Es ist ein warmer spätsommerlicher Nachmittag, als ich an der Gartenpforte vom Mischlingshund der Familie W. gründlich beschnuppert und dann willkommen geheissen werde. Ich habe mich bei Johannes und Birgitta W. zu einem Interview eingeladen. Die beiden, ein Ehepaar Mitte 40, sind seit Anfang 2010 als ehrenamtliche Paten bei “PuK – Paten und Kinder” im gutbürgerlichen Steglitz- Zehlendorf tätig.
Wie sind sie auf diese Möglichkeit gestoßen, sich ehrenamtlich zu betätigen, und wie haben sie zu PuK gefunden?
Frau W.: “Wir haben einen Weihnachtsmarkt in unserer Kirchengemeinde besucht. An einem der Stände haben wir die Faltblätter gesehen und eines mitgenommen. Zu Hause haben wir dann darüber gesprochen. Ich habe keine Kinder bekommen, weil ich immer sehr berufsbezogen orientiert und auch ehrgeizig war. Entweder ließ es sich gerade nicht vereinbaren oder es gab nicht den Partner, mit dem ich es mir hätte vorstellen können. Einige Jahre nach unserer Heirat hatten wir mit dem Thema “eigene Kinder” bereits abgeschlossen, konnten uns aber damals schon vorstellen, mal so etwas zu machen. So passte es dann gut zusammen.”
Und was fanden sie dann so gut, dass sie sich zum Bleiben entscheiden konnten?
Herr W.: “Nun zuerst einmal, dass wir freundlich eingeladen wurden und uns während der Vorbereitungszeit nie unter Druck gesetzt fühlten. Wir hatten uns ja telefonisch gemeldet und einen Termin ausgemacht. Fr. A. (die Koordinatorin des Patenschaftsprojektes, Verf.) nahm sich ausführlich Zeit für ein persönliches Gespräch. Wir hatten auch das Gefühl, unsere Wünsche wirklich sagen zu dürfen. Und es war gut, dass es sich um ein kleines, überschaubares Projekt handelt, denn bei einer größeren Organisation hätten wir uns doch eher zurückgehalten. Wir fühlten uns durch Fr. A. sehr gut vorbereitet auf die Patenschaft, die dann begann.”
Auch Helene und Paul T. betonen, zu Anfang ihrer Patenschaft gänzlich andere Erwartungen gehabt zu haben. Sie sind etwas ältere Paten, haben eine bereits erwachsene Tochter. Auch wenn sie nicht mehr beruflich eingespannt sind, wäre ihr Alltag durch eine ganze Reihe von Beschäftigungen und Verpflichtungen, mit Vereinsleben und Wochenendgrundstück, gut ausgefüllt. Dennoch begleiten sie ihr Patenkind Alex seit kurz vor seiner Einschulung nun schon seit bald 6 Jahren. Auch bei ihnen waren es die Hunde, zwei lebhafte Mittelschnauzer, die mich genauestens unter die Lupe nahmen, bevor unser Interview beginnen durfte. Und auch in dieser Familie spielen die Hunde eine wichtige Rolle in der Patenschaft.
Wenn Sie beschreiben, wie Sie Ihr Patenkind kennen gelernt haben, woran erinnern sie sich, was war bedeutsam?
Herr T.: “Wir lernten Alex bei sich zu Hause, im Beisein seines (2,5 Jahre jüngeren) Bruders und seiner Mutter kennen. Meine Frau wollte sehr gerne mit der Mutter sprechen und ich fragte die Kinder, ob sie nicht in ihrem Zimmer etwas mit mir spielen wollten. Allgemein waren wir anfangs recht überrascht darüber, wie gut die Familie wirtschaftlich dastand. Eine recht große Wohnung, die Kinder hatten regelrechte Berge von Spielzeug. Ich weiß nicht mehr, welches Brettspiel es war, aber wir kamen dann ganz gut miteinander zurecht.
