Prof. Dr. H. Kupffer: Professionelle Haltungen und ihre Veränderungen

Die Diskussion über Hilfen zur Erziehung und Professionalisierung ist hochaktuell. Allerdings treten dabei beträchtliche Schwierigkeiten auf, weil wir vielfach nicht genau wissen, worüber wir eigentlich reden wollen. Denn wir gehen meist entweder von Voraussetzungen aus, die gar nicht bestehen, oder wir entfernen uns gerade in unserem Bemühen um Professionalität  von der pädagogischen Wirklichkeit. Dies zeige ich an drei Beispielfeldern:

  1. Wovon geht die Diskussion um Professionalisierung aus? 
  2. Was heißt Professionalisierung auf dem Erziehungsfeld? 
  3. Wie wird öffentlich von Professionalisierung geredet? 

1. Wovon geht die Diskussion um Professionalisierung aus?

Eine alte Weisheit lautet: Demokratie beruht auf dem, worüber nicht mehr abgestimmt werden kann. Man setzt also einen Grundkonsens der Bürger voraus, die alle im Prinzip Demokratie wünschen und daran nicht rütteln. Sie wollen in einer Gesellschaft leben, die eine freie Meinungsbildung vorsieht und Diktatur ablehnt.

Auch auf dem weiten Feld der Erziehung ist das so ähnlich. Erziehung, unter der sich alle Beteiligten etwas Konkretes vorstellen können, ist nur möglich, wenn ein solcher Grundkonsens besteht. Dies heißt: dass man sich im großen und ganzen darüber einig ist, was als gut und schlecht zu gelten hat; dass fundamentale Überzeugungen wie Freiheit, Menschenwürde, Achtung der Person im Zentrum stehen; dass keine Ideologie, in welcher Richtung auch immer, den Menschen vereinnahmen darf; dass Erwachsene und Kinder wenigstens generell darin übereinstimmen, wie man zusammen leben und miteinander gewaltlos umgehen will.

Wo ein solcher Grundkonsens nicht oder nicht mehr besteht, zerfällt die Gesellschaft in viele Individuen, die nur ihr eigenes Interesse verfolgen. Es gibt dann für die Erziehung nichts Verbindliches, worauf man jederzeit zurückgreifen kann. Alle pädagogischen Ratschläge, die von Experten gegeben und in der Öffentlichkeit verhandelt werden, sind dann gleichermaßen unwirksam, weil jeder Beteiligte unter Erziehung etwas anderes versteht.

In einer solchen Lage befinden wir uns heute. Wir müssen uns auf junge Menschen einstellen, die unter ganz verschiedenen und zum Teil völlig unübersichtlichen Verhältnissen leben, jeweils eigene Wertvorstellungen haben und aus weit auseinander liegenden Gesellschaften stammen. Damit sind nicht nur ausländische Populationen, sondern ebenso einheimische gemeint.

Weil wir aber im Stillen noch immer von einem solchen Grundkonsens ausgehen, beziehen sich pädagogische Konzepte, die heute reichlich angeboten werden, auf feste Größen. Man sagt dann etwa: Wir müssen bei den Eltern, im Kindergarten, in der Schule ansetzen: so als seien Familien und pädagogische Einrichtungen klare Faktoren, mit denen wir immer rechnen können.

Die gesamte Problematik drückt sich in der immer wieder gestellten Frage aus: Was sollen wir tun? Diese Frage ist begreiflich, aber falsch gestellt, weil sie nach etwas Ausschau hält, was Halt bieten und eine Antwort geben müsste. Aber wer nur fragt, was er tun soll, befindet sich in seinem Bewusstsein noch in derjenigen Welt, deren Verschwinden seine Frage erst hervorgebracht hat. Er ruft nach einer Autorität, die ihm sagt, wo es lang geht.

In dieser schwierigen Situation blühen die professionellen Ratgeber, die so tun, als gingen sie von der „richtigen“ Erziehung aus und könnten anderen einen klaren Weg zeigen. Aber solche Weisungen der Experten sind Waren auf dem pädagogischen Markt, deren Anbieter sich die allgemeine Unsicherheit zunutze machen. Sie werden in der Regel von Menschen erteilt, die es auch nicht besser wissen. Dies führt uns auf die nächste Frage.

