- Ausgabe 1/2, 2007
Gebe kleinen Kindern ein Nest, großen gib Flügel!
Zur Vorbereitung auf diese Fachtagung habe ich einige Menschen befragt, was für sie „erwachsen sein“ bedeutet und woran man merken könne, dass jemand erwachsen sei. Zu den befragten Menschen zählten jene, die unmittelbar mit der Jugendhilfe verbunden sind und welche, die mit der Jugendhilfe als Institution nichts gemein haben. Ich befragte jüngere und ältere Menschen.
Es überraschte mich wenig, so vielseitige Merkmale geschildert zu bekommen.
Aussagen wie:
- man wird nie erwachsen
- wenn man mit Geld umgehen kann
- wenn man Wert auf Sauberkeit und Ordnung hält
- wenn man pünktlich ist
- wenn man kein Kind mehr ist
- wenn man eine eigene Familie gegründet hat
- wenn man eine eigene Wohnung hat usw.
machten die Runde. Manche der Älteren überlegten lange und antworteten mit vergleichenden Argumenten zwischen der eigenen, längst vergangenen Jugend und der heutigen. Charakterisierungen wie Verantwortung, Alltagsorganisation, Selbstbestimmung, Wissen, Ziele, Zukunft, emotionale und wirtschaftliche Unabhängigkeit, Arbeit und Beruf hörte ich eher selten. Dabei sind dass häufig Stichworte im Rahmen des Betreuten Jugendwohnens, in dem fast immer junge Menschen leben, die als Kinder schon recht „erwachsen“ sein mussten.
Die Einrichtung, über die ich berichte, ist Teil des Kinderhausverbundes der Jugendhilfe Nordwestbrandenburg e.V. und liegt in der Kleinstadt Perleberg, links umgeben von Einfamilienhäusern, rechts von Plattenbauten.
In unsere WG werden junge Menschen im Alter von 15 bis 18 Jahren aufgenommen. Wir verfügen über 7 Plätze einschließlich der Möglichkeit für Mutter / Kind Belegungen. Die Fortführung der Hilfeleistung nach Paragraph 41 SGB VIII (junge Volljährige) bildet auch bei uns eher die Ausnahme. Diese wurde bisher nur einmal gewährt, nachdem der zuständige gerichtlich bestellte Betreuer mit Unterstützung eines psychologischen Gutachters gegen die Ablehnung geklagt hatte.
Um dem pädagogischen Anspruch an die zunehmende Reife sowie Verselbstständigung der Heranwachsenden in unserer Einrichtung Rechnung zu tragen, wurde vor geraumer Zeit die Nachtbereitschaft zunächst auf ein Minimum reduziert. Allerdings: „Ist der Ruf erst ruiniert, dann lebt es sich ganz ungeniert!“ Drogen, Alkohol und Gewalt bei den Jugendlichen traten häufiger in Erscheinung, demzufolge viele Beschwerden aus der Nachbarschaft eintrafen und das Jugendamt im Anschluss keine Belegung mehr realisierte. Erneut die Frage: Wie viel Betreuung brauchen unsere Jugendlichen, was will das Jugendamt?
Mit den im Frühjahr 2006 vollzogenen konzeptionellen und personellen Veränderungen wurden mehr Betreuungsstunden sowie der regelmäßige Nachtdienst eingerichtet. Eine Verwandlung zog die nächste nach sich. Unsere WG wurde zusehends schöner, fröhlicher, leiser. Die Macht des positiven Denkens kehrte ein, das Pädagogentrio stimmte haargenau und die Mehrzeit an Betreuungsstunden konnte intensiv und individuell pädagogisch sowie methodisch genutzt werden. Die Jugendlichen brachten sich ein, hielten sich an Regeln und Störungen von außen blieben fern. Es gab „Momente für Beziehung, Kontrolle und Konsequenzen.“ Jugendliche kamen und gingen.
Und dann war da noch Benni…
… unser „Sorgenkind“. Der wurde 18! Zu seiner Geschichte: Benni kommt mit 10 Jahren in eine Kinderheimeinrichtung. Die Eltern hatten sich getrennt, die Mutter wird mit dem Jungen nicht mehr fertig, mit dem Stiefvater gibt’s Probleme. Benni bleibt auffällig, wird kriminell, wechselnde Einrichtungen folgen. Mit 15 wird er inhaftiert. Er ist ein Gruppentäter; Diebstahl, räuberische Erpressung, Gewalt, Körperverletzung, Drogen…
Mit 17 wird er aus der Haft entlassen, kommt zu uns ins „Betreute Jugendwohnen“
Er hat noch 2 Jahre Bewährung. In der WG lernt er Jugendliche kennen mit denen er „Gemeinsame Sache“ macht. Drogen sind im Umlauf, Gegenstände fehlen, es laufen Anzeigen. Nach schweren Vorkommnissen sowie Ausbildungsabbrüchen ziehen die anderen Jungen aus. Benni darf unter Vorbehalt bleiben, er muss seine Zustimmung für eine Drogentherapie geben – die Mutter nimmt ihn nicht zurück.
Sein Alltag sieht so aus: Er liegt bis mittags im Bett, beschallt bei weit geöffnetem Fenster das Wohnviertel mit seiner Musik, auch mit rechtem Inhalt, zerschlägt in Wut Möbel, trinkt heimlich, verpasst Termine und verliebt sich in eine WG – Mitbewohnerin.
