Leitner, H.: Erhebung zu Meldungen bei Kindeswohlgefährdungen an Brandenburger Jugendämter im Jahr 2009

1. Erhebungshintergrund

Die Fachstelle Kinderschutz im Land Brandenburg hat in Zusammenarbeit mit  Leitungen der Sozialen Dienste Brandenburger Jugendämter eine Erhebung zu Meldungen bei Kindeswohlgefährdungen an Brandenburger Jugendämter vorbereitet und durchgeführt.

Die Erhebung wurde auf der Grundlage eines inhaltlich gemeinsam abgestimmten Erhebungsbogens für den Zeitraum des gesamten Jahres 2009 durchgeführt, durch die Fachstelle Kinderschutz ausgewertet und in einer abschließenden Fachveranstaltung diskutiert und für die Praxis handlungsleitend aufbereitet.

Ein Ziel dieser Erhebung war es, verlässlichere Daten und Informationen bezüglich des Umfangs und des unmittelbaren Umgangs mit bekannt gewordenen kindeswohlgefährdenden Situationen zu erhalten. Hier ging es insbesondere um quantitative Fragen des jährlich durchschnittlichen Fallaufkommens, der Alters- und Geschlechtsstruktur der betroffenen Kinder, um qualitative Aussagen zu Melder/innen, zu Hintergründen der gemeldeten Gefährdung oder zu unmittelbaren Reaktionen der Sozialen Dienste der Jugendämter (allgemeine Beratung, Inobhutnahme, Anrufung des Familiengerichtes, differenzierte Gefährdungsprüfung, Gewährung von Hilfe zur Erziehung). In der Gesamtschau konnten auch Informationen zu Arbeitsbelastungen der Allgemeinen Sozialen Dienste der Jugendämter gewonnen werden.

Für die Erhebung haben alle Jugendämter Daten zur Verfügung gestellt. Diese Daten sind auf Grund der in den einzelnen Jugendämtern individuell gestalteten Verfahren zur Datenerfassung und -verwaltung in bestimmten Details nicht zwingend im Sinne eines interkommunalen Vergleichs belastbar. Diesen Anspruch hatte die vorliegende Erhebung jedoch von Beginn an nicht, da eine solche Zielrichtung den unterschiedlichen örtlichen Gegebenheiten in keiner Weise gerecht werden könnte.

Deshalb ist es ein weiteres, durch die unmittelbar beteiligten ASD-Leitungen formuliertes Ziel, für die Zukunft einen (annähernd) vergleichbar gepflegten Datenbestand anzuregen.

2. Auswertung der Erhebung

2.1. Fallzahlen

Im Jahr 2009 erfolgten an alle Allgemeinen Sozialen Dienste der Brandenburger Jugendämter 3.369 durch „Meldebogen“ erfasste Gefährdungsmeldungen im Sinne des § 8a SGB VIII.

Im Rahmen der Datenerfassung wurde verschiedentlich angemerkt, dass nicht in allen Jugendämtern alle eingehenden Meldungen dokumentiert werden; so zum Teil nur die, die unmittelbar das Verfahren zur Abschätzung des Gefährdungsrisikos gemäß § 8a SGB VIII auslösen. Diese dokumentierten Meldungen (jährlicher Durchschnitt: 187 Meldungen pro Jugendamt) setzten das in allen Jugendämtern verbindlich vorgegebene Verfahren zur Risikoeinschätzung in Gang und gingen mit konkreten und nachweisbaren Arbeitsbelastungen einher. Die Verfahren und die damit verbundenen wirklichen Arbeitsbelastungen der einzelnen Jugendämter wurden nicht untersucht.

Dabei schwanken die Fallzahlen regional deutlich zwischen jährlich 44 und 412 erfassten Gefährdungsmeldungen pro Jugendamt. Diesbezüglich ist anzumerken, dass es in Brandenburg eine landesweite Begriffsbestimmung zu „Gefährdungsmeldung“ nicht gibt.

In der folgenden Grafik sind alle in den Brandenburger Jugendämtern im Laufe eines Jahres eingegangenen und schriftlich dokumentierten Gefährdungsmeldungen zusammengestellt.

