbeit mit der präsenten Kernfamilie (Vater, Mutter, Geschwister) und lassen strukturell die erweiterten Familienmitglieder außen vor (insbesondere bei unterschiedlichen Wohnorten)
- Das familiäre Netzwerk wird grundsätzlich als Ressource zur Lösungsfindung nicht genutzt.
- Fachkräfte entscheiden, ob Familien geeignet sind Lösungen zu finden oder nicht. Fachkräfte fragen nicht Familien.
- Nicht Familienmitglieder formulieren Ziele, sondern Fachkräfte (für oder über Familienmitglieder). Hieran hat auch die Einführung der Sozialraumorientierung nichts geändert.
- Die Erarbeitung von Lösungen wird von Familienmitgliedern grundsätzlich nicht erwartet, sondern von Fachkräften (Leistungserbringer).
- Lösungen, die Fachkräfte erarbeiten, müssen Familienmitglieder akzeptieren, wenn sie nicht als widerständig eingestuft werden wollen.
- Ganzheitliche Angebote (gemeinsame Wohnformen für Kinder mit ihren Eltern statt Kindesunterbringung) scheitern vordergründig an Rahmenbedingungen, tatsächlich aber am Willen und der Vorstellung der Fachkräfte
- Es fehlen strukturelle Bedingungen der Elternselbsthilfe (Eltern untergebrachter Kinder können Eltern untergebrachter Kinder unterstützen)
- Es fehlen strukturelle Bedingungen der Aktivierung von Bürgerengagement (Nachbarn, Freunde, Bekannte, die sich sozial engagieren wollen scheitern daran, dass Hilfeleistung dem Fachkräftegebot unterliegt)
Insgesamt betrachtet also lässt sich konstatieren, dass sich die Fachkräfte gewissermaßen stabil ausbalanciert haben.
Nicht von ungefähr war in den vergangenen Jahren der größte Kritiker am Familienrat der DBSH (Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit), der in einer ohnmächtigen Generalkritik (http://www.dbsh.de/html/4_2009.html) dahingehend kolportierte, dass sich in Berlin Mitte nun die Familien selber helfen müssten. Diese Kritik des DBSH ist jedoch interessant, ist gerade dieses Sprachrohr zur Aufrechterhaltung eines systemstabilen Zustandes, quasi strukturkonservativ.
Familienrat ist somit eine Provokation des Systems.
Das Konzept des Familienrates fußt auf einer erweiterten Idee. Nicht die Fachkräfte können und sollen alles meistern, sondern sie sollen diejenigen, die die Probleme haben dahingehend empowern ihre eigenen Lösungen zu finden.
Als Vordenker dieses Gedankens kann durchaus Abraham Lincoln herangezogen werden, der nicht zuletzt die Sklaverei in den USA abschaffen wollte:
Man hilft den Menschen nicht, wenn man Dinge für sie tut, die sie selber tun können.
Letztendlich also fordert das Verfahren des Familienrates die professionelle Haltung heraus. Wie begegne ich Menschen? Wie begegne ich denjenigen, die der Abgrenzung wegen „Klienten“ genannt werden? Will ich Klienten missionieren? Dazu bringen, dass sie das tun, was ich gut finde oder will ich sie darin unterstützen, dass sie ihre eigene Lösung finden.
Bei allem was Fachkräfte tun können: Ask the family!