Frau T.: “An sich hatten wir uns ein Mädchen gewünscht, und zwar ein jüngeres Kind. Wir hatten vor allem auch daran gedacht, einer Familie wirtschaftlich unter die Arme greifen zu können, aber hier bekamen wir es mit einer beruflich ausgesprochen erfolgreichen Mutter zu tun. Das hat uns am Anfang sehr verunsichert, weil wir nicht erkennen konnten, wo wir denn gebraucht würden.” (Die Mutter hatte sich aufgrund eines Aushangs in der Grundschule an das Patenprojekt gewandt.)
Bei Frau und Herrn W. erhalte ich auf diese Frage folgende Antwort:
Frau W.: “Ruben war neun, als wir ihn kennen lernten. Wir fanden ihn ausgesprochen verschlossen, scheu und ängstlich, so daß wir regelrecht erschraken und dachten: Das wird nix. Aber wir wussten von Fr. A., daß er sich sehr einen Hund wünschte und da hatte ich die Idee, ob er vielleicht Fotos von unserem Benny sehen wollte, die ich extra mitgebracht hatte. Dafür hat er sich dann tatsächlich interessiert und so konnte es dann losgehen.”
In beiden Interviews spielen die Rahmenbedingungen der Eingangssituation, in der die Paten Kontakt aufnehmen, eine wichtige Rolle.
In der Regel beschäftigen sich alle späteren Patinnen und Paten schon länger mit ihrer Patenschaft, bevor ihnen dann irgendein alltäglicher Hinweis unter die Augen kommt und sie erste praktische Schritte unternehmen lässt. Dann ist es von immenser Bedeutung, sie auf die richtige, für sie passende und der Ernsthaftigkeit und Bedeutsamkeit der späteren Patenschaft entsprechende Art und Weise zu empfangen. In der Vorbereitung soll die Privatsphäre so weit als möglich respektiert werden, nicht ohne kritische Punkte genau und offen anzusprechen. Egal ob der erste Kontakt auf neutralem Boden (z.B. beim anbietenden Träger) oder schon in privaten Räumen stattfindet: Das Gelingen der Passung hängt davon ab, wie gut die Vorbereitung strukturiert ist, wie gut die koordinierende Fachkraft Verständnis für die Bedürfnisse und Wünsche der Paten gewinnen und wie gut sie innerhalb dieses Rahmens ggf. öffnend wirken kann. Dann kann es vorkommen, dass die ursprünglichen Vorstellungen zur späteren Patenschaft nicht oder nur teilweise passen. Es passen auch nicht alle Paten zu allen Kindern. Dementsprechend muss klar und offen gesagt sein, dass noch nach dem ersten Kennenlernen beide Seiten absagen können. Auch in der weiteren Begleitung einer Patenschaft kann es immer wieder zu durchaus diffizilem Beratungsbedarf und -aufwand kommen. Kann dem nicht in angemessener Weise entsprochen werden, wird die Patenschaft sehr wahrscheinlich nicht zu Stande kommen oder recht bald wieder zu Ende gehen.
[Es soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass hier auch ein Risiko besteht. Selbstverständlich gibt es Erwachsene, die sich für eine Patenschaft interessieren, vor deren Motiven Kinder aber geschützt werden müssen (als Präventionsinstrumente seien hier v.a das erweiterte polizeiliche Führungszeugnis und das sehr frühzeitige Einholen einer Erlaubnis zur Weitergabe persönlicher Daten genannt). Siehe auch: http://puk-in-berlin.de/formulare/ )
Für die Organisation eines Patenschaftsprojektes bedeutet das, eine Struktur bzw. eine Koordinationsstelle vorzuhalten, die
- dauerhaft und verlässlich,
- spezifisch qualifiziert und
- bei allem Vorrang der Bedürfnisse der Patenkinder (für die das Projekt ja in erster Linie besteht) offen für die Bedürfnisse der Patinnen und Paten ist.
Gab es in ihrer eigenen Kindheit und Jugend etwas, das Ihnen die Idee, eine solche Patenschaft zu übernehmen, nahe liegend scheinen ließ?
