- Ausgabe 1/2 2007
Dem Verein für Kommunalwissenschaften ist zu danken, dass er in einer Zeit des sozialräumlichen Umbaus der Berliner Jugendhilfe zu diesem Thema Stellung bezogen hat. Die Organisation der Tagung, Themenstellung und Auswahl der Referentinnen verdient Respekt. Experten aus Wissenschaft, Kommunen und von freien Trägern suchten Antworten zu den Herausforderungen kommunaler sozialräumlicher Reformprozesse, wobei vor allem in den Arbeitsgruppen Erfahrungen und Fragestellungen zu Planungs-, Steuerungs- und Controllingaspekten der SRO dominierten.
Angesichts der umfassenden Umstrukturierung der Jugendhilfe in Berlin fiel auf, dass die Anzahl der Berliner TagungsteilnehmerInnen recht überschaubar war. Aus meinem „beruflichen Sozialraum“ z. B., gerade eine Mitarbeiterin des öffentlichen und zwei Vertreter von freien Trägern. Ich möchte dies zum Anlass nehmen, einige subjektiv ausgewählte Eindrücke dieser Tagung wiederzugeben.
Joachim Merchel
bezieht in seinem einleitenden Referat „Entwicklung und Zukunft der Hilfen zur Erziehung“ unter dem Stichwort „Entmythiesierung“ zu einzelnen Aspekten der SRO kritisch Stellung. Wobei seine Sicht der SRO in dem Statement kulminiert, dass – ähnlich wie etwa bei dem Prinzip Lebensweltorientierung oder dem Qualitätsmanagement geschehen – wohl auch vom Fachpinzip SRO einige Elemente dauerhaft übrig bleiben würden. Merchel fordert damit einen entspannteren Umgang mit und im derzeit vorherrschenden SRO-Diskurs – die Rückkehr zur Normalität!
Bezüglich der Hilfeplanung kann Merchel im SRO-Konzept kaum methodisch Neues entdecken (Stichwort: „Wunsch und Wille“), verweist hingegen auf die jüngst von Mathias Schwabe dazu vorgelegte methodisch ausgerichtete Abhandlung**, in der ausführlich und systematisch zu den drei Elementen Hilfeform, Hilfekonzept und Hilfeplanziele Stellung bezogen und das notwendige Handwerkszeug diskutiert werden.
Und schließlich stoße die fortlaufende Entwicklung der von der SRO angestrebten „passgenauen Hilfen“ schlicht dort an ihre Grenzen, wo sie von der Realität eingeholt werde. Denn die immanent geforderte permanente Lernfähigkeit von Menschen und Systemen sei schließlich begrenzt und darüber hinaus halte man sich auch gern einmal an Bewährtes. Im Übrigen zwängen administrative Schranken und Zuweisungen dazu, die geforderte „Passgenauigkeit“ auf ihre Praktikabilität zu hinterfragen. Konkret: Wann und wo stößt die Umsetzung individuell zugeschnittener „Maßanzüge“ an ihre organisatorische und finanzielle Schranke? Zumal unter den politisch-administrativen Bedingungen und aktuellen finanziellen Restriktionen im Stadtstaat Berlin?
Amüsiert und provokant zugleich, setzt Merchel in der Jugendhilfe stattdessen auf „Konfektionsware“!! Immerhin sei diese, weil eben in großer Menge zu planen, zu produzieren und zu finanzieren, ein Beitrag zur Demokratisierung von Lebenswelten.
Johannes Münder
„Was ist rechtskonform beim Umbau der Hilfen zur Erziehung?“, fragt Johannes Münder, erläutert dem staunenden Plenum die Charakteristika des jugendhilferechtlichen Dreiecksverhältnisses, systematisiert Bekanntes pro und contra Budgetierung und beruhigt sich selbst mit der abschließenden Feststellung, dass er trotz der Widrigkeiten der SRO in rechtlicher Sicht zumindest noch versuche, Lösungen zu Einzelaspekten zu erarbeiten, während die KollegInnen seiner Zunft das Thema bereits ad acta gelegt hätten. SRO sei ein fachlicher Fortschritt, man komme aber nicht umhin, die notwendigen juristischen Eckpfeiler im Sinne der Rechtssicherheit zu beachten. D. h., bei Bestehen individueller Rechtsansprüche nach § 78 a SGB VIII ist die rechtliche Ausgangslage klar – Finanzierung und Leistungserbringung haben als Entgeltfinanzierung auf Basis des jugendhilferechtlichen Dreiecksverhältnisses zu erfolgen***.
Zudem sei das durch verschiedene OVG und VG-Entscheide festgeschriebene Verbot von Exklusionsmodellen bei der sozialräumlichen Auswahl von Trägern sowohl hinsichtlich einer möglichen Einschränkung der strukturell gebotenen Trägerpluralität (§ 3 SGB VIII), als auch hinsichtlich der grundgesetzlich verbrieften Berufsfreiheit (Art. 12, Abs. 1 GG) zu beachten. Und schließlich sei das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsempfänger zu berücksichtigen, sowie der Gefahr vorzubeugen, dass individuelle Rechtsansprüche bei einem festgeschriebenen Sozialraumbudget nicht ausreichend realisiert werden könnten. Im Ergebnis der juristischen Würdigung stellt sich die Frage, inwieweit SRO rechtlich haltbar ist? Positiv formuliert: wie kann der durch Gerichtsentscheide massiv eingeschränkte Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung der SRO vor allem auch durch rechtlich abgesicherte Lösungen von Einzelaspekten vorangetrieben werden?
