„Wir haben online so viele Freunde, dass wir ein neues Wort für die echten brauchen“ formulierte eine deutsche Tageszeitung 2009 in ihrer Werbekampagne – und traf damit den Nagel auf den Kopf. Die digitale Vernetzung hat ein nie da gewesenes Level erreicht und bringt neben neuen Netzwerkstrukturen auch Krankheitsbilder hervor, an die sich die Soziale Arbeit anpassen muss.
Während unserer Arbeit als Koordinatoren im Familienrat trafen wir auf einen Jungen, der sich durch exzessives Computerspielen im Internet in eine Lebenssituation manövriert hatte, in der ihm mehr und mehr der Kontakt zu seinem sozialen Umfeld und der Blick für seine eigene Zukunft abhanden gekommen waren. Die aus unserer Arbeit in diesem Fall resultierenden Überlegungen wollen wir im Folgenden zur Verfügung stellen. Intention dieses Artikels ist es, auf die Thematik virtuelle Vernetzung und Internetabhängigkeit aufmerksam zu machen und denkbare Adaptionsmöglichkeiten für Familienräte zur Diskussion zu stellen.
Fallgeschichte
Ob Sonne oder Regen, ob Tag oder Nacht, es ist ihm ziemlich egal, denn er lebt in seiner eigenen Welt. Benjamin (16), der von allen Benji gerufen wird wohnt bei seiner Mutter, die sich schon vor Jahren von seinem Vater getrennt hat. Die Familie lebt von Sozialhilfe. Benjis Schullaufbahn endete ohne Abschluss nach der achten Klasse. Seit dem hängt er in der Luft, wird von engagierten SozialarbeiterInnen in die verschiedensten Projekte zur Berufsvorbereitung vermittelt. Letztendlich bleibt er selten länger als ein paar Tage, demnächst stehen deshalb Kürzungen der Bezüge vom Jobcenter an. Benji ist derzeit zwischen sechs und zehn Stunden am Tag online; surft im Web, chattet, und spielt. Bei der Frage nach seinen Interessen zuckt er müde mit den Schultern. Auf dem Bildschirm flackern Szenen eines MMORPG. Anders als im realen Leben kennt Benji hier dutzende Personen aus der gemeinsamen Gilde, die genau wie er täglich im Internet sind um zu spielen. Er hat sie noch nie gesehen, aber er weiß, dass sie ihn bei der Lösung schwieriger Aufgaben im Spiel unterstützen werden. So wie er es auch für sie tut. Freunde und Verwandte, allen voran seine Mutter, machen sich Sorgen, dass er vielleicht zu viel Zeit online verbringt. Dass das Spiel wohlmöglich zu wichtig geworden ist. Aber das ist schon lange kein Spiel mehr, sondern Teil seines Lebens.
Internetabhängigkeit, ein Exkurs
Der Reiz von MMORPGs liegt, wie bereits in der Fallgeschichte angedeutet, im starken Zugehörigkeitsgefühl zur Peergroup – sprich: der Gilde – begründet, während gleichzeitig durch immer schwierigere Aufgaben konstant Erfolgserlebnisse generiert werden. Der eigene Avatar gewinnt mit zunehmender Spieldauer an Attraktivität aus Sicht anderer Spieler. Die investierte Zeit „lohnt sich“ weil man sich einen gewissen Bekanntheitsgrad unter den Mitspielern erspielen kann und ein exklusives Expertenwissen erlangt, das einen von der Masse abhebt. So entsteht aber auch die Notwendigkeit, mehr und mehr Zeit in der virtuellen Welt zu verbringen. Es gilt den erarbeiteten Status kontinuierlich aufrecht zu erhalten und wenn möglich, sogar noch weiter auszubauen. Die Zeit vor dem Computer nimmt unfreiwillige Züge an, das Spiel wird zur Sucht.
Die hintergründigen Ursachen sind jedoch nicht im Spiel oder auch im Medium Internet an sich zu suchen. Vielmehr sind es laut Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien psychische und soziale Bedingungen der Betroffenen, die eine Abhängigkeit beeinflussen. Tatsächlich berichtet Dr. Kimberley Young, Professorin an der New Yorker St. Bonaventure University und Pionier der klinischen Untersuchung der sog. „Internetabhängigkeit“, von Betroffenen, die schildern, über das Internet sehr schnell tiefe Freundschaften gefunden zu haben, wie es sie zumeist erst nach Jahren engen Kontaktes geben könne. Das reale soziale Netzwerk würde von Zeit zu Zeit unwichtiger.