 

2. Was heißt Professionalisierung auf dem Erziehungsfeld?

Ich war vor einiger Zeit  auf einer Tagung, wo einer der Referenten betonte: wir müssen die Fachlichkeit pflegen. Das klingt gut und scheint den Profi auszuweisen, ist aber etwa so sinnvoll wie die allenthalben erhobenen Forderungen: wir müssen die Schulen verbessern, die Geldmittel sinnvoller einsetzen, intelligenter sparen, die Integration bildungsferner Schichten vorantreiben, die Kinder nachhaltiger fördern usw.

Das ist zwar alles an sich wünschenswert, bleibt aber Sprechblase, weil niemand weiß, wie man das machen soll. Man verfährt so, als sei der Pädagoge ein Facharbeiter in einer Fabrik, deren Ziel natürlich in der Erhöhung der Produktion und des Absatzes besteht. Was aber faktisch in pädagogischen Institutionen geschieht, ist der Öffentlichkeit weithin unbekannt. Daher sollten wir den strapazierten Begriff „Professionalisierung“ näher betrachten.

Und da sehen wir: Professionalisierung wird meist nach dem Modell großer Betriebe verstanden – als Differenzierung, Registrierung, Beherrschung von Abläufen, wobei es auf Berechenbarkeit, Vergleichbarkeit und Qualitätskontrolle ankommt. Der Begriff „Professionalisierung“ ist von den Erfordernissen der technischen Leistung, der Erforschung eines Spezialgebietes oder auch der Organisation großer Betriebe bestimmt. Man geht von einem Fachgebiet aus, das in Umrissen bekannt ist und nunmehr durch systematische Bemühung immer besser erfasst werden kann.

Im Bereich der Erziehung kann der Begriff „Professionalisierung“ so nicht angewendet werden. Denn er ist in dieser Form nur dort sinnvoll, wo sich eine Person mit einer Sache beschäftigt. Im Umgang mit Menschen ist dieses Grundmuster aber nicht gegeben, denn der andere ist kein Gegenstand meiner pädagogischen Bearbeitung, sondern eine eigene Person, die sich ebenso bewegt wie ich selbst.

Da Erziehung Umgang mit Menschen und nicht mit sachlichen Prozessen ist, gibt es vielfältige Formen der Beziehung zwischen den beteiligten Partnern. Dabei können Pädagogen unterschiedliche Qualitäten entwickeln, die alle sinnvoll einsetzbar sind und nicht nach einem einheitlichen Maßstab verglichen werden können.

Der eine oder die andere gibt Kindern viel Zuwendung, hat aber vielleicht weniger Durchblick.

Der oder die andere vermittelt Orientierung und Ordnung, ist aber vielleicht weniger einfühlsam.

Der oder die dritte fördert und ermuntert zur Leistung, ist aber vielleicht nicht so kontaktfähig.

Der oder die vierte interessiert sich intensiv für Kinder, gewinnt aber keine Distanz und tritt ihnen nicht gegenüber.

Hinzu kommt: ein Pädagoge ist niemals für sich selbst, als Einzelperson professionell wie ein Ingenieur oder Forscher im Labor. Er arbeitet immer mit anderen zusammen, muss sich auf verschiedene Menschen und Verhältnisse einstellen, findet immer neue Anforderungen und Konstellationen vor. Seine Professionalität besteht nicht so sehr darin, alles richtig zu machen, sondern zu erkennen, was in der jeweiligen Institution als richtig gilt und wie er sich selbst darauf einstellt. Die Angebote der Experten, mit denen er eingedeckt wird, klingen jedoch ganz anders, dazu unsere letzte Frage.

 

3. Wie wird öffentlich von Professionalisierung geredet?

Dazu zitiere ich als Beispiel einige Sätze aus einem von Profis verfassten ministeriellen Arbeitspapier, das mir vorliegt. Thema ist das soziale Frühwarnsystem zum Schutze von Kleinkindern und zur rechtzeitigen Erkennung von Risiken und Gefährdungen. Und das klingt so:

