K. Bönsel: Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in schwierigen Lebenslagen

Was sind eigentlich „schwierige” Lebenslagen für Kinder und Jugendliche?

oder

Was und wer macht Kinder und Jugendliche „schwierig“?

Zur Beantwortung dieser Frage sind die jeweiligen Sichtweisen der Betrachter von entscheidender Bedeutung. So soll zunächst ein Blick aus den verschiedenen Perspektiven helfen, sich möglichen Antworten auf diese Frage zu nähern.

Aus der Sicht der Eltern ist ein Kind schwierig, wenn es nicht mehr auf sie hört, sich ihnen widersetzt und entzieht, wenn sie kaum mehr Einfluss nehmen können, das Kind die falschen Freunde hat.

Aus Sicht der Schule gilt ein Kind als schwierig, wenn es den Unterricht stört und Lehrer sowie Schüler provoziert, wenn es keine Forderungen und Aufgaben annimmt oder erfüllt, wenn es letztendlich zum Schulbummler oder Schulverweigerer wird.

Aus Sicht des Jugendamtes ist ein Kind schwierig, wenn es im Hinblick auf die Familie zur Belastung wird und ggf. eine Überforderung für die Eltern darstellt, wenn aufgrund massiver Verhaltensschwierigkeiten dringender Handlungsbedarf aus der Perspektive der Kindeswohlgefährdung besteht. Schwierig geworden sind auch Kinder und Jugendliche mit so genannten „Scheitererverläufen“, die bereits verschiedene Hilfsangebote abbrachen und aus den verschiedensten bekannten und unbekannten Beweggründen heraus scheitern ließen.

Aus Sicht der Justiz sind es die jungen Menschen, die schädliche Neigungen zeigen, oft delinquente Handlungen begehen, starke kriminelle Energie zeigen oder auf Strafandrohung und Strafen selbst nicht normgerecht reagieren.

Aus Sicht einer Jugendhilfeeinrichtung werden vor allem die Mädchen und Jungen als schwierig bezeichnet, die “extrem verhaltensauffällig” sind, sich wiederholt regelwidrig verhalten, die für sich und andere eine Gefahr darstellen, gewalttätig sind, sich als Schulverweigerer, als Süchtige oder als Trebegänger Bildung und Erziehung und damit letztendlich Erwachsenen entziehen. Als „schwierig“ erleben wir insbesondere auch jene Kinder und Jugendliche, die auf der Grundlage des § 35a des SGB VIII betreut werden, d.h. die als seelisch behindert bzw. als von seelischer Behinderung bedroht gelten.
Vergleicht man die verschiedenen Sichtweisen der vorangestellten Betrachtung, lässt sich leicht die Subjektivität all dieser Beschreibungen erkennen. Jedoch in der Summe der Betrachtungen, im Wissen um die Position bzw. Einschätzung des anderen nähern wir uns einem “Gesamtbild”, das die Situation solcher jungen Menschen besser erfasst. Damit sind notwendige Reaktionen angemessener zu gestalten. Dies sollte beachtet werden und zeigt, wie wichtig eine enge Zusammenarbeit zwischen Elternhaus, Schule, Jugendamt, Justiz, den Einrichtungen bzw. auch mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie und allen anderen an der Erziehung, Bildung und Betreuung eines jungen Menschen Beteiligten ist. Nur so können Ursachen des Problemverhaltens erkannt, die besondere Situation jedes einzelnen Kindes oder Jugendlichen verstanden, erreichbare Ziele abgesteckt und gemeinsam Wege vereinbart und festgelegt werden. Chance und dementsprechend Ziel, solchen Mädchen und Jungen wirklich zu helfen, ist sie zunächst erst einmal zu erreichen!

Die Verhaltensweisen schwieriger Kinder und Jugendlicher sollten stets auf dem Hintergrund sozialer Probleme gesehen werden, auf dem Hintergrund ihrer Biographie und Vorerfahrungen.