So werde die Nutzung des Internets von Süchtigen als Stress reduzierend und die Stimmung verbessernd beschrieben. Betroffene würden durch vermehrte Nutzung Angst, Frustration und Unsicherheit ausgleichen, wodurch alternative Verhaltensmuster immer seltener genutzt oder erlernt würden. Auch Young bestätigt, dass emotional schwache oder psychisch angegriffene Menschen häufiger zu begleitenden Symptomen wie z.B. Entzugserscheinungen, Depression oder gestörter Zeitwahrnehmung neigen würden.
Relevanz für den Familienrat
Zahlreiche Publikationen zum Thema Koordination im Familienrat verdeutlichen wie wichtig es ist, das soziale Umfeld einer Familie in die Vorbereitungen eines Rates mit einzubeziehen. Damit ein Plan funktioniert, ist eine verlässliche Unterstützung der Umwelt nötig und auch gewollt – immerhin liegt in eben dieser aktivierenden Partizipation das große Potential des Verfahrens. Was aber fehlt ist die Einsicht, dass Internetabhängige in zwei Welten gleichzeitig leben, wobei sie – denn das macht sie ja erst zu Abhängigen – nicht mehr willens oder in der Lage sind, die Prioritäten so zu setzen, dass sie einen Plan mit tragen könnten der nur in einer der beiden Welten relevant ist. Daher müssen beide – die virtuelle wie die reale Welt– Berücksichtigung im Familienrat finden. Mehr noch, es finden sich eine Vielzahl von Ressourcen im virtuellen Bereich. Aber um diese zu aktivieren bedarf es einigen Umdenkens.
Zunächst einmal gilt es die Affinität zum Internet, oder – wie im Fall von Benji – zum Onlinespiel, ernst zu nehmen und nicht zu tabuisieren. Wenn sich charakteristische Anzeichen eines Suchtverhaltens zeigen, sollte das ein Thema im Rat sein und die Familie wie auch die fallbeteiligten SozialarbeiterInnen dementsprechend sensibilisiert werden. Ein Experte auf dem Gebiet kann der Familie in der Informationsphase grundsätzliche Krankheitserscheinungen und mögliche Risiken näher bringen.
Der zweite Schritt besteht darin, die Online-Community in den Rat zu integrieren. Das mag zunächst befremdlich wirken, zumal wahrscheinlich – das liegt in der Natur der Sache – kein „reales“ Familienmitglied diese Menschen kennt, geschweige denn einschätzen kann. Aber genau hier liegt das Potential. Die Hoffnung besteht darin, dass die virtuellen Kontakte durch ihre Schilderungen den Horizont der Familie erweitern können. Immerhin kennen sie den Betroffenen aus einer völlig anderen Perspektive heraus. Der Schlüssel zum Erfolg liegt hier in dem Vertrauen, dass die Online-Familie bereits beim Betroffenen genießt.
Kontaktaufnahme
Es erscheint zugegebenermaßen nicht ganz trivial, Kontakt zu Personen aufzunehmen, deren tatsächliche Identität hinter Online-Namen wie „m3lt0r“, „c@t“ oder „krad^82“ verborgen liegt. Wie soll man sie ansprechen, wie überhaupt erreichen? Der Zugang kann hier nur über das Medium Internet erfolgen. Nahezu jedes Online-Spiel verfügt über ein zugehöriges Forum, in dem die Spieler für jeden sichtbar über bestimmte Themen diskutieren. Da es in solchen Foren auch immer die Möglichkeit gibt, einzelnen Spielern eine PN – eine private Nachricht – zu schreiben, wäre dies, in Abstimmung mit der Familie, ein guter Weg für einen Erstkontakt. Besser ist es natürlich, wenn der Koordinator bereits vom Betroffenen angekündigt wurde. Da es im Internet noch viel leichter als im wahren Leben ist, unbequeme Personen oder Nachrichten zu ignorieren, macht es eventuell Sinn, nicht sofort beim ersten Kontakt nach den tatsächlichen Personalien sowie Anschrift bzw. Telefonnummer zu fragen um den Gegenüber nicht zu irritieren.
Familienrat digital
Ist der Kontakt hergestellt und die Betreffenden einer Mitarbeit am Familienrat gegenüber nicht abgeneigt, gilt es, die tatsächliche Beteiligung zu organisieren. Obwohl ein persönliches Erscheinen als Brückenschlag zwischen realer und virtueller Lebenswelt ideal wäre, ist dies aus verschiedenen Gründen (Fahrweg, etc.) vielleicht nicht möglich. Was also tun?
a) Audio-, Video- oder Textbotschaft
Die einfachste Variante bestünde darin, um eine Botschaft in Form eines Briefes, einer gesprochenen Nachricht oder eines kurzen Videos zu bitten. Diese kann dann während des Rates verlesen bzw. abgespielt werden. Allerdings verliert sich so auch einiges an Dynamik, da die Teilnehmer nur schwer einen weiteren Beitrag zum Rat leisten können.
