K. Bayer: Welche Haltung kann man heute erwarten? – aus der Sicht der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Mein Name ist Katharina Bayer, ich bin Psychologin mit dem Schwerpunkt der Systemischen Therapie. Ich arbeite in der Kinder- und Jugendpsychiatrie am evangelischen Krankenhaus Königin – Elisabeth Herzberge. Mein derzeitiger Arbeitsort ist im Kinderhaus Berlin – Mark Brandenburg, da ich das große Glück und die Chance habe, gemeinsam mit einem (sozial-)pädagogischen Team des Kinderhauses ein Modellprojekt umzusetzen. Wir arbeiten gemeinsam in einer therapeutischen Tagesgruppe für Kinder und ihre Familien und werden erstmalig und als einziges Projekt mischfinanziert aus Mitteln der Jugendhilfe und von einer Krankenkasse.

Ich bedanke mich sehr herzlich für die Einladung als Referentin zu dieser Fachtagung im Kinderhaus zum Thema „Professionelle Haltungen – was kann man heute erwarten?“. Der Schwerpunkt meines Referates liegt in Überlegungen dazu aus Sicht einer modernen Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ich wünsche, dass es mir gelingt, mögliche Vorurteile gegenüber der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu relativieren, die Kinder- und Jugendpsychiatrie im Spannungsfeld von Gesundheitswesen und Jugend- und Sozialhilfe einzuordnen und Zusammenarbeit anzuregen.

Ich möchte drei für mich zentrale Gedanken formulieren:

  1. Von moderner Kinder- und Jugendpsychiatrie können Ressourcen- und Lösungsorientierung sowie ein systemischer Blick erwartet werden.Diese Merkmale einer Haltung mögen für Sie banal klingen, sind sie doch schon länger Grundmerkmale moderner Sozialarbeit und –pädagogik. Für die Kinder- und Jugendpsychiatrie stellen sie einen gewaltigen Fortschritt dar, denn sie gehört immer noch zum Gesundheitswesen und zur Medizin. Historisch gesehen gehört die Psychiatrie ursprünglich zu den Geisteswissenschaften, hat sich jedoch Ende des 19. Jahrhunderts dem medizinischen Paradigma unterstellt. Dieses dominiert bis heute und ist durch Pathologie- und Defizitorientierung, die Suche nach der Abweichung von der Norm und eine ausgeprägte Individuumzentriertheit ohne Berücksichtigung des sozialen Kontextes gekennzeichnet.Es gehört die Finanzierung durch Krankenkassen dazu, die dafür ausgelegt sind, die Therapien von Krankheiten Einzelner zu bezahlen. Das heißt, nur wer im herkömmlichen Sinne krank ist (Implikation: dafür kann man nichts, trägt man keine Verantwortung), bekommt therapeutische Leistungen.

    Eine Besonderheit der Kinder- und Jugendpsychiatrie liegt schon darin, dass in diesem medizinischen Fachbereich nicht nur medizinisches Personal (ÄrztInnen und Schwestern/Pfleger) tätig ist, sondern eine große Vielfalt an anderen Fachleuten (PsychologInnen, ErzieherInnen, (Heil- und Sozial-)pädagogInnen, Ergo-, Sprach-, Bewegungs-, Physio-, Musik-, GestaltungstherapeutInnen).

    Die praktische Arbeit zeigte, dass bisherige Vorgehensweisen der Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht ausreichten, um langfristig erfolgreiche Arbeit im Sinne der betroffenen Kinder, Jugendlichen und Familien und zur Zufriedenheit der Mitarbeiter zu erbringen.

    Seit etwa Mitte der 80er Jahre bemühen sich Kollegen, die mit Kindern, Jugendlichen und Familien arbeiten, die herkömmlichen Sichtweisen zu erweitern und neue Blickwinkel und Perspektiven einzuführen. Dieser Prozess verläuft nicht einfach und wird nicht zwangsläufig akzeptiert. Es gibt noch immer viel Unverständnis für neuere Herangehens- und Denkweisen und Modellprojekte bzgl. der Arbeit mit ganzen Familien oder sogar Familiengruppen im Rahmen einer kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung.

    Die Kinder- und Jugendpsychiatrie stellt immer noch mit dem ressourcen- und lösungsorientierten Vorgehen und der systemischen Blickweise auf Verhaltensbesonderheiten und Erkrankungen große Herausforderungen an die Krankenkassen und Verwaltungseinheiten von Kliniken.

