Wir hören und lesen fast täglich: Wieder haben zwei Jugendliche in der U-Bahn einen Fahrgast totgeschlagen, der sie davon abhalten wollte, ein Kind auszurauben. Wieder hat ein Amokläufer mit Molotowcocktails seine Schule gestürmt und mehrere Mitschüler und Lehrer schwer verletzt. Wieder hat ein Mann seine ganze Familie und schließlich sich selbst ermordet.
Solche Angriffe auf die Sicherheit im öffentlichen (und privaten) Raum lösen immer das gleiche Ritual aus, das sich in zwei Fragen abwickelt:
- Warum machen die das? Und:
- Was sollen wir dagegen tun?
Beide Fragen sind verständlich und durchaus nahe liegend. Aber sie lassen sich nicht beantworten – jedenfalls nicht so, wie die Öffentlichkeit es wünscht. Sehen wir also mal etwas genauer hin, was hier abläuft. Es geht nicht darum, wie böse die Gewalt ist, sondern um die Art, wie wir mit solchen Vorkommnissen umgehen.
Auf die erste Frage nach den Ursachen der Gewalt sind Medien und Experten schnell bei der Hand mit scheinbar plausiblen Erklärungen: Junge Täter handeln aus Langeweile, Frust, Verlust an Werten, Angst vor Misserfolg, Mangel an Perspektiven, vielleicht unter Einfluss von Alkohol und Drogen. Sie stammen aus Familien, in denen die Eltern nur negative Vorbilder liefern, und haben in ihrem kurzen Leben keinerlei Ordnung und Orientierung erfahren.
Das alles mag zwar mitspielen, bietet aber keine stichhaltige Begründung im Sinne eines nachvollziehbaren kausalen Ablaufs. Andere, die unter den gleichen Bedingungen leben müssen, wenden keine Gewalt an. Aber die Öffentlichkeit kann es nicht ertragen, dass es Übeltaten gibt, die niemand „versteht“. Deswegen kommt es in der Diskussion alsbald zu einem Gleichgewicht von Tat und Erklärung. Auf der einen Waagschale liegt die Schwere der Tat. Damit die Waage nicht umkippt, muss auf die andere Waagschale eine Erklärung gepackt werden, die das Gleichgewicht wiederherstellt.
Für diesen Ausgleich werden Spezialisten herangezogen die sich hier vermeintlich auskennen. Doch sie gehen oft genug so vor, als werde ihnen ein kaputter Apparat auf die Werkbank gelegt, den sie reparieren sollen. Und sobald uns die Kundigen erklären, woran es liegt, sind die Instrumente zur Heilung verfügbar. Mit der Erläuterung ist auch die Tat selbst „klar“ geworden. Tat und Begründung gehören zusammen und sind, wie in einen Kokon eingesponnen, eng aufeinander bezogen.
Nun zur zweiten Frage: Was sollen wir tun? Darauf geben Politiker, Medien und Experten in der Regel zwei Antworten: Prävention – oder Strafe. Aber sowohl die „weiche“ wie die „harte“ Lösung sind weltanschaulich, nicht sachlich begründet. Indem man das eine oder das andere vorschlägt, zeigt man seine Gesinnung und seinen Durchblick.
„Prävention“ ist die beliebte Ausrede dafür, dass man eigentlich nichts tun will. „Strafe“ beweist, dass man moralisch und verantwortungsbewusst denkt. Beide Lösungen klingen so, als wollten ihre Vertreter etwas Grundsätzliches, nämlich solche Gewalttaten ein für allemal unterbinden. Prävention regelt die Gesellschaft durch bessere Erziehung, Strafe nimmt den bösen Täter auf Dauer aus dem Blickfeld. Beide tun so, als gäbe es, wenn man sich nur ein bisschen anstrengt, die normale Gesellschaft, in der das alles gar nicht mehr vorkommt
In beiden Fällen bleibt es bei Absichtserklärungen. Eingreifen sollen die anderen, die eben dafür zuständig sind: Eltern, Schule, Jugendamt, Polizei, Gericht. So entsteht der Eindruck, es handele sich um ein durchaus lösbares Problem – wenn nur die zuständigen Instanzen nicht chronisch versagten.
Was folgt daraus?
Wenn es immer „die anderen“ machen sollen, wird der Einzelne als verantwortliche Person zurückgenommen oder sogar eliminiert. Das gilt für Täter, Opfer, Aufpasser gleichermaßen.
Beim Täter wird mit der Frage nach den „Ursachen“ die Schuld wegdiskutiert. Er ist das willenlose Produkt widriger Umstände und kann eigentlich nichts dafür, denn er hatte keine Chance zu einem „normalen“ Leben. Auch die Person des Opfers verschwindet. Man geht davon aus, dass der Einzelne mit seiner schlimmen Situation gar nicht selbst fertig werden kann. Deswegen sind immer schon Scharen von Tröstern, Experten, Betreuern zur Stelle, die sich der Betroffenen annehmen. So kommen wie die Täter auch die Opfer wieder ins Gleichgewicht.
Schließlich verschwinden auch jene Personen, die handeln sollen. Sicherlich ist es gut gemeint, wenn man die „Eingreifer“ (in der U-Bahn oder auf der Straße) schulen und vorbereiten will. Sie sollen Zivilcourage zeigen, ohne sich selbst zu gefährden. Dazu werden ihnen einige Tricks für Standardsituationen beigebracht. Aber gerade die Schulung schließt auch den potenziellen Eingreifer in den Kokon des Tatzusammenhangs ein. Die Person wird zur ausführenden Kraft nach einem Plan und handelt so, wie sie es eben gelernt hat.
Damit wird ein übersichtlicher Gesamtvorgang hergestellt, der sich trefflich von allen Seiten kommentieren lässt. Aber das Problem der bösen Gewalttat bleibt ungelöst, weil es sich nicht lösen lässt.