Kappl, I., Streif, J.: Das Umgangsrecht psychisch kranker Eltern

Eine Beleuchtung rechtlicher und familienpsychologischer Grundsätze auf der Grundlage einer aktuellen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts[1]

Isabell Kappl ist Richterin und Referentin am Bundesministerium der Justiz
Dipl. Psych. Dr. Johannes Streif ist familienpsychologischer Sachverständiger, München

I. Rechtliche Grundsätze in Umgangsfragen

Das Recht der Eltern auf Umgang ist gerade nach einer Inobhutnahme ein Thema, mit dem sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Jugendamt und Einrichtungen, aber auch Pflegefamilien immer wieder befassen müssen. In Fällen psychisch kranker Eltern, die aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur oftmals schwer zugänglich sind und deren Verhalten weniger steuerbar als das anderer Elternteile in Obhut genommener Kinder ist, gestalten sich die Umgänge für alle Beteiligten häufig mühsam, insbesondere wenn zunächst eine Umgangsbegleitung eingerichtet werden muss. Die Erfahrung zeigt, dass dieser Umstand unter anderem – gerade in Zeiten knapper Kassen – zum Anlass genommen wird, die Umgänge erheblich einzuschränken, bisweilen bis hin zum vollständigen Umgangsausschluss. Dabei geraten die rechtlichen Voraussetzungen dieses Handelns und die sich hieraus ergebenden schwerwiegenden Eingriffe in die Grundrechte der Eltern nicht selten aus dem Blickfeld.

Die Aufgabe des zuständigen Richters endet oft mit der Entscheidung über den Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts, der Übertragung der Befugnis zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen sowie der Zuführung zu gesundheitlichen Maßnahmen. Die Entscheidungen, die anschließend zu treffen sind, obliegen dann dem Ergänzungspfleger, somit in der Regel dem zuständigen Mitarbeiter des örtlichen Jugendamts in Kooperation mit den jeweiligen Kollegen. Erst bei Wiederaufnahme des Verfahrens oder aufgrund eines eher selten gestellten Antrags der Eltern auf Regelung des Umgangs wird das Gericht mit den vorangegangenen Entscheidungen über den Umfang und die Art des gewährten Umgangs befasst.

Es ist daher zur Wahrung der grundgesetzlich garantierten und für die Funktionsfähigkeit eines freiheitlichen Staats zwingend erforderlichen Grundrechte unabdingbar, dass die rechtlichen Grundlagen der Umgangsrechte sowie einer Umgangsreduzierung bis hin zum Umgangsausschluss von den zuständigen Mitarbeitern der sozialen Berufe im Auge behalten werden.

Dieser Artikel soll dem Leser helfen, sich die rechtlichen Grundlagen und den Umfang der Verantwortung bei der Entscheidung über den Umgang zu vergegenwärtigen.

 

1. Grundsatz: Ein Recht auf Umgang

a) Das Recht der Eltern auf Umgang mit dem in Obhut genommenen Kind ergibt sich zunächst aus der Regelung des § 1684 Absatz 1 BGB. Gleichzeitig wird hier auch das Recht des Kindes auf Umgang mit den Eltern normiert. Diese Vorschrift beruht auf den verfassungsrechtlich geschützten Grundrechten des Kindes und der Eltern aus Art. 6 Absatz 2 GG, wonach die Pflege und die Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht sind. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

Hieraus folgen zwei weitere Grundsätze, die in der Rechtsprechung immer wieder betont werden: Zum einen wird grundsätzlich vermutet, dass die Ausübung des Umgangs mit den Eltern dem Wohl des Kindes entspricht. Zum anderen darf eine Inobhutnahme nicht schematisch zum Kontaktabbruch zwischen Eltern und Kind führen.[2]

b) Aus der Systematik des Gesetzes ergibt sich ein weiterer Grundsatz: Das Recht, den Umgang zu regeln, ist gemäß § 1632 Absatz 1 BGB ein gesonderter Teilbereich der gesetzlichen Personensorge, das neben dem Aufenthaltsbestimmungsrecht grundsätzlich den Eltern obliegt. Hieraus folgt, dass das Recht, den Aufenthaltsort eines Kindes zu bestimmen, nicht gleichzeitig das Recht beinhaltet, den Umgang der Eltern mit dem Kind festzulegen. Es handelt sich somit um zwei getrennte Rechte der elterlichen Personensorge, die sich gerade nicht gegenseitig bedingen, sondern getrennt voneinander bestehen und übertragen werden müssen.