b) Videokonferenz
In Zeiten von Flatrates und Internettelefonie ist es meist problemlos möglich, einen oder mehrere Teilnehmer über eine Videokonferenz am Familienrat teilnehmen zu lassen. Anbieter wie Skype oder Oovoo bieten eine gute Bild- und Tonqualität und sind gleichzeitig in der jeweiligen Basisversion kostenlos. Benötigt wird neben einem Internetzugang je eine Internetkamera (Webcam) sowie ein Mikrofon. Viele Laptops haben beides schon in der Standardausführung integriert.
c) Online-Rat
In sehr großen Communities, z.B. in einem Online-Spiel bei dem die Mitspieler von verschiedenen Kontinenten kommen, macht es unter Umständen Sinn, den Familienrat vollständig ins Spiel zu verlagern. Das ist möglich, da die virtuelle Welt der MMORPGs nahezu beliebig viele „Räume“ bietet, in denen man eine Konferenz abhalten könnte, ohne das eigentliche Spiel zu spielen. Die technischen Anforderungen sind identisch mit denen einer Videokonferenz, jedoch wird die Webcam mit einer virtuellen Figur – einem so genannten Avatar – ersetzt, den jeder Teilnehmer vor dem Rat erstellt. Ebenso benötigt jeder Teilnehmer einen Computer/Laptop mit Internetanschluss und muss sich im Spiel anmelden (einen Account eröffnen), falls er oder sie zuvor nicht im Spiel aktiv war.
Eine sehr spannende Variante zum Einsatz des Internets im Familienrat wird von der EigenKrachtCentrale in den Niederlanden genutzt. Im „e-circle“ Projekt erhält jeder Familienrat eine individuelle, passwortgeschützte Seite im Internet, auf der alle Teilnehmer des Rates die Möglichkeit haben, sich über Fortschritte auszutauschen, Daten zum Rat abzufragen oder zusätzliche Informationen zur Methode einzuholen. Die Seite wird von einem oder mehreren Familienmitgliedern regelmäßig aktualisiert und bearbeitet.
Anforderungen an den Plan
Unabhängig von der Beteiligung der Online-Community sollte vor allem der Plan den Bedürfnissen der Situation angemessen sein. Hier gilt es wieder die Perspektive desjenigen einzunehmen, der sich in der virtuellen Welt kontinuierlich einen Status und eine Gemeinschaft erarbeitet hat. Enthält der Plan des Rates eine 100%ige Trennung vom Internet, würde das nicht nur das Ergebnis der so investierten Zeit und Energie in ihrem Wert extrem herabsetzen, man würde den Spielenden auch gleichzeitig von seiner Community trennen, ihn gewissermaßen entwurzeln. Sinnvoll dagegen können festgelegt Spielzeiten sein. Gelingt es im Vorfeld die Online-Community mit in den Rat einzubinden, kann diese bei der Durchführung eines solchen Plandetails mithelfen, indem z.B. spielinterne Missionen in die entsprechende Zeit gelegt werden. Der zeitliche Rahmen dieser Online-Sequenzen sollte in jedem Fall von Insidern festgelegt werden, viele MMORPGs sind in Intervallen von 30 Minuten oder auch einer Stunde gar nicht mehr effektiv nutzbar.
Fazit
Familienrat basiert auf der Mobilisierung und Beteiligung des Netzwerkes eines Kindes oder jungen Menschen zur Entscheidungsfindung in wechselnden Kontexten. Davon ausgehend kann es nicht ausreichend sein, das klassische soziale Netzwerk zu erfassen. Vielmehr gilt es auch Peergroups, etc. aus virtuellen Netzwerken mit einzubeziehen. Letzteres ist besonders im Kontext potentieller Internetabhängigkeit von Bedeutung, da die Umsetzung einzelner Vereinbarungen realistisch nur dann erfolgen kann, wenn der Plan in beiden „Lebenswelten“ relevant ist.
Pascal Schütt – schuett.pascal@googlemail.com , Christian Hilbert – mail@christian-hilbert.net
Quellen
Young, Kimberley S. (1999): Caught in the Net – Suchtgefahr Internet; Kösel-Verlag GmbH und Co.; München
Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (2011): Zu viel Zeit am Bildschirm? Wenn die Faszination am Computer spielen Sorgen macht. http://www.bundespruefstelle.de/bpjm/redaktion/PDF-Anlagen/zuviel-zeit-am-bildschirm-computerspielen,property=pdf,bereich=bpjm,sprache=de,rwb=true.pdf