Frau W.: “Im Rückblick muss ich sagen, dass ich mich in meiner Kindheit eigentlich die ganze Zeit sehr unglücklich gefühlt habe. Meine Mutter war sehr distanziert und fordernd, sah eigentlich nie auf meine Nöte oder Bedürfnisse. Ich musste immer sehr diszipliniert sein und habe lange gebraucht, bis ich mich getraute, ein „Ich“ zu entwickeln und meine eigenen Wünsche innerlich anzunehmen. Wenn ich auch sehr lange und hart daran arbeiten musste, meine Mutter zu akzeptieren wie sie ist, so denke ich doch, dass dies mir heute hilft, Rubens Mutter so annehmen zu können wie sie ist. Ich weiß, sie macht es so gut wie sie kann.
Ich war auf einer katholischen Privatschule, hatte strenge Lehrer, musste immer fleissig sein. Später dann, als junge Frau, war ich in meinem kaufmännischen Beruf recht erfolgreich. So wurde ich mit Anfang 30 verantwortlich für 60 Mitarbeiter. Nur die Arbeit mit den Azubis in unserem Betrieb hat mir letztlich viel Spaß gemacht und etwas gegeben. Ich glaube, aus mir wäre auch eine gute Lehrerin geworden.”
Herr W: “Ich habe eine rundum glückliche und zufriedene Kindheit gehabt, übrigens hier in der Gegend wo wir nun unser Haus gekauft haben. Ich war von Anfang an mit meiner Frau gemeinsam überzeugt von der Idee, eine Patenschaft zu übernehmen. Ich finde, ich habe etwas zurückzugeben. Liebe, Fürsorge, Kümmern. Ich habe einfach auch viel Spass am gemeinsamen Tun mit Ruben.”
Frau T.: “Ich bin in den Nachkriegswirren aus Pommern nach Berlin gekommen. Wir haben einige Zeit im Auffanglager gelebt. Ich glaube, aus dieser Zeit habe ich die Überzeugung bewahrt, dass es darauf ankommt, zusammenzurücken und sich gegenseitig zu helfen. Ich habe dann auch einen sozialen Beruf gelernt, bin medizinisch-technische Angestellte geworden und habe zum Schluss bis zur Rente hier in der Nähe im Krankenhaus die Röntgenabteilung geleitet. Und dann haben wir ja mit unserer eigenen Tochter nicht den Kontakt, den wir uns als Großeltern eigentlich gewünscht hätten. So konnten wir uns auch nicht so um unsere Enkel kümmern, wie wir das sonst bestimmt getan hätten. Also haben wir jemand gesucht, der sich auch helfen lassen wollte.”
Herr T.: “Ich konnte ja damals nicht studieren, aber ich wäre schon als junger Mann gerne Lehrer geworden. Es macht mir viel Freude, dem Jungen und seinem Bruder alles mögliche Neue zu zeigen um ihre Interessen zu wecken, mit ihnen auch für die Schule zu üben, ihnen das Lesen nahe zu bringen und solche Sachen.”
Jede Patin und jeder Pate hat ganz persönliche, in der eigenen Lebensgeschichte begründete Motive, sich in dieser Form für eine Beziehung, für ein Kind, zur Verfügung zu stellen. Es sind dies oft sehr emotionsgeladene Wünsche und Träume (eben nicht konkrete Ziele) deren Formulierung womöglich professionelle Qualifizierungsmaßnahmen erfordern würde.
Dies ist ein ganz wesentlicher Unterschied dieser Arbeit zu jeder Art von professionellem Tun und der schwerwiegendste Grund, warum dieser Raum als ehrenamtlich ausgefüllter Raum besondere Vorkehrungen, besonderen Schutz und besondere Anerkennung verlangt.
Wir alle kennen als Fachkräfte der Hilfen zur Erziehung Äußerungen von Kindern mit dem Tenor: “Du kümmerst Dich doch nur um mich, weil Du dafür Geld bekommst.”