Im Falle der Inobhutnahme liegt das Umgangsrecht somit oftmals noch bei den Eltern, es sei denn, das Familiengericht hat gemäß § 1684 Absatz 4 BGB eine abweichende Entscheidung über den Umgang getroffen. Dies bedeutet für den bestellten Ergänzungspfleger, dass ein Recht zur Regelung des Umgangs gegen den Willen der Eltern nur möglich ist, wenn die gesamte Personensorge übertragen wurde, also ein Vormund bestellt wurde, oder das Recht zur Regelung des Umgangs explizit übertragen wurde. Durch die Übertragung allein des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf den Ergänzungspfleger besteht daher entgegen der oftmals bestehenden Praxis kein Recht, den Umgang gegen den Willen der Eltern zu regeln oder gar auszusetzen.

 

2. Allgemeine Voraussetzung einer Einschränkung oder eines Ausschlusses

Eine Beschränkung oder ein Ausschluss des Umgangs ist nach § 1684 Absatz 4 Satz 1 BGB grundsätzlich dem Familiengericht vorbehalten, soweit nicht das Umgangsrecht als Teil der Personensorge auf den Ergänzungspfleger übertragen wurde. Voraussetzung hierfür ist, dass die Entscheidung zum Wohl des Kindes erforderlich ist. Dabei sind die strengen Anforderungen an die Inobhutnahme auf die Frage des Umgangs zu übertragen.

Bei der Frage der Inobhutnahme eines Kindes ist stets zu beachten, dass gerade diese gegen den Willen der Eltern einen der stärksten vorstellbaren Eingriffe in das Elternrecht aus Art. 6 Absatz 2 GG darstellt und mit der gleichen Intensität auch das Kind selbst trifft. Daher sind die Voraussetzungen für die Inobhutnahme neben in der Vorschrift des § 1666 BGB auch in Art. 6 Absatz 3 GG normiert. Hiernach ist eine Inobhutnahme nur dann zulässig, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen – als eine beispielhafte Beschreibung des Begriffes der Kindeswohlgefährdung.

Dieser Maßstab gilt mittelbar auch für die Frage der Beschränkung des Umgangsrechts bis hin zum Ausschluss nach einer Inobhutnahme, da insbesondere ein Umgangsausschluss die weitere Entwicklung des Verhältnisses zwischen den Eltern und dem Kind beeinflusst. Eine Minimierung oder ein Ausschluss des Umgangs trägt tendenziell zur Verfestigung der Trennung zwischen Eltern und Kind bei, so dass der Umgang der Eltern mit der Aufrechterhaltung der Trennung zwischen Eltern und Kind aufs Engste zusammenhängt und die Wertung des Art. 6 Absatz 3 GG maßgeblich erscheinen lässt.[3]

Es ist daher grundsätzlich die Pflicht des Staats und damit auch seiner Mitarbeiter, für einen regelmäßigen Umgang der Eltern mit dem Kind zu sorgen, da stets die Rückführung des Kindes zu seinen Eltern als Ziel im Vordergrund stehen muss. Dies kann nur erreicht werden, wenn der Staat gleichzeitig dafür sorgt, dass keine Entfremdung durch die Trennung zwischen Eltern und Kind eintritt.

Hieraus folgt zunächst abstrakt gesprochen: Die Rechtfertigung einer Einschränkung oder eines Ausschlusses des elterlichen Umgangsrechts setzt im Falle eines in einer Pflegefamilie oder in einer Einrichtung der Jugendhilfe untergebrachten Kindes somit auf der einen Seite voraus, dass der Schutz des Kindes dies nach den konkreten Umständen des Einzelfalls erfordert, um eine konkrete Gefährdung seiner seelischen oder körperlichen Entwicklung abzuwehren. Auf der anderen Seite muss dem besonderen verfassungs- und menschenrechtlichen Stellenwert des elterlichen Umgangsrechts mit ihrem in Pflege genommenen Kind Rechnung getragen werden.[4]

 

3. Konkrete Voraussetzungen – auch und gerade bei psychisch kranken Eltern

In der Praxis folgt die Regelung des Umgangs notgedrungen den bestehenden Kapazitäten und Möglichkeiten der Jugendhilfe, so dass Eltern wiederkehrend auf die fehlenden Ressourcen zur Umsetzung des Umgangs verwiesen werden. Um diesem Problem Herr zu werden, haben viele Jugendämter und Einrichtungen der Jugendhilfe bestimmte Grundsätze entwickelt, die gelegentlich bis hin zu einer unveränderbaren Praxis auf alle Fälle schematisch angewandt werden.

a) Einer dieser Grundsätze scheint beispielhaft in vielen Jugendamtsbezirken die ungeschriebene Regel der Fremdunterbringung zu sein, zunächst den Umgang der Eltern für sechs Wochen zum Zwecke der „Eingewöhnung“ des Kindes in die neue Umgebung, sei es eine Pflegefamilie oder eine Heimeinrichtung, gänzlich auszusetzen. Ohne auf diese gegebenenfalls auch familienpsychologisch bedenkliche Maßnahme an dieser Stelle inhaltlich näher einzugehen, muss diese Handhabung allein aus rechtlicher Sicht als bedenklich eingestuft werden.

