Prof.Dr. H. Kupffer: Wer ist heute erwachsen?

  • Ausgabe 1/2, 2007

Das Thema dieser Tagung, wie in der Einladung beschrieben, weist darauf hin, dass heute offenbar ganz verschiedene Vorstellungen und Begriffe vom Erwachsenwerden im Umlauf sind. Sie richten sich nach den Verhältnissen, in denen junge Menschen aufwachsen. Und weil es dafür viele Möglichkeiten gibt, sind Fragen aufgetaucht, die man früher nicht stellte.

Wenn ich mich – zum Beispiel – an meine Jugend erinnere, so war Erwachsenwerden eigentlich kein Problem. Ich kam mit 17 Jahren nach Beendigung der Schulzeit in meinem Internat als Praktikant in ein großes Büro hier in Berlin. Dort trug ich Anzug mit Krawatte, wurde selbstverständlich mit Sie und Herr angeredet und wohnte allein in einem möblierten Zimmer. Weder ich selbst noch andere kamen auf den Gedanken, mich als minderjährig einzustufen und etwaiges Fehlverhalten mit meiner Jugendlichkeit zu entschuldigen.

Weil das heute völlig anders zugeht, will ich der Frage nachgehen, wie sich der Status des Erwachsenen in jüngster Zeit verändert hat, und was das für die Erziehung, besonders für die Erziehung im Heim bedeutet. Dies tue ich in drei Schritten:

  1. Was heißt heute Erwachsensein?
  2. Wodurch unterscheiden sich verschiedene Altersgruppen?
  3. Kann man schneller oder langsamer erziehen?

 

1. Was heißt heute Erwachsensein?

Das Beispiel im Einladungsschreiben ist gut „Dabei wird nicht selten Verselbständigung mit der Fähigkeit gleichgesetzt, eine Waschmaschine richtig zu bedienen oder das Formular für Hartz IV ausfüllen zu können.“ Darin habe ich mich wieder erkannt, denn ich bin jetzt seit etwa 60 Jahren erwachsen und kann weder das eine noch das andere.

Dann habe ich in einem Handbuch der Pädagogik geblättert, das vor etwa 30 Jahren erschienen ist, und Definitionen von Jugend und Erwachsensein gefunden. „Jugend“ wird dort definiert unter verschiedenen Aspekten: psychologisch, soziologisch, pädagogisch, biologisch, anthropologisch, also als Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen. Hinzu treten auch gesellschaftliche Faktoren, soziokulturelle Einflüsse, die Abhängigkeit von sozialen Schichten. Aber die Jugend wird im Ganzen noch als zusammengehörige, homogene Gruppe gesehen.

Man stellt dort Merkmale zusammen, die für die Jugend insgesamt gelten: sie sei ein Durchgangsstatus mit hohem Erwartungsdruck, wo Leistungsforderungen und organisierte Lernprozesse herrschen. So hatte man damals die Jugend noch immer als Großgruppe vor Augen, mit bestimmten Merkmalen, die sie vom Erwachsenen unterscheiden. Man glaubte, diese Vorgänge und vor allem die Unterschiede zwischen Jugendlichen und Erwachsenen begrifflich fassen zu können. Denn man setzte eine übersichtliche Gesellschaft voraus, die von Migrantenproblemen, von den riesigen Differenzen zwischen arm und reich, von Arbeitslosigkeit, Jugendgewalt und Globalisierung noch nichts wusste.

Aber auch heute noch hält man vielfach an den überkommenen Bildern vom Jugend- und Erwachsenenstatus fest. Ich nenne als Beispiel den Jugendschutz, vor allem bezogen auf den Konsum der Medien. Ein uns im Deutschen Kinderschutzbund bekannter Mitarbeiter der freiwilligen Selbstkontrolle hat auf unsere Fragen Auskunft gegeben. Er erklärt, es gehe darum, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nicht zu beeinträchtigen. oder zu gefährden. Etwa bei Sex- und Gewaltdarstellungen sei zu untersuchen, wie das dargeboten wird, ob Gewalt verherrlicht wird oder Angst erzeugt.

Zwar sei es natürlich so, dass Jugendliche fast jeder Altersstufe heute mühelos an Videos usw. die von der freiwilligen Selbstkontrolle als jugendgefährdend bezeichnet werden, herankommen. Aber der Medienschutz richte sich auch vorwiegend an Erwachsene, vor allem an die Eltern, die dadurch Medienkompetenz erwerben und diese dann an ihre Kinder weiterreichen sollen.