Das Mädchen hat einen guten Einfluss auf ihn, er will Hilfe „Nur nicht zurück in den Knast“ und wir haben dank der Strukturveränderungen sowie der geringen Auslastung viel Zeit für Benni – von nun an wird er ununterbrochen trainiert.
Er bekommt Arbeitsaufgaben in Haus und Hof, – die hält er nicht lange durch, ist unzuverlässig, verschwindet: Wir bleiben dran, stehen neben ihm, erklären, trösten, erzählen, fragen nach, holen ihn aus Situationen raus, bitten ihn um Hilfe, loben, verwöhnen, nehmen in den Arm. Jeder noch so kleine positive Ansatz wird betont.
Benni ist ein Junge zum lieb haben! 100 % Beziehungsarbeit.
Benni verändert sich: Die Musik wird leiser und sie ist nicht mehr rechts, er nimmt keine Drogen mehr, wird zuverlässiger. Statt in Wut zu trinken oder zu randalieren, fährt er Rad, legt sich auf die Wiese, kommt ruhig wieder. Er trifft sich nicht mehr mit den alten Kumpels, lässt sich schützen, hält sich an Regeln.
Nach 9 Monaten Betreutes Wohnen bekommt Benni endlich die Chance einer Betätigung im „Überbetriebliche Ausbildungszentrum ÜAZ“ und besucht die Schule im Berufsbildungszentrum. Die Mutter unterstützt ihren Sohn bei einem Antrag auf Hilfe für junge Volljährige. Dann verstirbt sein leiblicher Vater. Benni beginnt, die Fördermaßnahme zu bummeln, ist unkonzentriert. Eine Aussprache im ÜAZ folgt, anschließend im Jugendamt. Benni wird aus allen Verpflichtungen entlassen, die Hilfe für junge Volljährige wird abgelehnt – er ist 18! Glück im Unglück, die geplante Drogentherapie beginnt. Vom Jugendamt sowie von der Agentur für Arbeit wird signalisiert, ihm eine erneute Chance zu ermöglichen, wenn er die Therapie über 6 Wochen durchhält. Benni hält durch. Obwohl der Drogentest negativ ausfällt, will er etwas für sich tun, fürs Selbstwertgefühl, für Trauerbewältigung, für die neue Chance.
In erzieherischen Hilfen erwachsen zu werden, bedeutet u. a. der Jugendhilfe zu entwachsen und dieses mit der Zielstellung: Die bestmögliche Förderung des jungen Menschen mit dem Erreichen eines individuell günstigen Abschlusses für eine berufliche Perspektive.
Wie sehen die Zukunftsaussichten unserer zu Betreuenden aus?
Mit welchen Jugendlichen gibt so etwas wie messbare Erfolge in der Zeit des betreuten Wohnens und nach der Ablösung aus den erzieherischen Hilfen?
Ich studierte unsere Dokumentationen der vergangenen 5 Jahre, die Recherchen führten zu folgendem Ergebnis: Mit Jugendlichen, die seit Jahren in unseren stationären Einrichtungen betreut werden, mitunter schon als Kinder kamen, gibt es wenig Schwierigkeiten in Bezug auf Kommunikation, Sozialkompetenz und Einhaltung von Regeln. Schulbummelei, Delinquenz, Alkohol und Drogen oder Ausbildungsabbrüche sind kein vordergründiges Thema. Die Heranwachsenden haben gelernt, dass auf Fehlverhalten Konsequenzen folgen.
Die größten Probleme und Abbrüche entstehen häufiger mit jenen, die auf das Hilfeersuchen von Sorgeberechtigten als ältere Jugendliche zu uns kommen. Die Zeit um Beziehungen zu gestalten, sich mit unserer Einrichtung als „Zuhause“ zu identifizieren, Lebensbereiche zu erkunden und WG – Freiheit mit ihren Grenzen zu akzeptieren, ist oftmals zu kurz. Sie kommen nicht mehr an. Wenn Jugendliche viel Zeit für den Übergang in die Erwachsenenwelt benötigen und kurz vor Vollendung ihres 18. Geburtstages gerade begonnen haben, Verantwortung für die täglichen Verpflichtungen zu übernehmen, wie z. B. das selbstständige morgendliche Aufstehen oder der Umgang mit ihrem Geld und dann aus der Hilfeform in die eigene Wohnung entlassen werden, reicht selbst die Zeit der Nachbetreuung nicht aus, um das erwünschte Verhalten zu stabilisieren. Ansatzweise erzielte Erfolge kippen.
Eine weitere Tragik liegt vielleicht darin, dass die Hilfe unverzüglich beendet wird, sobald der Bildungsgang (Schule, Ausbildung, Berufsvorbereitung) abgebrochen ist und eine Rückführung in das Elternhaus umgesetzt werden muss. Die Wenigsten ziehen tatsächlich zu den Eltern.
Ca. 35 % der von uns betreuten Jugendlichen schließen im ersten Anlauf erfolgreich eine Lehre ab. Bezeichnend ist, dass mehr Mädchen bzw. junge Frauen den Übergang in die völlige Selbstständigkeit, einschließlich Ausbildung und Ausübung eines Berufes, erzielten.
Wir nehmen zur Kenntnis, dass bei etwa zwei Drittel der jungen Menschen, die unsere WG verliessen und den Absprung nicht problemlos gestalten konnten, fast alle Mädchen innerhalb kurzer Zeit schwanger wurden. Die jungen Männer fanden oft in ihre alten Cliquen zurück und ziehen um die Häuser…
Und wenn sie alle Flügel haben, so brauchen sie doch ein Nest!