Es bleibt als Erstes bei jeder Entscheidung, die den Umgang betrifft, immer zu fragen, ob der Umgang der Eltern mit dem Kind dem Kindeswohl widerspricht. Hierbei kann nicht schematisch vorgegangen werden, vielmehr müssen die Umstände jedes Einzelfalls konkret und individuell beleuchtet werden. In diesem Kontext kann nicht allein auf die vorangegangene Entscheidung des Familiengerichts zum Aufenthaltsrecht abgestellt werden, da diese auf der Frage beruhte, ob im Verbleib des Kindes bei den eigenen Eltern eine Kindeswohlgefährdung zu sehen ist und eine Entscheidung über die elterliche Sorge als sogenannte „ultima ratio“ zu dessen Abwendung erforderlich ist. Nun ist zu fragen, ob und wenn ja, welcher Umgang der Eltern mit dem Kind im Rahmen der Fremdunterbringung eine Kindeswohlgefährdung darstellt, sowie, ob und wenn ja, in welchem Umfang eine Reduzierung des Umgangs erforderlich ist.

In diesem Zusammenhang muss zunächst hinterfragt werden, ob es in der Praxis der Fremdunterbringung grundsätzlich dem Kindeswohl entspricht, den Umgang mit den Eltern vorübergehend auszusetzen, nur um eine vermeintlich bestehende Eingewöhnung des Kindes zu erreichen. Gerade die Komplexität der Fragestellung, welcher Umgang dem Kindeswohl im Einzelfall entspricht, verbietet eine pauschale Antwort. Es soll daher an dieser Stelle an den Leser appelliert werden, künftig eine konkrete Prüfung der tatsächlichen Umstände vorzunehmen und möglicherweise in Abkehr von genannter Praxis ein Umgangsrecht unmittelbar nach Inobhutnahme zu befürworten, wenn nicht unverkennbare Gründe für eine vorübergehende Aussetzung des Umgangs sprechen.

b) Der sich anschließende weitere Umgang der Eltern mit dem Kind sollte so gestaltet sein, dass es den Eltern ermöglicht wird, im Alltag der Fremdunterbringung eine stabile Beziehung zu ihrem Kind aufrechtzuerhalten und kontinuierlich im Leben des Kindes präsent zu sein. Rechtliches Ziel muss es bleiben, eine Rückführung des Kindes zu den Eltern zu ermöglichen, die Eltern somit nicht zu sehr vom Leben und dem Alltag ihres Kindes zu entfremden. Gleiches gilt auch aus der Sicht des Kindes, das sich weiterhin als Teil der Familie erleben muss, um die eigene Perspektive einer Rückkehr zu den Eltern aufrecht erhalten zu können.

Neben einem regelmäßigen Umgang, dessen Häufigkeit sich nach Alter und Situation des Kindes richten sollte, muss versucht werden, den Eltern soweit möglich u.a. eine Teilnahme an schulischen Veranstaltungen und Freizeitbetätigungen zu ermöglichen sowie Einblick in den Lebensalltag des Kindes in der Fremdunterbringung zu gewähren.

c) Im Falle psychisch kranker Eltern ist eine besondere Betreuung der Eltern zur Aufrechterhaltung der Beziehung zwischen Eltern und Kind sowie zur Vermeidung einer Verfestigung der Trennung erforderlich. Eine mögliche Begründung zur Reduzierung des Umgangs kann nicht die fehlende Finanzierbarkeit dieser individuellen Betreuung sein. Auch kann die Annahme, dass den involvierten Fachpersonen eine Rückführung des Kindes in die Obhut der Eltern eher unwahrscheinlich erscheint, aus juristischer Sicht per se keinesfalls eine Einschränkung des Umgangs oder gar seinen Ausschluss begründen, da das Umgangsrecht weder an die Idee einer Rückführung gebunden ist noch die Gültigkeit des gesetzlich grundsätzlich vorgegebenen Ziels einer Rückführung der Beurteilung durch die Jugendhilfe unterliegt. Der Umgang ist ein vom Aufenthalt und der tatsächlichen Sorge um das Kind unabhängiges Recht, dessen positive Wirkung auf das Kind grundsätzlich anzunehmen ist, solange nicht im konkreten Fall klare Gründe dafür gegeben sind, die diesen Grundsatz widerlegen.