Aus unserer beruflichen Rolle heraus werden wir mit diesen Äußerungen immer so umgehen, dass wir die Kinder, die auf diese Weise ihr tiefes Bedürfnis nach wahrhaftige menschlicher Zuwendung äußern, auf die immer auch vorhandenen persönlichen Beziehungsanteile zu orientieren, sie damit zu trösten versuchen.
Angesichts des ehrenamtlichen Beziehungsangebots aber, das ein Pate einem Kind in einer solchen Patenschaft macht, müssen wir konstatieren: Die Kinder äußern natürlich etwas völlig Richtiges und sehr Bedeutsames. Die persönlichen Motive der Patinnen und Paten lassen eine viel weniger abgegrenzte und viel persönlichere Qualität und Wahrhaftigkeit in der Begegnung zu, als eine professionelle Helferbeziehung. Es eröffnet sich ein völlig anderer Raum mit völlig anderen Möglichkeiten:
Eine Patenschaft dauert so lange, wie sie sich für beide Seiten gut anfühlt. Sie darf das auch, ist nicht abhängig von Zeit- oder Inhaltsvorgaben eines irgendwie zielgerichteten “Hilfe”- Auftrags. Sie ist eine Angelegenheit, die immer einzigartig sein darf und soll.[1] Obwohl die Eingangsbedingung zunächst nur die ist, dass von einer Bereitschaft zu Treffen über ein Jahr (1x wöchentlich) ausgegangen wird, so kommen doch fast alle Patinnen und Paten mit der Vorstellung, dass eine mehrjährige, vielleicht sogar lebenslange Beziehung entstehen kann bzw. möge (dies liegt wahrscheinlich auch an der ursprünglich christlich geprägten Bedeutung des Wortes Pate i.S.v. Begleiter durch die Entwicklung des Kindes, Unterstützung für die Eltern in allen Fragen der Erziehung und Ausfallbürge wenn die Eltern das Kind nicht versorgen können). Auch ein Abschied aus einer Patenschaft darf so lange dauern, wie er braucht, ist in keiner Weise z.B. durch Kostenübernahmezeiträume vorgegeben.
In beiden Interviews ging es um bereits langjährig bestehende Patenschaften. Daher lag die Frage nah nach positiven und negativen Entwicklungen über die Zeit und vor allem:
Was haben Sie von der Patenschaft eigentlich selbst und was denken sie, haben die Kinder (und ihre Familien) davon?
Herr und Frau T.:
Herr T.: “Wir haben ganz viele Ausflüge gemeinsam unternommen und einfach viel schöne Zeit miteinander gehabt, die Patenschaft hat Leben in unser Haus gebracht. Es war auch sehr schön, zu sehen, wie es für Alex nach und nach immer selbstverständlicher wurde, hier eine Art zweites Zuhause zu haben, uns Oma und Opa zu nennen, uns auch beanspruchen zu können. Und wie unbeschwert es ihn werden ließ, wenn er hier ein Weilchen mit unseren Hunden gespielt hatte. Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich ihm solange und so viel Märchen vorlesen würde. Im späteren Verlauf konnten wir dann ja auch genauer sehen, wozu wir gebraucht wurden. Alex’ Mutter hatte sich vom Vater der Jungs getrennt, nachdem er wg. einer psychischen Krankheit lange im Krankenhaus gewesen war.”
Frau T.: “Ja, und die Eltern haben einiges von ihren Streitereien an den Kindern ausgelassen. Es war und ist bis heute nicht einfach, da nicht zwischen die Fronten zu geraten. Jedenfalls war unser Haus immer eine Art Ruhepol für Alex. Wer weiß wie er mit seiner ruhigen, zurückgezogenen Art sonst reagiert hätte, wenn er uns nicht gehabt hätte. Wir staunen oft, wie lange wir uns heute bei Tisch über alles Mögliche unterhalten und fragen uns, wo stecken die Kinder das alles hin, wenn sie sonst zu Hause nachmittags immer alleine sind?”