Immer mehr Kinder und Jugendliche wachsen in ihren Herkunftsfamilien unter Bedingungen relativer Armut auf. Viele leben unter familiären Bedingungen, die geprägt sind von Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe oder vom Suchtverhalten der Eltern. Die Kinder oder Jugendlichen leben in Familien ohne unterstützende bzw. unterstützungsfähige Eltern, ohne orientierende Regeln und Normen und Werte, ohne verlässliche Beziehungen, ohne (emotionale) Sicherheit und Geborgenheit. Sie haben Vernachlässigung, Ausgrenzung, Misshandlung und Gewalt als ihren normalen Alltag erfahren müssen.
Einige von ihnen wohnen und leben bei uns, in den Häusern des Vereins „Kinderhäuser Oder-Neiße e.V.”

In den zurückliegenden Jahren wurden immer differenziertere Hilfsangebote entwickelt, die sich am individuellen Bedarf der Heranwachsenden orientieren.
Zu den aktuellen stationären Angebotsformen des Vereins gehören

  • Regelgruppen,
  • eine intensiv betreute Jugendwohngruppe,
  • das Schulprojekt “Sprungbrett ” (1.-10. Klasse),
  • flexible Einzelfallhilfe sowie
  • die Heilpädagogisch-therapeutische Wohngruppe Pohlitz.

Darüber hinaus bestehen Kooperationsbeziehungen zur Kinder- und Jugendpsychiatrie Frankfurt/Oder, der Oberschule Müllrose sowie dem Tierschutzverein “Molly´s Tierwelt”.
Anfang Juni 2002 wurde die Heilpädagogisch-therapeutische Wohngruppe eröffnet.
Seit nunmehr 3 Jahren leben hier Kinder und Jugendliche zusammen, die als „schwierig” bezeichnet wurden und werden. Schwierig sind aber nicht die Kinder an sich, sondern immer wieder der Umgang mit ihnen. Schwierig ist es aber auch für die Kinder und Jugendlichen selbst.

Es ist schwierig für sie, plötzlich Regeln einhalten zu müssen, mit anderen Personen mehr oder weniger verbindlich umzugehen, Beziehungen einzugehen und auszuhalten, andere anzunehmen aber auch die Erfahrung zu machen, selbst angenommen zu werden und wichtig zu sein. Es ist schwierig für sie, sich Problemen zu stellen, die eigene Hilfsbedürftigkeit zu erkennen, anzuerkennen und dann die angebotene und notwendige Hilfe auch noch anzunehmen. Fast alle unsere Kinder und Jugendlichen haben bereits lange Jugendhilfekarrieren hinter sich, waren in Tagesgruppen, in der Familienbetreuung oder in anderen Heimen und Einrichtungen. Alle unsere Kinder und Jugendlichen haben eine Vielzahl von Erlebnissen und Erfahrungen machen müssen, die ihr Selbstwertgefühl und das Vertrauen in andere, vor allem erwachsene Menschen stark erschüttert haben.

Sie haben Kränkungen erfahren, sind deshalb aber nicht krank. Gerade deshalb sollte eine seelische Behinderung auch nicht als Krankheit verstanden oder als Folgezustand einer psychischen Erkrankung erklärt werden.

Sie wurden verletzt und gedemütigt, fühlten sich mit ihren Problemen meist allein gelassen. Übersensibilisiert beobachten und werten sie, sind misstrauisch und übervorsichtig gerade dann, wenn es um Beziehungen geht. Zutrauen und Vertrauen entwickelt sich nur sehr zaghaft.

In unserer Arbeit mit den jungen Menschen gehen wir davon aus, dass die Beziehungsarbeit die Grundlage jeder pädagogischen und therapeutischen Einflussnahme ist. Da die Bindungsfähigkeit dieser Mädchen und Jungen stark beeinträchtigt ist, kann eine tragfähige Beziehung nur langfristig gelingen.

Wichtig ist uns, dass die Kinder und Jugendlichen Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl erleben und entwickeln, Toleranz und Akzeptanz erfahren und dadurch erst erlernen können. Wir nehmen sie so an wie sie sind und wollen sie nicht völlig “umkrempeln”.

Sie sollen eigene Möglichkeiten und Grenzen erkennen und nutzen. Wir bieten ihnen realistische Ziele und Wege an.

Unsere Arbeit mit ihnen ist grundsätzlich regelhaft, wenn wir auch oft genug aus der Situation heraus spontan entscheiden und reagieren müssen.