Somit muss auch in den schwierigen Fällen der verschiedensten psychischen Erkrankungen der Eltern dem Kind und seinem Recht auf Umgang mit den eigenen Eltern wie auch dem Recht der Eltern auf Umgang mit ihrem Kind Rechnung getragen werden. Die Umstände des Einzelfalls entscheiden auch hier über Art und Umfang des Umgangs. Eine Kindeswohlgefährdung ist in der Regel nicht allein aus der Erkrankung der Eltern abzuleiten. Da zudem psychisch kranke Eltern oftmals nicht ausreichend in der Lage sind, ihre Rechte im Falle einer rechtswidrigen Reduzierung des Umgangs einzufordern, erfordert dies eine besondere Berücksichtigung und Wahrung der Elternrechte durch die entscheidungstreffenden Beteiligten.

 

4. Resümee

Stress und knappe Ressourcen im Sozialsystem führen immer wieder zu einer Ungleichbehandlung der Rechte Einzelner durch schematisierte Gleichbehandlung, so häufig auch in der Frage des Umgangs psychisch kranker Eltern mit ihren Kindern. Indessen ist eine konkrete Betrachtung des Umgangs zum Wohl des Kindes in jedem Einzelfall erforderlich. Es soll daher in Fällen, in denen der Umgang aufgrund von Vorgaben innerhalb der Behörden, von Wünschen der Pflegefamilien oder von starren Regeln der Jugendhilfeeinrichtungen zu scheitern droht, dem jeweiligen Ergänzungspfleger angeraten werden, im Falle einer geplanten Reduzierung oder Aussetzung des Umgangs eine Entscheidung des Familiengerichts über den Umfang des Umgangs herbeizuführen. Auch könnte sich der zuständige Mitarbeiter des Jugendamts bereits bei absehbarer Entscheidung zugunsten einer Inobhutnahme bemühen, im Hauptsacheverfahren vor dem Familiengericht eine diesbezügliche Einschätzung des gerichtlich bestellten Sachverständigen einzuholen. Dies führt letztlich neben der Wahrung der Rechte auch zu einer rechtlichen Absicherung für spätere Entscheidungen.

Insgesamt gilt es für alle im Verfahren und nach der gerichtlichen Entscheidung Beteiligten, Unrecht zu vermeiden, sich der Verantwortung über menschliche Schicksale bewusst zu sein und auch in schwierigen Situationen mit Eltern deren Rechte und die Rechte des Kindes im Blick zu behalten. Schließlich sollte es allen Beteiligten im Ergebnis um das Wohl des Kindes gehen, dessen Schicksal in ihren Händen liegt.

 

II. Auswirkungen von Fremdunterbringung und Umgang auf das Kind

Die Trennung eines Kindes von seinen Eltern gehört zu den prägendsten Erfahrungen eines Kinderlebens. Seit Jahrzehnten untersucht die Forschung zu sogenannten „kritischen Lebensereignissen“ den Einfluss einer Vielfalt von Erfahrungen auf die Biographie eines Menschen, auf seine emotionale und psychosoziale Entwicklung, auf Selbstbild und Erwartungen, auf berufliche Karriere sowie die Familienperspektive des Betroffenen. So ist unter Fachleuten wie Laien unbestritten, welch elementarer Einfluss vom Tod eines Elternteils während der Kindheit ausgeht, der weitestgehenden und endgültigen Form der Trennung eines Kindes von Mutter oder Vater.

Demgegenüber werden die positiven und negativen Effekte der Trennung eines Kindes von seinen Eltern im Fall einer Inobhutnahme und Fremdunterbringung weitaus kontroverser diskutiert. Zu dieser Kontroverse trägt bei, dass – anders als im Fall des Todes eines Elternteils des in der Familie lebenden Kindes – die Fremdunterbringung in ihren Gründen eine Belastung der Beziehung zwischen Eltern(teil) und Kind zu implizieren scheint. Mithin, so die Ansicht vieler Fachleute, kompensiere der Gewinn an Schutz, Alltagsstruktur, Gemeinschaft, Zuwendung und Förderung im Rahmen der Fremdunterbringung zumindest in Teilen den Verlust der Eltern. Nachgerade im Fall vernachlässigter und misshandelter Kinder gehen Mitarbeiter der Jugendhilfe, aber auch individuell mit den Kindern befasste Fachpersonen wie Psychotherapeuten häufig davon aus, dass ein vernachlässigtes, misshandeltes und/oder missbrauchtes Kind seine Eltern nicht so lieben und den Verlust der Beziehung zu diesen nicht so fürchten könne wie ein in der eigenen Familie bewahrtes Kind. Man glaubt, dass diese Kinder über die Trennung von ihren Eltern erleichtert sein müssten – und nicht selten zeigen Kinder dies insbesondere in der Zeit unmittelbar nach einer Inobhutnahme und Trennung durchaus.

