Franz, Dr. med. A.: Die Entwicklung von Sprache und Kognition im Kontext von Telemedien

Was sind die Triebfedern der Entwicklung  kindlicher Kompetenzen?

Welche Kompetenzen sollte ein Kind in welchem Alter erworben haben?

Wie wirkt speziell Fernsehen auf den Entwicklungsprozess? Förderlich? Hemmend?

Triebfedern

Die Reifung des Zentralen Nervensystems führt zur Bereitstellung neuer Fähigkeiten. Nur durch die Eigenaktivität des Kindes vermittels Einüben und Ausgestalten werden neue Fähigkeiten im Langzeitgedächtnis abgespeichert. Dazu bedarf es zusätzlich der Interaktion mit Bezugspersonen. Diese sollen im Idealfall ein emotionales Interesse am Kind durch ständige verbale Verstärkung seiner Eigenaktivität zeigen.

Das ist mit Fernsehbackground nicht machbar! Die damit verbundene Ablenkung der Bezugsperson behindert ihre Responsivität, das heißt die Fähigkeit, sich in das Kind hineinzuversetzen und mitzuschwingen.

Was bedeutet Responsivität der Bezugsperson? Es geht um ein Gleichgewicht der Eltern-Kind-Aktion und um eine Förderung der Eigenaktivität des Kindes. Dazu gehören der Respekt vor den Kompetenzen des Kindes, emotionales Interesse am Kind und eine Bereitschaft zum nondirektivem Umgang: Das Kind bestimmt das Spiel, die Bezugsperson lässt sich auf die Ideen des Kindes ein.

Kompetenzen

Kindliche Fähigkeiten können im Alltag von jeder Bezugsperson beobachtet werden. Der Tübinger Professor Richard Michaelis[1] entwickelte dafür Grenzsteine, die 90 von 100 Kindern in einem bestimmten Alter erworben haben. Er definierte sie in den Entwicklungsbereichen eines Kindes:

Körpermotorik / Handmotorik / Sprache / kognitive Kompetenz / Selbständigkeit / soziale Kompetenz / emotionale Kompetenz.

Uns interessieren hier Kognition und Sprache.

  • Die Kognition, d.h. die Fähigkeit, die Welt zu verstehen und Problemlösungen zu finden, beruht auf vier Fähigkeiten, die ein Kleinkind erwirbt:
  • Objekte existieren, auch wenn sie weder greifbar noch sichtbar sind (Objektpermanenz)
  • Ereignisse haben Ursachen (Kausalität)
  • Objekte haben eine nützliche Bestimmung (Verwendbarkeit)
  • Ein Objekt kann ein anderes Objekt stellvertretend repräsentieren (Symbolfunktion).

Unter dem Begriff Objekt werden nicht nur unbelebte Dinge, sondern auch Personen verstanden.

  • 2 Jahre: Bauklötzchen o.ä. werden gestapelt; konzentriertes Betrachten, Betasten, Ein- und Ausräumen von Gegenständen über ca. 15 Minuten
  • 3 Jahre: Malen, Kritzeln – mit Kommentaren des Kindes; intensive „Als-ob-Spiele“ mit Puppen, Lego, Autos und Bausteinen
  • 4 Jahre: W-Fragen; gleiche Gegenstände verschiedener Größe / Farbe werden unterschieden und benannt
  • 5 Jahre: Grundfarben werden erkannt und benannt; intensive Rollenspiele, Verkleidungen, Verwandlung in Tiere oder Vorbilder, auch mit anderen Kindern zusammen

 

Die Komplexität der Sprachentwicklung lässt sich am Bild vom Sprachbaum[2] gut erkennen. Seine Wurzeln entsprechen den Entwicklungssträngen im Säuglingsalter. Sein Stamm entspricht dem Sprachverständnis und der Sprechfreude und seine Äste mit den Blättern stellen die wachsende Vielfalt der Sprache dar.

Damit dieser Baum gut wachsen kann, bedarf er des Sonnenlichtes (Wärme, Liebe und Akzeptanz) und der Gieskanne (Kommunikation).

Auf die Kommunikation als Gießkanne will ich näher eingehen. Zu ihr gehören der Blickkontakt, das Aussprechenlassen, das Anregen der Sprache und das Nichtnachsprechenlassen. Fernsehen steht immer in Konkurrenz zu dieser Kommunikation.