2.2. Betroffene Kinder

Die Anzahl der im Rahmen der erfassten Meldungen unmittelbar betroffenen Kinder liegt landesweit im Jahr 2009 bei 4.148 und damit durchschnittlich bei 230 pro Jugendamt und damit deutlich über der Anzahl der eigentlichen Meldungen (3.369 Meldungen und damit 187 pro Jugendamt). Auch hier ist eine deutliche regionale „Streubreite“ von jährlich 58 bis 665 unmittelbar betroffenen Kindern pro Jugendamt festzustellen.

Mit Blick auf geschlechtsspezifische Besonderheiten sind mit 51,9 zu 48,1 Prozent annähernd gleich viel Jungen und Mädchen von den Gefährdungsmeldungen betroffen (auswertbare Daten lagen für 1.927 Minderjährige vor).

Bezogen auf die Altersstruktur sind auf Grundlage der vorliegenden Daten zirka ein Drittel der Kinder (31,3 Prozent) jünger als drei Jahre, wobei davon ungefähr jedes fünfte Kind jünger als 6 Monate ist. Jedes weitere fünfte Kind (20,1 Prozent) ist zwischen drei und sechs Jahre alt. Damit sind über die Hälfte der Kinder (51,4 Prozent) jünger als sechs Jahre. Zirka 40 Prozent sind Mädchen und Jungen im Alter zwischen sechs und 14 Jahren. „Lediglich“ 8,9 Prozent sind minderjährige Jugendliche die älter als 14 Jahre sind (auswertbare Daten lagen zu diesem Punkt für 3.175 Minderjährige vor).

 

2.3. Melder/innen

Gut jede zehnte Meldung über eine vermeintliche Kindeswohlgefährdung erfolgt aus dem Bereich der Kindertagesbetreuung und Schule. Ebenso groß ist die Quote der Meldungen die die Jugendämter über Nachbarn oder das unmittelbare Wohnumfeld der betroffenen Familien erreichen. Etwas häufiger als jede zwanzigste Meldung erreicht das Jugendamt über Mitarbeiter/innen der Polizei. Im Weiteren wurden Meldungen aus verschiedensten Bereichen abgesetzt, die in der folgenden Übersicht zusammengefasst dargestellt sind.

In jedem sechsten Fall (15,6 Prozent) wurde die im Jugendamt eingehende Gefährdungsmeldung als anonym erfasst. Anonymität heißt in diesen Fällen, dass der oder die Meldende nicht aktenkundig ist.

Dazu kommen die Fälle (35,4 Prozent), in denen die Melder/innen im Rahmen der Erhebung nicht erfasst wurden.

Bezieht man die Meldungen zusammenfassend auf die betroffenen Familien, kann festgestellt werden, dass bei Vernachlässigung der nicht erfassten Melder/innen sich knapp in einem Drittel der Fälle (26,1 Prozent) die Meldungen aus einem allgemeinen familiären Kontext (Nachbarn, Umfeld, Angehörige) heraus ergeben.

Ebenso erfolgen Meldungen in annährend gleicher Größenordung (31,7 Prozent) unmittelbar aus einem kindbezogenen Betreuungszusammenhang heraus (Klinik, Arzt, Schule, Kita, Hilfeträger).

In gut 20 Prozent der Fälle wurde ein unmittelbarer Bezug zu den Personensorgeberechtigten dokumentiert (Polizei, Behörde, wie anderes Jugendamt, Grundsicherung, ARGE, Gericht, Staatsanwaltschaft, Vermieter, Handwerker, Versorger).

Als Selbstmelder/innnen wurden 3,9 Prozent aller dokumentierten Meldungen ausgewiesen.

Die letztendlich im ASD des Jugendamtes eingehenden Gefährdungsmeldungen erfolgen im Landesdurchschnitt in gut der Hälfte aller Fälle in denen es Angaben zu den Meldern/innen gibt aus einem professionellen Kontext heraus (davon insbesondere aus Schulen bzw. Kitas, über die Polizei, über Kliniken bzw. Ärzte).