Dennoch beruht die Annahme grundsätzlich abweichender Faktoren der psychischen Verarbeitung von Trennung im Fall einer Inobhutnahme auf mehreren Fehleinschätzungen, auf welche im Folgenden kurz eingegangen werden soll. Diese Fehleinschätzungen betreffen: (1) die fragwürdige Grundannahme, dass der Mensch nur lieben könne, wer ihn selbst liebt; (2) die Ansicht, dass die Gründe der Trennung Kind und Eltern grundsätzlich verständlich wären, würden sie diese mit derselben (vermeintlichen) Objektivität betrachten wie die Vertreter der Jugendhilfe; (3) die Vermutung, die Haltung des Kindes zur eigenen Inobhutnahme werde allein von den Erfahrungen in der Familie bestimmt und sei daher zumindest kurz- und mittelfristig stabil; (4) das Postulat, der erklärte Verzicht der Eltern, ihrem Wunsch nach Rückkehr des Kindes in die Familie gegenüber dem Kind Ausdruck zu verleihen, stütze das Kind in seinem Bekenntnis zur Fremdunterbringung; (5) schließlich das Konstrukt, die Abwesenheit der Eltern und die damit verbundene Auflockerung der Beziehung zu diesen mache es dem Kind leichter, in der Fremdunterbringung neue Beziehungen aufzubauen.

 

1. Kann der Mensch nur lieben, wenn er selbst geliebt wird?

Die Annahme, das Kind könne seine Eltern nur lieben, wenn diese es lieben, folgt weniger wissenschaftlichen Erkenntnissen als vielmehr einer Laienpsychologie, der ein modernes demokratisches Beziehungsverständnis zugrunde liegt, in welchem allein das gemeinsame Bekenntnis der Partner zur Beziehung dieser Sinn verleiht. Diese Sichtweise lässt außer Acht, dass die Beziehung des Kindes zu den Eltern aus einer fundamentalen Abhängigkeit des Kindes von den Eltern erwächst, in welcher der Gedanke eines wechselseitigen Anspruchs sowie der Aufkündbarkeit der Beziehung zunächst keinen Platz hat. Viele Kinder lieben ihre sie vernachlässigenden, misshandelnden und missbrauchenden Eltern, da diese der erste, konstante und oft einzig relevante Gegenstand des eigenen Beziehungserlebens sind. Gerade nach Jahren traumatisierender Erfahrungen erreicht die irrationale Hoffnung auf Besserung und Glück in dieser wichtigsten aller Beziehungen ihren Höhepunkt. Die Inobhutnahme mag im ersten Augenblick Erleichterung und Schutz bedeuten. Zugleich macht sie jedoch die schmerzhafte Investition des Kindes in die Beziehung zu den eigenen Eltern, wie sie durch den bisherigen Verbleib in dieser Beziehung erfolgte, zunichte, zerstört sie die Hoffnung auf die Liebe der Eltern durch das Ende der Gemeinschaft mit diesen.

 

2. Gibt es objektive, allen Menschen verständliche Kriterien des Kindeswohls?

Die Operationalisierung der Idee elterlicher Sorge und öffentlicher Fürsorge hat einen vermeintlich objektiven Bezugsrahmen für das Konzept des Kindeswohls geschaffen. Rechtsnormen und gesellschaftsweite Konnotationen kindgerechter Lebens-verhältnisse legen nahe, dass die Sicht der Jugendhilfe auf das Kindeswohl legitim, vernünftig und ubiquitär ist. Beispiele dafür sind die Ächtung von Gewalt in der Erziehung von Kindern, basale Ansprüche an die Sozialhilfe oder die Schulpflicht. Der proklamierten Allgemeingültigkeit dieser Rechtsnormen und sozialen Werte scheint manchem Vertreter der Jugendhilfe, aber auch Juristen die allgemeine Verständlichkeit implizit zu sein. Dem ist allerdings nicht so. Abweichendes kulturelles Entstammen (insbesondere bei Familien mit Migrationshintergrund), spezifische Sozialisationsbedingungen und Gewöhnung an besondere familiäre Lebensverhältnisse machen Kindern wie Eltern nicht selten unverständlich, warum ihre Gemeinschaft dem Kind schaden soll. Nachgerade die Selbstverständlichkeit, mit welcher viele Vertreter der Jugendhilfe die elterliche Einsicht in die Notwendigkeit von Inobhutnahme und Fremdunterbringung einfordern, ja diese zum Kriterium der Erziehungsfähigkeit machen, erschwert den betroffenen Familien, Berechtigung und Sinn der Maßnahme zu begreifen.