Wolfgang Hinte
Im Anschluss an Merchel findet auch Wolfgang Hinte relativ unaufgeregt zurück zur Normalität, bricht fast konziliant (s)eine Lanze pro SRO. Zwischen der betreuenden, versorgenden Sozialarbeit die Wünsche befriedigt und einem neoliberalen Sozialmarktkonzept liege SRO als dritter Weg. Zentral sei neben den sozialräumlichen Ressourcen die begriffliche Differenz zwischen den Kategorien „Wunsch“ und „Wille“, das uns geläufige „Bedürfnis“ liege als verschleiernde Mischung beider Vokabeln dazwischen. Hinte erinnert damit an die Inhalte der SRO, will heißen, die auf der Tagung diskutierten Struktur-, Steuerungs- und Finanzierungsfragen hätten den Inhalten zu folgen, nicht umgekehrt. Zudem müsse SRO, um sie als Fachprinzip der sozialen Arbeit durchzusetzen, von den HzE entkoppelt und erweitert werden. Und nur, wenn man nicht aus alten Logiken ausbreche, könne man SRO als eine von vielen sozialpädagogischen Moden ansehen. Dennoch ruhe auch SRO wie jede andere Innovation auf den Schultern ihrer Geschichte. Bei der Umsetzung der SRO verlaufe die Einbindung freier Träger bislang suboptimal, was sich im Übrigen auch in der Zusammensetzung der Tagungsteilnehmer widerspiegele: eher Akademiker und Vertreter von Ämtern als Mitarbeiter freier Träger. Allerdings sei etwa die Einbindung stationärer Träger in SRO ein objektiv schwieriger Prozess, solange eine SRO-adäquate Finanzierung nicht gesichert sei und die Träger weiterhin auf Fallfinanzierung angewiesen blieben. Die Aufhebung der Trennung von Prävention und Intervention, auch bezüglich ihrer Finanzierung, sei, so Hinte, die Aufgabe der nächsten zehn Jahre…
Zusammenfassend
sei gesagt, die Tagung hat sich gelohnt! Sie hat, obwohl einige Fragen offen bleiben mussten, Anregungen für den beruflichen Alltag geben können. Erfreulich war, dass die hinlänglich bekannten Vorhaltungen des SRO-Diskurses, die Praktiker hätten die reine Lehre noch immer nicht begriffen, respektive die Theoretiker würden eine Realität jenseits aller praktischer Relevanz reflektieren, sich diesmal im Erträglichen hielten. Wiewohl der dialektische Widerspruch zwischen Theorie und Praxis subkutan ständig präsent war. Doch insgesamt belebten die Dissense der Wissenschaftsfraktion das Tagungsgeschehen aufs Angenehmste, gaben zu manchem Schmunzler, auch zu fragendem Stirnrunzeln Anlass. Wenngleich auch diesmal die Frage, inwieweit den Vertretern konkurrierender wissenschaftlicher Ansätze und Disziplinen Lernfähigkeit attestiert werden könne, nicht abschließend geklärt werden konnte. Insgesamt, trotz aller Differenzen, ließ sich aber durchaus der Eindruck gewinnen, dass sich die Gemüter um die Einführung der SRO derzeit ein wenig beruhigen: Immerhin wird SRO in etlichen Kommunen umgesetzt, sodass zumindest die Macht des Faktischen anerkannt zu werden scheint. Pädagogischer, fiskalischer und juristischer Streit im Einzelnen dabei nicht ausgeschlossen…
Allerdings blieb die Hoffnung enttäuscht, Antworten auf die Fragen zu erhalten,
- welche Rolle und Funktion den stationären Trägern in der SRO zugedacht ist?
- Wie die „Aufhebung der Versäulung“ bei freien Trägern im Sozialraum, d.h., die Kooperation z. B. ambulanter und stationärer Träger unter dem Diktum SRO mit dem Ziel der Flexibilisierung von Hilfeformen angedacht sein könnte?
Aus Sicht eines freien Trägers, der versucht, die „Versäulung“, sprich: Spezialisierung bei freien Trägern unter dem Aspekt der Durchlässigkeit von Hilfeformen bei gleichzeitiger Wahrung von Beziehungskontinuitäten zu diskutieren, hat die Tagung vor allem eines erbracht: Nicht nur in Berlin stehen wir erst am Anfang! Es sind mir weder in den besuchten Arbeitsgruppen, noch in den Pausengesprächen auf Berlin anwendbare Modelle gelungener Integration stationärer Träger inklusive der gewünschten Durchlässigkeit, beispielsweise zwischen ambulanten und (teil-)stationären Hilfeformen, bekannt geworden. Auf Nachfragen war die erschöpfte Feststellung zu hören, man versuche sich diesbezüglich am Einzelfall. So will es scheinen, dass wir in puncto „Entsäulung“ im Gesamtsystem Jugendhilfe noch einen steinigen Weg vor uns haben. Und ob die feindlichen Brüder Prävention und Intervention sich unter dem Diktum SRO produktiv und, pardon, nachhaltig werden vereinen können, bleibt auch weiterhin tätig abzuwarten.