Knapp ein Drittel der Meldungen kann dem privaten Umfeld der betroffenen Familien zugeordnet werden (u. a. Nachbarn bzw. nahes Umfeld der Familie, Angehörige), wobei hier auch die 3,9 Prozent Selbstmelder/innen erfasst wurden.

In knapp einem Prozent der Fälle erfolgten Meldungen aus einem „semiprofessionellen“ Zusammenhang heraus (Vermieter, Handwerker, Energieversorger).

Gesamtübersicht

 

Übersicht in Bezug auf Betroffenen

Melder/innen

Quote

Melder/innengruppe

Quote*

anonym

15,6

Umfeld des Kindes

31,7

Kita / Schule

13,0

Umfeld der Familie

26,1

Nachbarn / Umfeld

11,9

Umfeld der Eltern

20,6

Polizei

6,1

Selbstmelder/innen

3,9

Kliniken / Ärzte

3,9

anonym

17,7

Angehörige

3,2

Behörden

2,8

Hilfeträger

2,7

Selbstmelder

2,2

Übersicht in Bezug auf Melder/innen*

Grundsicherung / ARGE

2,0

Melder/innengruppe

Quote

Gericht / StAw

0,4

professionelles Umfeld

51,4

Vermieter

0,3

privates Umfeld

30,0

Handwerker

0,3

semiprofessionelles Umfeld

0,9

Versorger

0,2

anonym

17,7

keine Angaben

35,4

* ohne „keine Angaben“

 

2.4. Inhalte der Meldungen

In 1.540 Fällen lagen auswertbare Daten vor (gemeldet hatten 12 Jugendämter). Zunächst fällt auf, dass dieser Fallzahl eine mit 1.700 unwesentlich höhere Zahl von im Rahmen der Erstmeldung erfassten Gefährdungsmomenten gegenübersteht. Dies bedeutet für das praktische Handeln der Mitarbeiter/innen der Allgemeinen Sozialen Dienste der Jugendämter, dass grundsätzlich eine genauere Analyse jeder Gefährdungsmeldung erfolgen muss, um diese im Einzelfall in ihrem „wirklichen Ausmaß“ erfassen und bewerten zu können.

Die zunächst im Rahmen der Auswertung der Meldungen erfassten und im Ergebnis einer ersten Risikoabschätzung festgestellten Gefährdungsmomente beziehen sich landesdurchschnittlich zu 66,6 Prozent auf Aspekte von unmittelbarer (u. a. Verletzung der Fürsorge- und Aufsichtspflicht) und mittelbarer (u. a. Sucht) Vernachlässigung.

 

Inhalte Gefährdungsmeldungen

Quote

Zsf. Inhalte Gefährdungsmeldungen

Quote

Vernachlässigung

26,7

Vernachlässigung

66,6

körperliche Misshandlung

12,4

Gewalt

27,0

Überforderung Eltern

10,0

kindbezogene Symptome

5,8

häusliche Gewalt

8,0

unklare Gefährdung

0,6

Wohnverhältnisse

7,7

sexueller Missbrauch

6,6

Suchtprobleme

5,3

Grundversorgung

3,6

mangelnde Fürsorge und Aufsicht

3,3

Fehlentwicklung Kind

3,3

gesundheitliche Gefährdung

3,2

schulische Probleme

2,5

seelische Gefährdung

2,4

psychisch kranke Eltern

1,8

Schulden

1,0

Sorgerechtsstreit

0,6

unklare Gefährdung

0,6

polizeilicher Einsatz

0,5

Kontaktverweigerung

0,5

 

In 26,9 Prozent liegt den Meldungen unmittelbare Gewalt zu Grunde (körperliche Misshandlung: 12,4 Prozent, häusliche Gewalt: 8,0 Prozent und sexueller Missbrauch: 6,6 Prozent).

So genannte kindbezogene Symptome (u. a. Verhaltensauffälligkeiten, Fehlentwicklungen, schulische Probleme) wurden in 5,8 Prozent der Fälle dokumentiert.