Die Jugendlichen hätten zwar vielfach eine höhere technische Kompetenz als die Erwachsenen, aber nicht in der Bewertung der Inhalte. Mit einem Wort: Auch die freiwillige Selbstkontrolle hält am prinzipiellen Unterschied zwischen Jugendlichen und Erwachsenen fest. Sie weist diesen, nur weil sie älter sind, nach herkömmlichem Muster eine höhere soziale Kompetenz, eine natürliche Überlegenheit und einen eindeutigen Reifevorsprung zu. Dies führt auf meine zweite Frage.

 

2. Wodurch unterscheiden sich verschiedene Altersgruppen?

Heute haben wir eine Situation, die sich mit den herkömmlichen Kategorien nicht erfassen lässt. Es gibt natürlich nach wie vor Jugendforschung und Jugendstudien, aber die Begriffe stehen nicht mehr fest. Erwachsenwerden hängt von vielen Faktoren ab. Es wird auch von mehreren Standpunkten aus unterschiedlich definiert, je nach den materiellen Ressourcen, nach gängigen Trends im öffentlichen Leben, weniger von der persönlichen Reife aus.

Diese Trends sind wirksam und verändern sich schnell. Einerseits herrschte in jüngster Zeit das Bestreben, das jugendgemäße Gebaren bis in die Mitte oder gar zweite Hälfte des Lebens zu verlängern, so dass Lebensalter und Formen des Auftretens auseinanderklafften. Gerade viele jüngere Pädagogen hatten panische Angst, für erwachsen gehalten zu werden, weil sie glaubten, dann den Kontakt zu ihrer Klientel zu verlieren. Denken wir auch an das Jugendstrafrecht mit seinem Bestreben, einem Delinquenten möglichst lange noch den Jugendstatus zuzuerkennen.

Andererseits werden Kinder und Jugendliche teils de facto als Erwachsene behandelt, so etwa auf dem Jugendmarkt im Hinblick auf ihre Kaufkraft. So werden sie von Erwachsenen für ihre Zwecke eingespannt und sozusagen als Partner eingestuft, mit denen man auf Augenhöhe kommuniziert. Kurz: Erwachsenwerden geschieht nicht mehr als Gesamtentwicklung, sondern partiell, auf verschiedenen Lebensgebieten ganz unterschiedlich.

Damit geraten die Merkmale der Generationen völlig durcheinander. Nach traditioneller Auffassung gehört z.B. zum Erwachsensein das Übernehmen von Verantwortung, das Einstehen auch für eigene Verfehlungen. Heute beobachten wir auf vielen Lebensgebieten und Sparten des Berufslebens, dass Verantwortung nicht übernommen und Schuld hin und her geschoben wird.

Seit den Kriegsverbrechertribunalen nach dem Zweiten Weltkrieg gab es noch viele andere Prozesse, in denen keiner der Angeklagten sich schuldig bekannte. In kleinem Maßstab gilt das auch für die alltägliche politische Bühne. Wenn es ein Problem oder einen Skandal gibt, redet man als erstes nicht von der möglichen Lösung, sondern davon, welche Partei das verschuldet hat. Und wenn tatsächlich der eine oder andere angeklagt wird, erklären alle unisono, sie seien sich keiner Schuld bewusst.

Wenn also Verantwortung ein Merkmal des Erwachsenen sein soll, dann kommt es nur selten vor, dass sich Kinder und Jugendliche danach richten können. Ähnlich steht es mit anderen Tugenden, von denen man bisher annahm, dass sie den Erwachsenen ausmachen: Verlässlichkeit, Beständigkeit, Zurückhaltung etwa beim Konsum von Genussmitteln. Vor allem in der Erziehung beschwört man die Fähigkeit der Erwachsenen, den Kindern und Jugendlichen Grenzen zu setzen. Alle diese Merkmale gehen von der Voraussetzung aus, dass Erwachsene mehr können und reifer sind als Jugendliche, so dass hier ein Gefälle aufrechterhalten bleibt.

Das alles ist in Wirklichkeit heute vorbei. Erwachsene halten selbst keine Grenzen ein und gebärden sich vielfach weder reifer und umsichtiger noch irgendwie moralisch geläuterter als Jugendliche. Das heißt: Es gibt keinen naturhaften Status des Erwachsenen, in dem ihm diese oder jene Merkmale zukommen, und durch die er dem Jugendlichen von Hause aus überlegen ist. Die angeblich vorhandene größere Kompetenz in der Bewältigung des Lebens platzt wie eine Seifenblase. Was das für die Erziehung  bedeutet, ist Gegenstand der dritten Frage.