Herr T.: “Es ist ja heute, mit 12 Jahren, noch so, dass er sich bei uns, wenn wir mit dem Mittagessen fertig sind, gerne auf dem Sofa ausruht. Wenn ich ihm dabei vorlese, schläft er oft tief und fest ein! Er ist nämlich ansonsten praktisch nie zu Hause, weil seine Mutter dafür sorgt, dass die Kinder von Mo früh bis So abends irgendwelche Aktivitäten haben. …
Und nun hat sie ja einen neuen Freund. Mal sehen, ob nun auch für uns alles anders wird. Wir stehen auch irgendwie dazwischen, weil wir den Vater der Kinder als ausgesprochen liebenswürdigen Mann kennen gelernt haben, der sich gern mehr um seine Kinder kümmern würde, es aber eben nicht kann. Er hat uns ja auch einmal mit den Kindern auf unserem Grundstück besucht und wir haben den Eindruck, dass beide Jungs ihn sehr lieben. Wir sind manchmal schon sehr unsicher, ob sie das zu Hause eigentlich sagen dürfen – und wie wir uns dazu stellen sollen.”
Frau T.: “Genau, und zwar insbesondere dann, wenn ihre Mutter für unseren Geschmack ein bisschen zu selbstverständlich davon ausgeht, dass wir uns um die Kinder kümmern, wenn sie mal ein, zwei Tage mit ihrem Freund haben möchte oder eine plötzliche Dienstreise ansteht. Ich hab jetzt neulich zum ersten Mal einen deutlichen Strich gezogen und gesagt, da können wir nicht und da kann sie nicht auf uns zählen.”
Familie T. blickt auf eine lange Zeit gelungene Patenschaft zurück. Sie sind sich aktuell nicht wirklich im Klaren, welchen Schutz sie ihrem Patenkind in schwieriger Zeit gegeben haben. Weil sich alles lange Zeit einfach und auf-der-Hand-liegend anfühlte. Wir dürfen davon ausgehen: Dies war nicht nur für sie als Paten so, sondern auch für Alex. Er hat vielleicht gar nichts Hilfebedürftiges in seiner Selbstwahrnehmung festgestellt, obwohl er mit seiner Familie ohne weiteres auch Empfänger einer Hilfe zur Erziehung hätte werden können. Stattdessen hat Alex vielseitigste Anregungen und Kulturvermittlungen bekommen, die ihn in seiner Weltaneignung ganz sicher positiv beeinflusst haben. Auch sein Bruder hat von der Patenschaft stark profitiert, obwohl er zu Beginn nicht in erster Linie Adressat der Zuwendung von Familie T. war (nachdem er gesehen hatte, was sein Bruder da bekam, wurde auf seinen Wunsch hin auch für ihn eine Patin gesucht und gefunden).
Nun, da sich das Familiensystem ihres Patenkindes zu verändern beginnt, wird es auch viel schwieriger für Familie T.: Sie sehen die Probleme, die Alex damit sicher hat (neben seinen Hoffnungen auf eine wieder intakte Familie). Alex vertraut sich ihnen mit den Sprechverboten aus dem Trennungskonflikt seiner Eltern an und mutet ihnen damit einen Loyalitätskonflikt zu. Er kann sich nicht fragen, ob und wie sie dies tragen können und wollen. Es entrüstet sie, zu einer Art Abstellort für die Kinder zu werden, auf den die Mutter jederzeit zurückgreift, ohne sich groß Gedanken zu machen. Die Formel, mit der sie ihre Befürchtung derzeit ausdrücken:
“Er is`n ganz Lieber, das ist ja das Problem.”
Herr und Frau T. wollen demnächst einmal wieder eine Beratung bei der Koordinatorin in Anspruch nehmen, besuchen auch regelmäßig die angebotenen Patencafés. Sie sind sich sicher, dass sie ihr Beziehungsangebot an Alex in der einen oder anderen Weise aufrechterhalten wollen und können, müssen sich aber eine neue Grenzziehung ggü. seiner Mutter überlegen und einüben. Sie sind darauf vorbereitet, dass Alex mit Eintritt in die Pubertät zunehmend weniger Interesse an Besuchen bei ihnen haben wird. In entsprechendem Maße wird auch ihre Belastung abnehmen. Kommt es anders, und die neue Beziehung der Mutter erweist sich nicht als stabil, so werden Frau und Herr T. womöglich wieder zu den Personen in Alex Lebenswelt, die ihm etwas Stabilität geben können, soweit sie es vermögen.