Es gibt in der Heilpädagogik 3 Grundregeln, die ich für die Arbeit mit unseren Kindern und Jugendlichen für wichtig und tragfähig halte:

  1. Wir müssen ein Kind verstehen, bevor wir es erziehen! Dies bedeutet, bevor sich ein Kind oder Jugendlicher erziehen lässt, bedarf es Biographiekenntnis, Ursachen-forschung und Beziehungsaufbau.
  2. Wir arbeiten nicht gegen die Fehler, sondern für das Fehlende! Dies bedeutet, Ressourcen und Potenzen der jungen Menschen und des Umfeldes entdecken und nutzen, am Positiven und vor allem am Erreichten anknüpfen.
  3. Wir haben nicht nur das Kind als solches zu erziehen, sondern immer auch seine
    Umgebung! Dies bedeutet, dass Umfeldgestaltung, Öffentlichkeitsarbeit und intensive Arbeit mit den Familien Teil des gesamtpädagogischen Konzeptes sind.

Auf der Grundlage dieser Einstellungen und Herangehensweisen versuchen wir den Alltag zu meistern. Wie schwierig dies jedoch im Alltag mit den jungen Menschen sein kann, haben wir in den vergangenen Jahren oft genug erfahren.

Wenn ich meine 3 Berufsjahre in Pohlitz Revue passieren lasse, dann sehe ich 3 Jahre, die mich als Erzieherin jeden Tag aufs Neue herausforderten und mich gelegentlich bis an die Grenzen der Belastbarkeit, des Machbaren brachten. Das sind Jahre voller Ereignisse, die sich gelegentlich überschlugen und oft auch immer wieder einen neuen Anfang bedeuteten. Da gab es unzählige Auseinandersetzungen und Konflikte, ständige Entladungen angestauter Aggressionen voller Frust und Gewalt. Unzählige Fenster, Türen und Wände wurden eingeschlagen, Betten, Tische und Schränke zerstört. Als Erzieherin bekam ich die “Wut der Enttäuschung” oft hautnah zu spüren, wenn auch meist in verbaler Form. Trotzdem hielt ich Kinder in meinen Armen und musste sie ggf. auch wieder loslassen. Es gab Tränen der Traurigkeit und des Mitgefühls, aber auch der Wut und Enttäuschung. Viele Nächte wurden durchwacht, sei es zum Schutz und in Bereitschaft oder aus Sorge um die uns anvertrauten Mädchen und Jungen.

Es gab unzählige Vermisstenmeldungen, Fahndungen und Polizeibesuche, es gab Diebstähle und andere Delikte, Beschwerden der Dorfbewohner, Anhörungen und Gerichtsverhandlungen. Dennoch ging es immer wieder langsam und kleinschrittig voran, traten – meist kaum wahrnehmbare – Veränderungen ein. Verschlossene Kinder öffneten sich. Kleinste Gesten von Vertrauen wurden sichtbar. Kontakte zu Eltern konnten intensiviert werden, Beziehungen entspannten sich. Die Mädchen und Jungen wurden selbstbewusster, zeigten Mut sich Problemen zu stellen, wurden konflikt- und kompromissfähiger. Für mich als Erzieherin hieß und heißt dies vor allem ständig “wach” zu sein, um kleinste Fortschritte wahrzunehmen, für die Gestaltung der Beziehungen im Alltag nutzbar zu machen und sich an diesen natürlich auch selbst erfreuen.

Jeder Tag birgt eine neue Herausforderung in sich, fordert ein Nichtaufgeben, einen ständigen Neuanfang und ein stetiges Weitermachen ausgehend von einem Zitat von Paul Moor:
“Der innere und äußere Halt eines Menschen stehen in ständiger Wechselwirkung miteinander. Alle die keinen inneren Halt besitzen, brauchen Menschen, die ihrerseits inneren Halt besitzen, als äußeren Halt.”
Kontakt:
Kinderhäuser Oder-Neiße e.V., Fritz-Heckert-Straße 62, 15890 Eisenhüttenstadt
Fon: 0 33 64/ 4 40 26, Fax: 0 33 64/ 77 14 62
Mail: kinderhaeuser@t-online.de
www.kinderhaeuser-oder-neisse.de