S. Bartels: Pädagogische Haltungen – Welche Haltungen kann man heute von jungen Kollegen erwarten?

Hat man seine Ausbildung zum Erzieher endlich beendet und startet dann lustig, frohen Mutes in das lang ersehnte Berufsleben als Erzieher in einer Einrichtung der Jugendhilfe, kommt man nicht umhin, von seinen erfahrenen Fachkollegen und Vorgesetzten immer wieder Begriffe wie: Familiendiagnose; pädagogischer Ort, Anamnese, Ressourcen– und Sozialraumorientierung, systemischer Ansatz, Krisendiagnose, Zeitstrahl, Genogramm oder HzE & AsD zu hören. Mit allen diesen Dingen hatte man als junger Erzieher in der Regel in der Ausbildung eher wenig bis gar nicht zu tun aber man denkt sich im Stillen, dass „…ich genau so und damit arbeiten möchte!“

Das Problem dabei ist, dass alle diese Begrifflichkeiten zwar zum Berufsalltag eines Erziehers gehören, jedoch zu Beginn der Tätigkeit nur partiell eine Rolle spielen, denn schließlich hat man als junger, unerfahrener aber motivierter Kollege ganz andere Sorgen und Nöte im Dienst, um die man sich zunächst kümmern und mit denen man sich auseinandersetzen muss. Man trifft auf unterschiedliche Personen, mit unterschiedlichen Themen, unterschiedlichen Motiven und unterschiedlichen Ansprüchen. Hinzu kommen die Leitlinien der Einrichtung, in welcher man tätig ist und mit denen man sich vertraut machen muss. Nicht zu vergessen die Normen und Regeln der Kindergruppe, in welcher man tätig ist.

Regelmäßig hatte wahrscheinlich nicht nur ich mit ganz anderen „Katastrophen“ innerhalb des Dienstes zu tun. Nämlich mit Kindern!

Die hatten auch noch ihre ureigenen Probleme, die es zu bearbeiten galt, auch wenn sie mir bisweilen etwas unverständlich vorkamen. Probleme also, die in diesem Moment viel wichtiger waren, als ein zu erstellendes Genogramm. Das ich dann der Mitarbeiterin des AsD geben muss, damit die eine Krisendiagnose ableiten kann, um dann einen Hilfeplan daraus erstellen zu können, um zu sehen, wo der geeignete pädagogische Ort im Sozialraum für das Kind ist. Also irgendwie, das merkte ich als junger, unerfahrener, aufstrebender Pädagoge schnell, ist es alles ganz schön kompliziert und bisweilen unübersichtlich.

Dann doch lieber Auseinandersetzungen mit 3 – 9-jährigen Kindern führen, die einem eigentlich alle leid tun könnten, ob der Tatsache, dass sie schon in so jungen Jahren außerhalb der Familie wohnen müssen. Regel Nummer 1 der Heimerziehung lautet aber, das lernen alle Erzieher zu allererst, dass einem die betreuten Kinder zwar leid tun dürfen, ihnen das aber nicht gesagt werden darf. Denn das hilft ihnen ja auch nicht weiter. Also gab ich mich voll und ganz Konflikten hin, mit so wichtigen Inhalten wie zum Beispiel, wer wen als erstes gehauen hat und das schon wieder der Tobias dem Anton das Auto weggenommen hat. Sophie möchte noch nicht ins Bett, sondern erst zusammen mit ihrer drei Jahre älteren Freundin Marie. Kevin (5 Jahre) beschwert sich lautstark darüber, dass er noch nicht schlafen möchte. Das sind die Themen, die Kinder interessieren und uns jungen unerfahrenen Erziehern damit den letzten Nerv rauben, nicht die Sozialraumorientierung und der pädagogische Ort. Neidvoll blicken wir jungen, unerfahrenen Erzieher dann stets auf unsere erfahrenen Kollegen, bei denen der Dienst scheinbar ohne Komplikationen verläuft. Was sie uns dann wiederum gelegentlich in Teamsitzungen oder Dienstübergaben freudig mitteilen. Kein Wort verlieren sie darüber, dass sie es selbst vermutlich einmal ähnlich schwer hatten, wie wir jungen Menschen. Aber und das ist das Entscheidende, wir unerfahrenen Kollegen erfahren von genau diesen Erziehern Unterstützung, die wir so bitter nötig haben. Wer, wenn nicht diese Kollegen können uns was über Haltungen im pädagogischen Alltag beibringen, auch wenn ich davon ausgehe, dass ein jeder Erzieher diese mitbringen sollte. In Gesprächen mit ihnen lernen wir plötzlich, dass jeder mal genauso angefangen hat, wie wir nun gerade. So langsam wuchs in mir die Erkenntnis, dass ich augenscheinlich doch nicht den Beruf verfehlt habe, von dem ich bisher glaubte, es wäre mein Traumberuf.