In professionell deformierter Sprache: “personelle Ressourcen im Sozialraum”.
Und wenn sie es nicht sein können – oder er es nicht von ihnen annehmen möchte, aber dennoch braucht – dann können sie ihn durch ihre Einbindung in die Struktur ihres Patenschaftsprojektes vielleicht dabei unterstützen, sich an die geeignete Stelle zu wenden, wenn er eines Tages tatsächlich Hilfe benötigen sollte.
Alex ist zu wünschen, dass er diesen sicheren Ort seiner Kindheit nicht vergisst und ihn wenigstens noch ab und zu aufsucht. Er ist dazu nicht verpflichtet. Es ist nicht wie in einer Familie, wo die Beziehung für beide Seiten Verpflichtungscharakter hat.
Daher schmerzt der Ablösungsprozess in besonderer Weise.
Familie W.
Für Herrn und Frau W. bedurfte Ruben zu Beginn der Patenschaft vor 4 Jahren zweifelsfrei ihres Beistandes. Er war gerade nach einer monatelangen Pause der “Unbeschulbarkeit” in der dritten Klasse seiner dritten Schule angekommen. Seine Mutter war sehr um die Patenschaft bemüht, weil sie sich angesichts verschiedenster Schwierigkeiten mit seiner und der Erziehung seines Bruders überfordert fühlte und Entlastung suchte. Sie wohnt mit den beiden Kindern getrennt von Rubens Vater, der mit einer Suchtproblematik lebt und aktuell wieder einen beständigen Kontakt aufzubauen und zu halten versucht.
Frau W.: “Ruben hat sich ganz langsam geöffnet und dabei hat unser Hund eine große Rolle gespielt. Ruben ist – oder war – ja ein sehr zurückhaltendes Kind, aber an Benny muss er immer wieder Klarheit in der Kommunikation und Durchsetzungswillen üben. Die beiden spielen bis heute bei jedem Besuch erstmal eine Weile ganz vertieft miteinander. Gar nicht wild, eher innig. Wir haben den Eindruck, dass sich Ruben ganz viele Kuscheleinheiten bei unserem Hund holt.
Leider ist Ruben oft wg. kleinerer Krankheiten zu Hause, 40 Fehltage im Schulhalbjahr kommen durchaus vor. Seine Mutter besteht dann eher nicht darauf, dass er zur Schule geht. Sie hat uns erzählt, dass Ruben vom ersten Tag an riesige Schwierigkeiten in der Schule hatte, vor allem sehr stark gehänselt oder gemobbt wurde. Und wenn es stimmt, was sie uns erzählt hat, dann wurde er auch von seinen Lehrern stark abgewertet und beschämt. Er hat deswegen gleich schon die erste Klasse wiederholt und wollte nach dem ersten Schulwechsel zu Beginn der zweiten überhaupt nicht mehr hin; hat nur noch geweint und geschrien. Das war wohl ein regelrechtes Schultrauma.”
Herr W.: “Dabei erleben wir ihn hier als ausgesprochen schlauen Jungen mit vielen Ideen, sehr kreativ, für alle Angebote offen und an Vielem interessiert. Leider wird dieses Interesse aber von zu Hause nicht immer entsprechend gefördert.
… Wir sind so halb und halb mal unterwegs, mal hier zu Hause. Dann lesen wir gemeinsam vor, da hat er auch nach und nach Interesse dran gewonnen. Oder wir sind im Garten aktiv, mit Benny unterwegs oder basteln mit allen möglichen Materialien. Neulich hatte meine Frau mal keine Zeit, da ziehe ich auch mal alleine mit ihm los, da machen wir dann so “Männersachen”.