 

3. Ist eine neue Lebenssituation allein durch das vermeintliche oder reale Übel einer früheren Lebenssituation zu rechtfertigen?

Die Inobhutnahme und Fremdunterbringung ist eines der denkbar kritischsten Lebensereignisse im Leben eines Kindes. Nach einer Inobhutnahme werden Kind und Familie nie mehr so sein wie vor der Inobhutnahme. Insoweit die Inobhutnahme eine erste von außerhalb der Familie bedingte Trennung von Eltern und Kind darstellt, begründet sie den Gedanken, die Hoffnung oder die Furcht, die Familie als zerbrechliche, als aufkündbare, als gefährdete vergängliche Gemeinschaft zu begreifen. Vor diesem Hintergrund setzt mit dem Moment der Inobhutnahme und Fremdunterbringung zwangsläufig eine Veränderung der Sicht des Kindes auf die Familie ein. Das Kind erlebt die Eltern in einer rasch wachsenden Ambivalenz als entmachtet, diskreditiert, bestraft, alleingelassen, unsicher, verletzt, wütend, resigniert, desinteressiert, um es kämpfend oder sich von ihm abwendend. Es mag die neue Lebenssituation schätzen und hat doch – bisweilen gerade deshalb – ein schlechtes Gewissen, zur Trennung beigetragen zu haben, es nun besser zu haben als die Eltern und ggf. zurückgebliebene Geschwister, Eltern und Geschwistern nicht mehr beistehen zu können sowie eine Grenze, sei es aus eigenem Willen oder gegen diesen, überschritten zu haben, hinter welche nicht mehr zurückzukehren ist.

 

4. Können Kinder durch das Schweigen ihrer Eltern entlastet werden?

Nach einer Inobhutnahme und im Kontext der Fremdunterbringung eines Kindes wird Eltern häufig seitens der Jugendhilfe auferlegt, dem Kind die Akzeptanz der Maßnahme dadurch zu erleichtern, dass sie darauf verzichten, den eigenen Wunsch nach Rückkehr des Kindes in die Familie diesem gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Dies gilt insbesondere dann, wenn aus Sicht der Fachleute offen bleiben soll, wie lange die Fremdunterbringung andauern wird. Aus familienpsychologischer Sicht ist diese Forderung fatal, da das Kind, sofern es selbst in die Familie zurückkehren möchte, von seinen Eltern erwartet, dass auch diese sich seine Rückkehr wünschen und diesem Wunsch offen Ausdruck verleihen. Daher ist die aktive Auseinandersetzung des Kindes mit dem eigenen Wunsch wie auch den Wünschen der Eltern einerseits sowie den ggf. konkurrierenden Sichtweisen von Pflegeeltern, Erziehern, Ergänzungspflegern und Jugendhilfemitarbeitern andererseits von grundlegender Bedeutung für die Bereitschaft des Kindes, sich aktiv und selbstbestimmt in die Fremdunterbringung und das dort bestehende Beziehungssystem einzulassen. Trennung, Reduktion und Ausschluss von Umgang sowie die Ausblendung der Restitution der Familie begünstigen allenfalls eine resignative Duldung der Fremdunterbringung durch das Kind, nicht aber die bewusste und bereitwillige Nutzung der Chancen, die sich aus der Fremdunterbringung ergeben.

5. Kann ein Kind seine Eltern oder die Beziehung zu diesen vergessen?

Die Frage, wie viel Präsenz der Eltern im Leben eines fremduntergebrachten Kindes für dessen Entwicklung sinnvoll und hilfreich ist, steht in engem Bezug zur Auseinandersetzung des Kindes mit der Bedeutung seiner Eltern für es selbst. Wie die Bindungsforschung der letzten 50 Jahre zeigte, hat das Beziehungserleben des Kindes innerhalb der Familie einen großen Einfluss auf seine Gestaltung außerfamiliärer Beziehungen, insofern insbesondere die Beziehung zu den Eltern als Muster für die Erwartung und das Verhalten in anderen Beziehungen dient. Die prototypische Wirksamkeit der Kind-Eltern-Beziehung endet daher nicht mit der faktischen Alltagspräsenz der Eltern im Leben eines Kindes. Je länger und bewusster ein Kind in seiner Herkunftsfamilie lebte, desto bedeutsamer ist seine Beziehung zu den eigenen Eltern gerade auch nach einer Trennung von diesen. In diesem Sinne begünstigt der Fortbestand der Beziehung zu den Eltern die Ausbildung neuer Beziehungen. Einschränkung und Kappen der Kind-Eltern-Beziehung sind hingegen eine ungünstige Voraussetzung für die Bereitschaft eines Kindes, sich auf neue Beziehungen einzulassen, manifestiert sich doch zuvörderst in der Trennung von den Eltern die Schwäche und Endlichkeit selbst dem Kind existenziell anmutender Beziehungen, die sodann als antizipierter Mangel und absehbares Leid in künftige Beziehungen projiziert werden.