Ein „Multiprofessioneller Expertenpool“ sorgt für „Informationsbasis und Erfahrungstransfer“. Es gilt, die „Modellkompetenz im Regelsystem zu implementieren“. Die „Ansatzpunkte liegen im Kontext der Geburt und im Zeitfenster um die Geburt herum… eine Fokussierung auf belastete Zielgruppen setzt eine Selektion durch systematisches Erkennen relevanter Risikofaktoren auf der Grundlage eines umfassenden Zugangs voraus… ein institutionelles Risikomonitoring setzt dabei auf die zentrierte Begleitung der Familien“…wobei „proximale oder distale Risiken“ zu berücksichtigen sind. Das soziale Frühwarnsystem muss umfassende Anforderungen erfüllen… die Erfahrungen des Kompetenzzentrums/Servicebüros aus hotline, task force und Beratung werden systematisch ausgewertet…“ das Aufgabengebiet des Kompetenzzentrums/Servicebüros soll in enger Abstimmung mit den kommunalen Spitzenverbänden ausgestaltet werden… das Aktionsprogramm zielt durch primäre Prävention darauf, Gefährdungssituationen gar nicht erst entstehen zu lassen und ggf. eine Änderung der rechtlichen Vorgaben zu entwickeln… eine Evaluationsstudie soll die zur Risikoerkennung und –bewertung eingesetzten Screeningverfahren prüfen…“

In diesem Stil geht es noch seitenlang weiter, aber das will ich Ihnen hier ersparen. Das gesamte Papier wimmelt von nichtssagenden Worthülsen, wie sie leider heute in vielen Verlautbarungen üblich sind. Zugleich wird durch scheinbar professionelle Differenzierung des gesamten Vorhabens vertuscht, dass es sich im Grunde um ein rigides, totalitäres Kontrollsystem handelt.

Entworfen wird ein gigantisches Netzwerk der sozialen Rasterfahndung, wobei allerdings völlig unklar bleibt, wer eigentlich diese Eingriffe verantwortet und die Initiative für Gesetzesänderungen ergreifen soll. Der gesellschaftliche Hintergrund der Familien wird ausgeblendet, so vor allem die unterschiedlichen Erziehungsvorstellungen und Beziehungsmodelle. Und wer die für das ganze Projekt nötigen zusätzlichen Arbeitskräfte bezahlen soll, bleibt offen.

Diese Beobachtungen führen uns auf die Frage, für wen und in welcher Absicht solche Expertisen erstellt werden. Und da können wir mindestens zwei Ebenen unterscheiden. Auf der oberen Ebene der politischen Öffentlichkeit weisen die Ministerien aus, dass sie die Nöte unserer Gesellschaft und die unseren Kindern drohenden Gefahren begriffen haben und willens sind, wirksame Abhilfe zu schaffen.

Auf der unteren Ebene der pädagogischen Einrichtungen selbst, die sich vielleicht an ähnlich klingende Programme heranwagen, dienen solche Auskünfte dem Renommee der jeweiligen Institution. In der Rezession entbrennt natürlich der Kampf um die Geldquellen. Das bringt ein ganz anderes Berufsverständnis hervor als in Epochen  der Konjunktur. Jede Institution will und muss ihre Interessen durchsetzen und benutzt das eigentliche Ziel der Bildung und Erziehung nur als Argumentationshilfe. So werden Sozialhelfer, Berater und sonstige Experten neue Aktionsfelder aufspüren, einen Teil ihrer Arbeitskraft den „public relations“ widmen und ihre Absichten so fokussieren, dass sie als für das Gemeinwohl unabdingbar erscheinen.

Ich komme zum Schluss und frage: Was bedeutet das alles für uns heute? Pädagogische  Begriffe, Erziehungsziele, Projektbeschreibungen werden so präsentiert, als ob sie einen objektiven Sinn hätten und aus sich selbst heraus schon aussagekräftig wären. Aber unsere Gesellschaft ist nicht so, denn vieles bleibt unklar, was früher entweder klar war oder wenigstens so behandelt werden konnte. Wir sind heute genötigt, pädagogische Begriffe jeweils so anzuwenden, dass sie gerade in einen gegebenen Kontext passen. Sie haben keine eindeutige und objektiv bestimmbare Bedeutung mehr.

Da die „Professionalisierung“ auf dem Erziehungsfeld selbst meist nicht untersucht wird, bildet sich eine selbstgenügsame Veranstaltung mit wohlklingenden Formeln aller Art. Die Professionalität besteht dann vor allem darin, in veröffentlichten Texten die gängigen Reizworte und gerade aktuellen Begriffe unterzubringen.

Das führt zu einem Verlust an pädagogischer Realität. Wer in der Praxis arbeitet, sollte das bedenken. Es kann ihn oder sie vielleicht bedrücken, aber auch befreien. Denn es ist immer gut zu erkennen, in welchem Umfeld, unter welchen Bedingungen und mit welchem, Anspruch man arbeitet, und worin die eigene Kompetenz wirklich besteht.