…
Frau W.: “Da haben wir ja auch viel Orientierung in der Stadt mit ihm geübt, was er gar nicht so konnte, weil er so schüchtern und ängstlich ist. Dabei fällt mir ein: Was uns beide erschreckt hat, ist wie viel Ablehnung Ruben als Kind mit dunkler Hautfarbe von den Deutschen erfährt, das hätten wir niemals gedacht. Aber schon bei unserem ersten Ausflug, das war zum Rodeln: Es hat sich niemand mit uns unterhalten, alle haben sich mit abfälligen Blicken abgewendet, kein Kind hat mit ihm Kontakt aufgenommen, obwohl er sich ganz normal verhalten hat. Eigentlich fällt uns jedes Mal, wenn wir unterwegs sind, so etwas auf. Ohne Ruben wüssten wir davon nicht mal ansatzweise etwas davon, dass wie stark diese alltägliche Ausländerfeindlichkeit ist und wie einschränkend, z.B. würde die Mutter nie mit den Kindern nach Hellersdorf fahren.
…
Es war auch ganz wichtig, dass wir nie irgendwelche schulischen Anforderungen an ihn gestellt haben. Wir machen nie Schularbeiten oder so etwas. Fr. A. hatte uns schon darauf vorbereitet und wir empfanden es dann auch genau so: Er hat ja einen sehr willensstarken Bruder, von dem er sich tendenziell immer ein bisschen unterbuttern lässt, bzw. ließ. Da schien es uns erstmal wichtig zu sein, dass hier bei uns mal zur Abwechslung nur das lief, was er mochte. Wir wissen aber, dass er bald nicht mehr immer dann mit Krankheit reagieren kann, wenn mal eine Anforderung an ihn gestellt wird. So langsam möchten wir nun dazu beitragen, dass er seine Kompetenzen und seine Fähigkeit, sich einzubringen, weiterentwickeln kann. Unsere Aufgabe hat sich verändert.
[Nachtrag im Jahr 2016: Ruben hat übrigens den MSA mit gutem Ergebnis gescgafft und eine Lehrstelle gefunden – Glückwunsch!, der Autor]
Wie ist denn ihre Beziehung zu den Eltern ihres Patenkindes?
Frau W: “Naja, da halten wir uns sehr zurück. Seine Mutter ruft in großen zeitlichen Abständen hier an und erzählt dann z.T. sehr ausführlich, fragt auch nach Rat. Aber ich versuche, so wenig wie möglich zu sagen. Es ist so ein ganz anderes Lebenskonzept. Wir bringen uns nur zu den Themen ein, die von Ruben oder seiner Mutter kommen. Wir drücken auch immer aus, dass Verabredungen mit dem Vater Priorität haben, wenn sie von den Kindern gewünscht sind, so wie wir uns auch nach den Treffen mit ihm erkundigen. Wir spüren schon, wie enttäuscht, traurig und wütend er auf seinen Vater ist, das darf er auch sein. Aber wir versuchen, ihm die Kultur seines Vaters nahe zu bringen und ihm zu zeigen, dass sein Vater nicht nur wie jeder Mensch Defizite hat sondern auch starke Seiten. Und auch, wie er lernen kann, mit dem umzugehen, was sein Vater ihm bieten kann.
Aber wir machen uns schon große Sorgen, wie es mit ihm weitergeht. Was er mal nach der Schule machen soll, da gibt`s noch gar keine Idee und er ist ja jetzt schon in der achten Klasse. Leistungserwartungen sind immer noch nicht so einfach für ihn und führen immer wieder zu Verweigerung und Flucht in Krankheit.
Auch Familie S. ist überaus nah an der Lebenssituation ihres Patenkindes dran und als Stütze sehr wichtig. Herr und Frau S. haben für sich eine konkret benennbare Grenze gesetzt, um sich zu schützen, aber auch um die Patenschaft nicht zu gefährden. Auf eine vermittelte Weise spielen auch dabei die verarbeiteten Kindheitserfahrungen von Frau S. eine wichtige Rolle, indem sie ihr Akzeptanz für eine Lebensweise ermöglichen, die so gar nicht die ihre und die ihres Mannes ist.