 

3. Kann man schneller oder langsamer erziehen?

„Je schneller, desto besser“. Diese ironische Formulierung in der Einladung zu dieser Tagung erinnert an den satirischen Appell aus alten sozialistischen Zeiten: Schlaf schneller, Genosse, Dein Kopfkissen wird gebraucht! So könnte es dann heute heißen: Lass Dich schneller erziehen, Dein Platz ist zu teuer. Dass Tempo ein Kriterium für erzieherische Qualität sein könnte, ist schon erstaunlich. Denn wir können zwar einen Holzblock schneller oder langsamer kleinhacken, aber wir können nicht schneller oder langsamer erziehen.

Nähme man dergleichen Zumutungen überhaupt ernst, so hieße das, dass Erziehung ein feststehender gleichförmiger Vorgang ist wie etwa die Bearbeitung von Akten, der sich nur nach der Geschwindigkeit von Fall zu Fall unterscheidet. Das beste Heim wäre dann ein solches, aus dem Kinder mit spätestens 14 als ausgereifte, fertige Erwachsene hervorgehen, die fortan dem Staat nicht mehr zur Last fallen. Sicherlich kann die Atmosphäre in einem guten Heim so beschaffen sein, dass Jugendliche ernst genommen, zur Rechenschaft gezogen und nicht verhätschelt werden wie in vielen Familien. Aber das betrifft die gesamte Qualität der Erziehung, nicht deren Tempo.

Ähnlich wäre es in der Familie. Wollte man da wirklich Kinder schneller erwachsen machen, dann müsste man sie in eine ganz andere Gesellschaft versetzen; so wie früher, als schon Halbwüchsige zum Unterhalt der Familie beitragen mussten und es eine eigentliche Jugendzeit gar nicht gab.

Doch selbst wenn man einsieht, dass man nicht schneller oder langsamer erziehen kann, liegt der Wunsch nahe, die pädagogischen Prozesse besser in den Griff zu bekommen. Wie bei der Evaluierung beim Ranking in Schulen und Hochschulen, so wird man zweifellos versuchen, auch Erziehungsvorhänge zu objektivieren, die Entwicklungsstufen der Kinder und Jugendlichen zu messen und erreichte Erfolge zu markieren. Aber das wird kaum funktionieren. Schon in der Schule, wo es ja immerhin definierte Lernziele und die Möglichkeit zentraler Prüfungen gibt, tut man sich bekanntlich damit schwer.

Erziehungserfolge lassen sich mit solchen Instrumenten nicht erfassen. Selbst die Super-Nanny, die seit etwa zwei Jahren über die Bildschirme geistert, muss bei ihren Kontrollgängen feststellen, dass ihr Zugriff in etlichen Fällen nicht nachhaltig gefruchtet hat. In einer Programmzeitschrift lesen wir dazu: „Erfolgskontrolle! Die Super-Nanny kehrt an ihre Umerziehungsschauplätze zurück. Was ist aus ihren Problemkindern geworden? Dominik, erst 16 und schon mit einem Bein im Gefängnis, tat sich durch Diebstahl, Körperverletzung und räuberische Erpressung hervor. Die Clique, Alkohol, Drogen und Randale bestimmten sein Leben. Mutter Konny (38) war völlig abgemeldet.“

Welche Konsequenzen lassen sich daraus ziehen? War die Methode falsch, könnte man also mit anderen Methoden bessere Ergebnisse erzielen? Oder ist das gewohnte Erfolgsschema auf die Erziehung schwieriger Kinder und Jugendlicher gar nicht anwendbar? Damit nähern wir uns schon dem Schluss und ziehen ein

 

Fazit

 

Die Bestimmung dessen, was Erwachsensein heißt, kann sich nicht auf berechenbare naturhafte Prozesse stützen. Das hängt vielmehr von den unterschiedlichen Interessen der beteiligten Instanzen ab. Zu welchen Widersprüchen es dabei kommt, zeige ich abschließend an drei Beispielen.