Die Kategorie der psychischen Gewalt wurde im Rahmen der Erhebung nicht ausdrücklich ausgewiesen und ist mit Sicherheit unter dem Aspekt der Vernachlässigung vorzufinden.

Unklare Gefährdungslagen sind ebenfalls, jedoch in geringer Häufigkeit erfasst. Diese ziehen, wie bereits erwähnt, eine differenzierte und damit zeitlich aufwendigere Gefährdungsabschätzung nach sich. Es ist zu vermuten, dass zur unmittelbaren Sicherung des Kindeswohls eine unmittelbare Gefahrenabwehr vollzogen wurde. Diese erfolgt in der Regel durch eine Inobhutnahme oder durch die Gewährung einer Hilfe zur Erziehung.

 

2.5. Unmittelbare Reaktionen

Als unmittelbare Reaktion auf die Gefährdungsmeldungen erfolgte durchschnittlich in 65 Prozent aller Fälle ein Hausbesuch, in der Folge ggf. auch ein Wiederholungsbesuch.  Auch hier schwanken die Quoten regional deutlich zwischen 44 und 100 Prozent. Es liegen jedoch keine Erkenntnisse darüber vor, ob bei einem unmittelbar durchgeführten Hausbesuch Personen bzw. Kinder angetroffen wurden und ggf. welche unmittelbar anschließenden Schritte zur Sicherung des Kindeswohls erfolgten.

In gut jedem zehnten Fall (9,5 Prozent) aller Fälle erfolgte eine Inobhutnahme, wobei die regionalen Häufigkeiten zwischen ungefähr zwei und 16 Prozent differieren.

In 9,2 Prozent der Gefährdungsmeldungen wurde unmittelbar die Anrufung des Familiengerichts veranlasst. Dabei schwankt die Anrufung des Familiengerichtes regional erheblich zwischen gut einem und 28,2 Prozent.

Landesweit erforderte rund jede sechste Gefährdungsmeldung (16,9 Prozent bei einer regionalen Differenzierung bis zu 70 Prozent) zur sicheren Abschätzung des Risikos eine genauere Einzelfallprüfung im Rahmen eines außerordentlich zeit- und arbeitsaufwendigen Verfahrens.

Im Zusammenhang mit der Beteiligung der Personensorgeberechtigten an der Risikoabschätzung nehmen in fast jedem dritten Fall (29,7 Prozent) in der Regel die Eltern, die angebotene Beratung durch den ASD an. Auffällig ist auch hier wieder die regional sehr unterschiedliche Nutzung solcher Angebote: zwischen 6,2 und 64,1 Prozent in Bezug auf alle Meldungen je Jugendamt.

Unmittelbar nach Erstprüfung des Gefährdungsrisikos wird in 27,8 Prozent der Fälle ein erzieherischer Bedarf in den betroffenen Familien im Sinne einer Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 ff. SGB VIII festgestellt und eine entsprechende Hilfe gewährt. In diesem Zusammenhang geht die häufig so genannte Schutzplanung gemäß § 8a SGB VIII unmittelbar in eine Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII über. Diese Schutzplanung bezieht sich ausschließlich auf die unmittelbare Sicherung des Kindeswohls.

Auch hier schwanken die regionalen Quoten zwischen 8,9 und 45,5 Prozent. Ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Beratung durch den ASD und der Häufigkeit der folgenden Hilfegewährung (jeweils annähernd gleiche Durchschnittsquoten) ist auf Basis der vorliegenden Zahlen nicht darzustellen.

In gut jedem dritten Fall ergab eine erste Gefährdungseinschätzung keine Hinweise auf einen Kindeswohlgefährdung und somit keinen weiteren Handlungsbedarf im Sinne des § 8a SGB VIII. Dies bedeutet jedoch im Umkehrschluss, dass durchschnittlich in 70 Prozent aller Meldungen eine Kindeswohlgefährdung vorlag bzw. nicht zweifeldfrei ausgeschlossen werden konnte und damit ein unmittelbarer Handlungsbedarf für die Allgemeinen Sozialen Dienste der Brandenburger Jugendämter gemäß §§ 8a bzw. 36 SGB VIII bestand.