Im Verlauf des Gespräches erarbeiten wir sogar gemeinsam eine Art systemische Hypothese von Rubens Situation derart, dass er womöglich deshalb nicht erfolgreich sein darf, um seiner Mutter so zu signalisieren, dass er sie weiterhin braucht.
Rubens Familie ist derzeit eher ein Beispiel für eine Patenschaft, die die Paten auch überfordern könnte, so hoch scheinen die Belastungen in Summe. Dass sie dennoch trägt, ist wohl vor allem den Paten zu verdanken, die zu offener Reflektion bereit sind und der kundigen Begleitung durch die Koordinatorin, die dies atmosphärisch ermöglicht. Auch Ruben wird seine Paten im Laufe seiner Pubertät vermutlich seltener besuchen und auch er wird bei ihnen trotzdem einen Ort haben, an den er zurückkehren kann, wenn er Unterstützung braucht.
Und was würden Sie sich für sich wünschen?
Frau W.: Wir hatten zwei, drei sehr entlastende Beratungsgespräche mit der Koordinatorin Fr. A. Die haben uns sehr geholfen, zu verstehen, warum die Dinge so sind und nicht anders und wie wir damit umgehen können, so dass es auch für uns o.k. ist. Die Austauschgespräche mit den anderen Paten sind auch ganz hilfreich, auch wenn es natürlich Paten gibt, die das Ganze komplett anders angehen als wir. Solche Gespräche würden wir nicht besuchen, wenn es ein größerer Rahmen wäre, denn man gibt ja schon auch viel von sich preis. Sicher könnten wir uns bei Fr. A. auch noch mehr konkrete “Anleitung zum Bessermachen” holen, so etwas wie entwicklungspsychologischen oder sozialpädagogischen Input oder eine Art Supervision.”
Herr T.: “Wir sind uns zur Zeit nicht sicher, was wir uns wünschen sollen. Wenn Alex` Mutter unser Tun mehr respektieren würde, fiele es uns insgesamt leichter.”
Es ist meine Hoffnung, gezeigt zu haben, welch Irrglaube es wäre, in einer Patenschaft eine einfache Angelegenheit zu sehen – nach dem sozialromantischen Motto “Ein Kind braucht etwas, ein Erwachsener hat etwas, lass uns die beiden zusammen bringen und dann ist alles ganz einfach und gut.”
Im Gegenteil, die beiden Interviews, die ich geführt habe, haben mir die Komplexität und die Bedeutsamkeit, die solche Beziehungen für die Leben aller Beteiligten gewinnen, sehr verdeutlicht und meine Hochachtung sowohl für die Patinnen und Paten wie auch für die Arbeit der Koordinatoren/-innen solcher Dienste noch einmal verstärkt.
Sie haben mir außerdem dazu verholfen, die eigene, professionelle Tätigkeit von einer ganz anderen Warte aus zu sehen und scheinbar selbstverständliche Gewissheiten kritisch zu hinterfragen. Die Direktheit und Ursprünglichkeit der helfenden Beziehung, die in diesen Patenschaften entsteht, gemahnt eindringlich an etwas, was wir in der professionellen Hilfe oft vergessen: Die professionelle Hilfe wirkt immer nur dann, wenn es in ihr zu authentischer Begegnung kommt. Dies geschieht nicht automatisch. Im Grunde ist und bleibt es in einer Beziehung, die aufgrund eines bezahlten Auftrages zu Stande kommt, der Sonderfall. Die ganz große Ausnahme, die nur dann eintreten sollte und kann, wenn wirklich niemand im Umfeld eines Kindes die passende Unterstützung geben kann.
Beide Interviews sind voller Hinweise auf die hohe Bedeutung einer verlässlichen Begleitungsstruktur und liefern damit Sozialpolitikern/-innen hoffentlich überzeugende Argumente, für eine gesicherte Finanzierung Sorge zu tragen.