Wie sagte eines Tages eine Kollegin zu mir, nachdem ich wieder endlos lange mit ihr über meinen letzten Dienst gesprochen hatte? Ein Dienst, in dem Kevin mal wieder nicht schlafen wollte und alles dafür tat, nicht schlafen zu müssen. Er die anderen Kinder seines Zimmers wach hielt und mir damit den letzten Nerv raubte. Und viel schlimmer, mich an den Rand der pädagogischen Handlungsfähigkeit brachte! Sie sagte, in einer für mich in diesem Moment nicht nachvollziehbaren Ruhe, ich solle doch mal meine Haltung gegenüber dem Kind überdenken und meine Unsicherheit in den Griff bekommen. Sie wäre mir dabei auch behilflich.

Ich verstand nicht so recht. Wie soll ich einem bewegungsfreudigen, permanent vorlauten, über den Maßen kuschelbedürftigen Kind mit ADHS-Diagnose und augenscheinlicher Unerzogenheit anders gegenübertreten, als bisher? Und wieso hatten meine Kollegen diese Probleme nicht, weder mit Kevin, noch mit anderen Kindern? Was machte ich falsch?

In darauf stattfindenden intensiven Gesprächen, sowohl in den Teamsitzungen, als auch in einzelnen, lernte ich eine Menge, unter anderem über das so genannte Technologiedefizit pädagogischen Handelns. Dieses beinhaltet, dass es keine vollständige und erlernbare Technik der Methode gibt, mit der alle Schwierigkeiten, Ambivalenzen, Konflikte und Widersprüche in pädagogischen Situationen methodisch beherrschbar wären (vgl. Luhmann / Schoor 1976, S. 236). Ich als Praktiker muss also mit der Unsicherheit leben, dass es keine sichere Richtlinie pädagogischen Tun´s gibt. Die Bearbeitung der pädagogischen Aufgabe erfordert daher ein hohes Maß an Handlungsautonomie. Genau die hatte ich ja, denn niemals fiel auch nur ein negatives Wort (oder doch hinter meinem Rücken?) von meinen Kollegen darüber, dass die Kinder in meinen Diensten augenscheinlich komplett anderes agierten und reagierten. Stattdessen gab es Zuspruch und Lob für mich, mit welchem ich zunächst gar nichts anfangen konnte. Kurzum, ich durfte mich über mich selbst ärgern und noch mehr über die Kinder. Ich durfte heimlich weinen, ich durfte innerlich vor Wut schäumen, ich durfte sogar darüber reden, ich durfte aus Sicht meiner Kollegen nur eine Sache nicht: Aufgeben! Stattdessen durfte ich mich schlichtweg ausprobieren. Eine Erfahrung, die viel bewirkte. Nach einer gewissen Zeit merkte ich, dass nicht die Kinder sich veränderten, sondern ich mich und vor allem meine Sicht auf die Kinder sich veränderte. Ich merkte, dass es viel besser ist, vermeintlich Negatives auch mal positiv zu sehen. Und auch die Erkenntnis, dass es anderen jungen Kollegen in anderen Gruppen auch nicht anders erging, als mir. Dies führte dazu, dass ich einen Dienst mit entspannteren Kindern erleben durfte, natürlich noch immer mit kleineren und größeren Auseinandersetzungen zwischen den Kindern. Aber mit einer ganz anderen Haltung meinerseits, diesen Konflikten gegenüber. Ich begriff im Verlaufe meiner Tätigkeit, dass Streit unter Kindern zum Alltag gehört. Ich sie auch streiten lassen muss, damit sie sich weiterentwickeln können. Ich lernte darüber hinaus, dass Kevin nur deshalb nicht schlafen wollte, weil ich ihm mit meiner Aufgeregtheit nicht die Sicherheit geben konnte, welche er benötigte, um sanft einschlummern zu können. Ich, und dass hätte ich niemals gedacht, lernte, dass ich meine vorhandene Unsicherheit vor dem Dienst, auf die Kinder übertrug, ohne es zu merken. Ich hatte permanent Sorge vor den nächsten Konflikten der Kinder und davor den Ansprüchen meiner Kollegen nicht gerecht zu werden. Erst mit dieser Erkenntnis gelang es mir langsam immer besser, mich auf die Kinder und ihre Problemlagen im täglichen Leben einzulassen.

Ich möchte kurz die Eingangsfrage beantworten, welche Haltung man denn nun im pädagogischen Berufskontext von Kollegen, die am Beginn ihrer Erziehertätigkeit stehen, erwarten kann.

Um es kurz zu fassen, ich denke, dass man als junger und unerfahrener Kollege neben einer positiven Grundhaltung Kindern und ihren Familien gegenüber vor allem eine grundsätzliche Haltung zum theoretischen und praktischen Wissenserwerb mitbringen sollte und sich nicht davor scheuen sollte, Unterstützung anzunehmen.

 

Stefan Bartels, Sozialpädagogischer Bereich, Kinderhaus Berlin – Mark Brandenburg e. V.