  1. Vor 10 bis 15 Jahren, als die Jugendämter noch mehr Geld hatten, geschah es nicht selten, dass 15-jährige von zuhause wegliefen, weil sie das weitere Zusammenleben mit ihren stockreaktionären Eltern als seelische Grausamkeit empfanden und nach eigenem Bekunden nicht mehr ertragen konnten. Die Jugendämter nahmen das für bare Münze und empfingen diese Jugendlichen mit offenen Armen: Kommt her zu uns, die Ihr mühselig und beladen seid, wir wollen Euch unterbringen!
    Das war ein zweischneidiges Verfahren. Denn scheinbar erkannte man diese Jugendlichen als Erwachsene an, die eigene Wünsche äußern und ihr Leben selbständig gestalten wollten, unabhängig von der Gängelung durch die Eltern. Andererseits wurde eben dadurch der Jugendstatus verlängert, weil man nun wieder für sie sorgte, sie in Obhut nahm und ihnen Schwierigkeiten aus dem Weg räumte.
  2. Solche Widersprüche setzen sich fort. Einerseits will man gegen kriminelle Jugendliche härter vorgehen, weil die Sicherheit der Gesellschaft das erfordert. Andererseits ist man geneigt, Straftaten nicht nur von Jugendlichen zu entschuldigen, zu erklären, kleinzureden, Bewährungsstrafen zu verhängen und ihnen bei der Tat die Reife abzusprechen. Dazu passt die hilflose Frage einer Lehrerin an einen Schüler, der den Klassenraum demoliert und sie selbst mit dem Messer bedroht: Warum tust Du das?
  3. Der jüngste Fall ist das Spiel junger deutscher Soldaten in Afghanistan mit Totenköpfen, die sie irgendwo gefunden haben. Dazu gab es extreme Beurteilungen. Die einen sagten: Das sind Angehörige der Bundeswehr, deren Gebaren im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit steht. Sie vertreten unseren Staat und unsere Gesellschaft und müssen sich als in jeder Lage kompetente Erwachsene dieser Position bewusst sein. Die anderen sagten: Das sind junge Burschen, die eben erst unter Mutters Schürze hervorgekrochen sind und sich einen jugendgemäßen Spaß erlaubt haben, der gewiss geschmacklos ist, aber nicht als weltbewegendes Ereignis hochgestemmt werden sollte.

Wer noch als Jugendlicher oder schon als Erwachsener gilt, ist also nach der jeweiligen Konstellation verschieden interpretierbar. Das kann in unserer pluralistischen Gesellschaft wohl auch nicht anders sein. Menschen jeden Alters, nicht nur Jugendliche, stehen stets im Schnittpunkt ganz unterschiedlicher Interessen und Ansprüche von Seiten der Öffentlichkeit. Da gibt es eben keine klar voneinander abgrenzbaren Gruppen wie in den wohlgeordneten und gegliederten Gesellschaften vergangener Zeiten: Daher sind auch Definitionen, die bestimmte Merkmale heranziehen (was kann ein junger Mensch, steht er auf eigenen Füßen, hat er sein Leben schon im Griff) nicht mehr zu verallgemeinern.

Ich schließe mit einem Zitat des jungen Karl Marx (aus den ökonomisch philosophischen Manuskripten 1844): „Ich, wenn ich kein Geld zum Reisen habe, habe kein Bedürfnis, das heißt kein wirkliches und sich verwirklichendes Bedürfnis zum Reisen. Ich, wenn ich Beruf zum Studieren, aber kein Geld dazu habe, habe keinen Beruf zum Studieren, das heißt, keinen wirksamen, keinen wahren Beruf. Dagegen ich, wenn ich wirklich keinen Beruf zum Studieren habe, aber den Willen und das Geld, habe einen wirksamen Beruf dazu. Das Geld als das allgemeine Mittel und Vermögen, die Vorstellung zu Wirklichkeit und die Wirklichkeit zu einer bloßen Vorstellung zu machen, verwandelt die wirklichen menschlichen und natürlichen Wesenskräfte in bloß abstrakte Vorstellungen.“

So ist das bei uns auch. Setzen wir statt „Geld“ allgemein die gesellschaftlichen Möglichkeiten, dann können wir sagen: Wenn ein Interesse besteht, dass ein unreifer junger Mensch erwachsen sein soll, und wenn ihm keine weiteren Mittel zum Heranreifen zur Verfügung stehen, dann ist er erwachsen. Und wenn ein anderer eigentlich schon erwachsen sein müsste, aber bequem im häuslichen Nest hocken bleibt, weil die Mittel der Familie ihm das gestatten, dann ist er nicht erwachsen.