 

  • 3 Monate: differenziertes intentionelles Schreien (Hunger, Unbehagen, Schmerz)
  • 6 Monate: spontanes, variationsreiches Vokalisieren, für sich allein, aber auch auf Ansprache  („Dialog”)
  • 15 Monate: „Papa“ in sinngemäßer Bedeutung
  • 3 Jahre: 3-4-Wort-Sätze – ich, du, Plural; redet für sich beim Spielen
  • 5 Jahre: fehlerfreie Aussprache, Erlebtes wird in logischer und zeitlicher Reihenfolge korrekt berichtet. Richtige, aber noch einfache grammatikalische Satzstrukturen.
Fernsehen

Welchen Einfluss hat das Medium Fernsehen auf die Kognitions- und Sprachentwicklung von Kindern? Medien sind ein wichtiger Sozialisationsfaktor für Kinder. Dazu gehören in der Vorschulzeit Bücher und Bilder, Fernsehen, Video + DVD, Radio + Hörkassetten. Das Fernsehen ist heute überall präsent. Es hilft einerseits die Umwelt zu verstehen und ist andererseits auch Lückenfüller. In dieser letzteren Funktion schädigt es entscheidend die Entwicklung der Vorschulkinder.

Die Kinder werden gleichsam „zugemüllt“ mit einer Informationsflut, die sie nicht mehr verarbeiten können und die ihnen wertvolle Zeit stiehlt, sich aktiv mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen. „Fernsehkinder“ haben weniger Gelegenheit mit ihren Bezugspersonen auf ihre eigene Weise zu reden. Sie geraten auch in ein Übungsdefizit ihrer Bewegungsfähigkeiten.

Eltern haben eine große medienpädagogische Verantwortung. Sie sind ihren Kindern ein Vorbild für die Art, wie Telemedien genutzt werden. Erfahrungen zeigen: „Wenigseher“ führen häufiger Gespräche, sind mehr unterwegs und spielen mehr mit den Kindern. „Vielseher“ bieten ihren Kindern weniger Sprachangebote und eröffnen weniger Erlebniswelten.

Noch ein Wort zum Zusammenhang von Aggressionen und Fernsehen. Aggressionen sind Ausdruck von Hilflosigkeit und Ohnmacht. Die Ursachen liegen im persönlichen Umfeld, in der persönlichen Sozialisation. Telemedien liefern nur das „Düngemittel“, das ein Gedeihen dieser „Pflanze“ verbessert.

Telemedien bieten aber auch Chancen. Das Allgemeinwissen kann bereichert und die kindliche Entwicklung gefördert werden. Dazu muss der Inhalt dem Entwicklungsalter angepasst sein und durch persönlichen Kontakt bearbeitet werden. Es geht also um aktive statt um passive Nutzung.

Noch ein Wort zu den ständigen Werbeeinblendungen bei Trickfilmprogrammen im Fernsehen. Sie haben einen hohen Wiedererkennungswert für die Kinder. Das Warten auf solche Wiederholungen trainiert Unaufmerksamkeit für den Filminhalt. Der somit ständig unterbrochenen Handlung können Kinder nur schwer folgen. So wird Ablenkbarkeit vom Wesentlichen trainiert. Eine Unterrichtsstunde ist den so konditionierten Kindern später zu lang.

Empfehlungen für die Telemediennutzung

  • Kein Fernseher ins Kinderzimmer
  • täglich außerhalb der Kita mehr als eine Stunde körperliche Aktivität
  • Fernsehen darf nicht zum Zentrum des Familienlebens werden und z.B. Spiele, Mahlzeiten oder das Einschlafen begleiten
  • gemeinsam fernsehen und darüber reden
  • Fernsehkonsum nicht nach Zeit, sondern nach Sinnhaftigkeit festlegen
  • Tagesgestaltung unabhängig vom Fernsehen

 

Resümee

Das Zentrale Nervensystem hat die Eigenschaft sich selbst zu organisieren in einem genetisch vorbestimmten Korridor. Es passt sich den familiären und kulturellen Bedingungen an, in denen und mit denen das Kind aufwächst und die es auszuhalten hat. Darum ist die individuelle Entwicklung auch so variabel.

 

 

[1] Michaelis, Richard: Entwicklungsneurologie und Neuropädiatrie, Stuttgart 1995, ISBN 3-7773-1142-1

[2] Wendlandt, Wolfgang: Sprachstörungen im Kindesalter, Stuttgart 1998, ISBN 3-13-778503-0