 

Die genannten fünf Faktoren lassen erkennen, wie wichtig der Umgang von Kindern mit ihren Eltern vor allem anderen im Rahmen der Fremdunterbringung ist. Dabei sollten Fachleute, die in die Betreuung eines fremduntergebrachten Kindes involviert sind, die Willensbekundungen des Kindes ernst nehmen, sich jedoch nicht von häufig zunächst ablehnenden Aussagen des Kindes zum Umgang täuschen lassen. Kinder ab fünf Jahren, v.a. jedoch ältere Kinder und Jugendliche sehen zwangsläufig einen Anteil eigenen Redens und Handelns an der Einleitung und Begründung der Fremdunterbringung. Ihre Aussagen und ihr Verhalten führten in der Regel zur Inobhutnahme und Fremdunterbringung. Erleben sie ihre Eltern in der Folge entmachtet und verletzt, realisieren die Kinder ihre kausale Verantwortung und subjektiv empfundene Schuld an diesem Zustand, ganz gleich, ob sie die Wahrheit oder Unwahrheit sagten, ob sie an der Familie litten oder die Eltern unter ihrem Verhalten. Nicht selten führen ein schlechtes Gewissen, die Furcht vor den Konsequenzen des eigenen Redens und Handelns sowie die Meidung jedweder Rechtfertigung vor den Eltern zur initialen Vermeidung und Ablehnung des Umgangs.

Pauschale oder ausschließlich an den Aussagen der in Obhut genommenen Kinder orientierte Einschränkungen und (auch vorübergehende) Ausschlüsse des Umgangs mit den Eltern insbesondere zu Beginn der Fremdunterbringung leisten psychischen Verarbeitungsstrategien Vorschub, welche v.a. kurz- und mittelfristig einen problematischen Einfluss auf die emotionale und psychosoziale Entwicklung der Kinder nehmen. Sie verschärfen die wahrgenommene Abgrenzung von den Eltern sowie das Bewusstsein der eigenen Verantwortung für die Trennung und Aufrechterhaltung der Trennung. Die Abwesenheit der Eltern manifestiert die Auflösbarkeit der Beziehung; bisweilen suggeriert sie dem Kind gar die Lösbarkeit von Problemen innerhalb der Kind-Eltern-Beziehung durch die Auflösung dieser Beziehung. Nicht zuletzt behindert die Einschränkung und Unterbrechung des Umgangs mit den Eltern die Möglichkeit, die Fähigkeit und den Willen des Kindes, sich nachgerade im Schutz der Fremdunterbringung in der Beziehung zu den Eltern gleichermaßen geschützt wie stark zu erleben.

Hat also bereits die Beschränkung und insbesondere der Ausschluss des Umgangs von Kindern, deren Inobhutnahme und Fremdunterbringung sich auf das Erleben von Vernachlässigung, Misshandlung und/oder Missbrauch stützen, kritische Auswirkungen auf die psychische Verarbeitung der Trennung von den Eltern, – muss dann die Trennung sowie die Beeinträchtigung der Kind-Eltern-Beziehung durch die Beschränkung und den Ausschluss des Umgangs nicht noch weitaus belastender auf die Psyche eines Kindes wirken, das sich von den Eltern weder vernachlässigt noch misshandelt oder missbraucht erlebte?! Führt gar eine dem Kind zumindest in Teilen erkennbare und verständliche psychische Erkrankung eines Elternteils zur Inobhutnahme und Fremdunterbringung, wird das Kind die Trennung von diesem Elternteil zumeist kaum als Schutz seiner selbst, sondern vielmehr als Ende des Schutzes des kranken Elternteils, bisweilen aber auch des anderen Elternteils sowie jüngerer und schwächerer Geschwister begreifen.