  2. Eine multiprofessionelle Diagnostik kann erwartet werden.Eine Kernaufgabe der Kinder- und Jugendpsychiatrie liegt neben der therapeutischen Arbeit im Erbringen einer grundlegenden und umfassenden Diagnostik zu den beschriebenen Besonderheiten.Jede/r von Ihnen kennt die Situation, dass von Seiten der HelferInnen sehr engagiert hochprofessionelle Arbeit geleistet wird, dass sich ein Kind/Jugendliche/r, eine Familie grundsätzlich mitarbeitsbereit und offen für Hilfsangebote zeigen. Dennoch wird aneinander vorbei geredet bzw. gearbeitet, es stellen sich statt Erfolgen Misserfolge ein, es entstehen Frustrationen auf beiden Seiten und schließlich erfolgen gegenseitige Schuldzuweisungen. Solche Verläufe sind häufig auf ein unmittelbares Arbeiten an auftretenden Problemen zurückzuführen – es fehlt möglicherweise eine ausführliche Diagnostik, die genau klärt: Was ist das Problem? Was muss ausgeschlossen werden? Was muss noch berücksichtigt werden? Gibt es mögliche andere Erkrankungen, die zugrunde liegen können? Welche Voraussetzungen bringen der/die Betroffene mit? Unter welchen Umständen tritt das Problem auf, unter welchen nicht?

    Erst nach dieser differenzierten, ressourcenorientierten und multiprofessionell durchgeführten Diagnostik kann eine lösungsorientierte Arbeit am Problem beginnen. Um diesen Kriterien gerecht zu werden, wurde für die Kinder- und Jugendpsychiatrie ein eigenes multiaxiales Diagnoseschema entworfen, welches sich grundlegend von den bekannten Formen der singulären fachspezifischen Diagnose unterscheidet. Es werden auf sechs Achsen die verschiedenen Aspekte berücksichtigt. Somit entsteht nicht nur ein Diagnoseschema, sondern es kann in einer einheitlichen Sprache kommuniziert werden.

    Es wird auf der
    1. Achse die medizinisch-psychiatrische Diagnose verschlüsselt, auf der
    2. Achse wird die Entwicklungsgeschichte von Geburt an berücksichtigt und es werden mögliche Entwicklungsverzögerungen bzw. –störungen benannt, auf der
    3. Achse wird das kognitive Leistungsvermögen angegeben, auf der
    4. Achse werden körperliche Erkrankungen benannt, auf der
    5. Achse fließen die psychosozialen Lebens- und Rahmenbedingungen ein und auf der
    6. Achse erfolgt schließlich eine Gesamtbeurteilung der psychosozialen Anpassung bzw. Beeinträchtigung.
    Von einer Kinder- und Jugendpsychiatrie kann diese verantwortungsvoll durchgeführte multiaxiale Diagnostik erwartet werden.

  3. Wir legen Wert auf Vernetzung und Zusammenarbeit.Von einer Klinik kann das zur Verfügungstellen von diagnostischen Informationen als Grundlage für die weitere Arbeit erwartet werden. Transparenz und Respekt sollten im Umgang mit anderen Helfersystemen und den Betroffenen selbstverständlich sein. Damit wird der Grundstein für ein erfolgreiches, aufeinander abgestimmtes Vorgehen gelegt. Jeder einzelne sollte bereit sein Vorurteile gegenüber anderen Berufsgruppen zu überwinden, Standesdünkel abzulegen und ein gleichberechtigtes Miteinander verschiedenster Ansätze anstreben. Die wichtigste Grundlage in der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen bzw. Familien ist die positive Beziehungsgestaltung. Dies gilt auch für das Miteinander fachlicher Kollegen (à siehe Umfrage im Kinderhaus Berlin – Mark Brandenburg: die MitarbeiterInnen bewerten die Atmosphäre im Team als wichtigstes Kriterium um die anspruchsvolle Arbeit leisten zu können). Es geht weniger um Meinungsgleichheit, als vielmehr um die Entwicklung einer gemeinsamen Haltung.Die berufsgruppenübergreifende, praktische Zusammenarbeit in der therapeutischen Tagesgruppe TAN.go zeigt uns immer wieder, dass es Überlappungen und fließende Übergänge zwischen Therapie, Beratung und (sozial-)pädagogischer Arbeit gibt. Ich könnte meinen Part nicht ohne die wertvolle Arbeit meiner Kollegen erbringen und bin sehr dankbar für die gegenseitige Bereicherung und die Vielfalt.

    Die respektvolle und wertschätzende Haltung im Miteinander, gegenüber Kindern, Jugendlichen und Familien, aber auch gegenüber anderen KollegInnen, stellt einerseits die Grundlage für eine erfolgreiche und nützliche Arbeit zugunsten der KlientInnen, aber auch für die persönliche Psychohygiene dar.

Katharina Bayer, Diplompsychologin, systemische Einzel-, Paar- und Familientherapeutin (DGSF)