Für die psychische Verarbeitung der Trennung durch Kinder von kranken Eltern ist es weitgehend unerheblich, ob Pädagogen oder Therapeuten der Meinung sind, dass Kinder weder Schutz noch Stütze kranker Eltern sein können und dürfen. Die Teilhabe am Leben ihrer Eltern ist ein Modus der Sorge, in welchem sich Kinder mit wachsender Bewusstheit der familiären Bezüge vorfinden. Eine Herausnahme aus der Familie mag Kinder von Aspekten der alltäglichen Versorgung von kranken Eltern und/oder Geschwistern befreien, vermag jedoch nicht die Sorge um diese zu eliminieren. Ist die Fremdunterbringung allerdings aus fachlicher Sicht unumgänglich, kann ein zeitnaher, regelmäßiger und intensiver Umgang des Kindes mit dem kranken Elternteil helfen, das Kind sowohl durch den Kontakt zur Familie als auch durch die Teilnahme von Pflegeeltern bzw. Betreuern an der Sorge um Mutter und Vater zu beruhigen.

Es gibt nur wenige psychische Erkrankungen, welche selbst einen begleiteten Umgang eines Kindes mit einem psychisch kranken Elternteil ausschließen. Dazu zählen Phasen wahnhaften psychotischen Erlebens und Verhaltens im Rahmen von Schizophrenien; manische und schwer depressive Episoden affektiver Störungen, welche die emotionale Responsivität des kranken Elternteils auf die Gegenwart des Kindes in einem Maße begrenzen, das ein Erleben familiärer Gemeinschaft unmöglich macht; Zustände nach Substanzmissbrauch oder Entzug, welche die Kontrolle des eigenen Verhaltens durch den kranken Elternteil erheblich einschränken; sowie Persönlichkeitsstörungen, welche erwarten lassen, dass der kranke Elternteil das Kind im Rahmen des Umgangs in einem Maße beschimpfen, herabwürdigen, bedrohen und/oder beschuldigen wird, dass auch der sofortige Abbruch des Umgangs keinen hinreichenden Schutz des Kindes vor den psychischen Belastungen durch den Umgang darstellt.

Demgegenüber kann und darf der Umstand der psychischen Erkrankung eines Elternteils per se kein Grund sein, den Umgang eines Kindes mit dem kranken Elternteil zu beschränken. In dem Maße, in dem Kinder durch Geburt und frühe Kindheit unbewusst an ihr Entstammen, an Eltern und Familie gebunden sind, müssen sie sich durch die bewusste Auseinandersetzung mit diesem Entstammen, mit den Eltern und der Herkunftsfamilie von den Konditionen dieser Bindung befreien, um im Angesicht der überkommenen familiären Beziehungen die Fähigkeit zu entwickeln, neue außerfamiliäre Beziehungen einzugehen und aktiv zu gestalten.

Die amerikanischen Psychologen Edward Deci und Richard Ryan haben in ihrer Selbstbestimmungstheorie der Motivation drei basale psychologische Bedürfnisse des Menschen beschrieben: Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit. Bereits Kinder streben von Beginn ihres Lebens an nach psychischer Eigenständigkeit, nach Kontrolle über das eigene Verhalten und seine Auswirkungen sowie nach aktiver Gestaltung der Beziehungen, in welchen sie sich mit dem Wachsen des eigenen Bewusstseins vorfinden. Mit Inobhutnahme und Fremdunterbringung wird die kindliche Fähigkeit zur Befriedigung dieser grundlegenden Bedürfnisse zu einem Zeitpunkt auf die Probe gestellt, zu dem das Kind meist noch weit davon entfernt ist, unabhängig von seinen Eltern, seinen eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten bewusst und jenseits der Herkunftsfamilie sozial eingebunden zu sein.

Die Tage und Wochen nach einer Inobhutnahme entscheiden darüber, ob das Kind die Trennung von seinen Eltern als Schicksal oder als Chance empfindet, als Kontrollverlust oder Freiheitsgewinn, als Beziehungsabbruch oder Beziehungsgestaltung. Der Umgang des Kindes mit seinen Eltern in dieser Frühphase der Fremdunterbringung ist dabei von zentraler Bedeutung, wie das Kind den Fortgang seiner Beziehung zu den Eltern begreift, mithin auch außerfamiliäre Beziehungen künftig gestalten wird. So wirft der Umgang mit dem Umgang – das Reden und Handeln von Pflegeeltern und Heimbetreuern, von Jugendamtsvertretern und Ergänzungspflegern – vom Moment der Inobhutnahme eines Kindes an einen Schatten auf den Umgang des Kindes: wie es sich und die Eltern sieht, wie es Beziehungen erlebt und gestaltet, wie es künftig mit sich und anderen umgehen wird. Späterer Umgang wird diesen Schatten nie gänzlich verlassen können.



[1] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29.11.2012, Az. 1 BvR 335/12

[2] vgl. OLG Hamm, FamRZ 2011, 310

[3] vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29.11.2012, a.a.O., Rn. 22

[4] vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29.11.2012, a.a.O., Rn. 25 m.w.N.

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