Schwabe, Prof.Dr. M.: Buchbesprechung: „Kinder, die Systeme sprengen“ – Wenn Jugendliche und Erziehungshilfe aneinander scheitern“

von Menno Baumann, Schneider-Verlag, Baltmannsweiler, 2010

Menno Baumann hat eine sehr interessante und gut lesbare Forschungsarbeit zum Thema „Kinder, die Systeme sprengen“ verfasst, der ich trotz einiger, durchaus prinzipieller Einwände viele LeserInnen wünsche. Das Buch gliedert sich im Wesentlichen in fünf Teile:

Im ersten werden quantitative Daten über das „Scheitern“ von Erziehungshilfen in Niedersachsen erhoben (ca. 14 % aller jungen Menschen erwiesen sich nach Datenlage im Jahr 2006 im Zweijahreszeitraum als „nicht haltbar“; S. 26 ff). Der zweite Teil versucht die Diskussionslinien in der aktuellen Forschungslandschaft zum Thema „schwierige Kinder bzw. scheiternde Hilfen“ nachzuzeichnen (Kap. 4, S. 36 ff).

Im dritten Teil werden 9 MitarbeiterInnen dazu befragt, welche Bedingungsgefüge und Dynamiken ihrer Einschätzung nach für das Scheitern von Erziehungshilfen verantwortlich sind (Kap. 4, S. 62 ff).

Der vierte, längste und beste Teil (Kap. 6, S. 85 – 178) besteht in der Analyse von „gescheiterten“ Erziehungshilfe-Fällen unter der Fragestellung „Welche Sinnhaftigkeit liegt den extremen Verhaltensweisen, welche die Kinder und Jugendlichen immer wieder mit dem Erziehungshilfesystem in Konflikt geraten, zu Grunde?“

In einem fünften Teil versucht Baumann die verschiedenen Ergebnisse der Teilstudien zu bündeln und für praktische Bewältigungsansätze fruchtbar zu machen (Kap. 7 und 8).

 

Ich beschränke mich in dieser Rezension auf den vierten Teil, in dem es um die Auswertung von insgesamt 22 Fällen geht und ergänze diese durch eigene pädagogische Überlegungen und Erfahrungen, hoffentlich ohne das Format einer Buchbesprechung gänzlich zu sprengen. Die Ergänzungen schienen mir nötig, weil sich Baumann zwar als einfühlsamer und origineller „Fallversteher“ erweist und es hervorragend versteht neue Theoriebezüge für Einzelfälle fruchtbar zu machen, beim Einordnen der Einzelfälle in größere Zusammenhänge (Hilfeplanung, organisatorische Rahmenbedingungen, Settingstrukturen) dagegen nur mäßig überzeugt und vor allem im Hinblick auf pädagogische Empfehlungen deutlich „schwächelt“.

Aber der Reihe nach: Im zentralen Kapitel 6 demonstriert Baumann eindrucksvoll eine komplexe, mehrschichtige Methode der Fallanalyse, die er als „Instrumentarium der Verstehenden Subjektlogischen Diagnostik“ ausgearbeitet hat (Baumann 2009). Dieses Instrumentarium besteht aus vier aufeinander folgenden Untersuchungsschritten, die zum Teil mit anschaulichen und beinahe durchwegs einleuchtenden Visualisierungsschemata verknüpft sind. Die vier Schritte sind:

A) Feldtheoretische Lebensweltanalyse (Schulze 2003), B) Szenisches Verstehen (Leber 1983, Trescher 1983 u.a.), C) Einordung in den Kontext der Lebensproblemzentrierten Pädagogik und D) Plananalytische Kinderdiagnostik (Klemenz 1999). Baumann gelingt es diese disparaten, aus unterschiedlichen Theoriebezügen gespeisten Verstehensbausteine zu einer Gesamtschau von jungen Menschen zu verknüpfen. Diese macht nachvollziehbar, mit welchen Augen, der junge Mensch seine Umwelt (Familie, Helfer, Peers) wahrnimmt und aufgrund welcher selbst konstruierter Leitüberzeugungen er wie auf diese reagiert, kurzum, wie der junge Mensch momentan „tickt“. Diese Diagnostik liefert noch keine, direkten Anhaltspunkte dafür, was man mit dem jungen Menschen konkret tun könnte, damit er von seinen selbst- und fremdgefährdenden Mustern ablassen und seine Energieströme auf neue Projekte lenken könnte, aber zumindest Ansatzpunkte dafür, sich an ihn wenden oder ihn erreichen zu können. Und das ist schon was!

Auch wenn sich Praktiker bei der Anwendung dieser Methodik sicher Abkürzungsstrategien bedienen müssen, so kann man m.E. einige dieser Analyseschritte und Visualisierungen relativ einfach in Fallbesprechungen im Jugendamt oder bei Freien Trägern anwenden und würde dabei alleine schon durch die Fragestellungen und Visualisierungsversuche einen deutlichen Erkenntnisgewinn erzielen.

Ziel des Kapitels ist die Rekonstruktion der „subjektiven Logiken“ im Handeln und Denken von Kindern und Jugendlichen, die zu Scheitern und Abbrüchen geführt haben. Die Typologie, die Baumann daraus ableitet, gliedert sich in einen A-, einen B- und einen C-Teil. Die Logik dieser Gliederung hat sich mir nicht erschlossen, denn sowohl A- wie C-Teil beschreiben individuelle Dynamiken und kind-spezifische Hintergründe, die zur Sprengung des Hilfe-Systems führen; der B-Teil stellt dagegen das entgleisende Zusammenspiel von Helfersystem, Eltern/Familien und Kindern, in den Mittelpunkt der Analysen.

Der A-Teil enttäuscht zunächst, weil hier nur eine einzige Fallkonstellation beschrieben wird, aber die hat es in sich und ist in dieser Form im Umfeld der Jugendhilfe meines Wissens auch noch nie so klar herausgearbeitet worden. Kinder, dieser Kategorie, nehmen zunächst „eine gute Beziehung zu einzelnen Mitgliedern des Helfersystems auf. (…). Die Beziehungen können aber die negative Entwicklung nicht aufhalten. Es sind die heftigen und vor allem schwerwiegenden Eskalationen, die am Ende dazu führen, dass die Einrichtung trotz gelingender Beziehungsmomente und trotz der grundsätzlichen Bereitschaft einzelner Pädagogen, haltend zu arbeiten, ihr Angebot nicht aufrecht erhalten können“ (ebd. 108).

Diese Kinder wissen nach Baumann gar nicht wie sie in die zahlreichen gewaltgeladenen Konflikte hineingeraten. Sie scheinen dort irgendwie „hineinzuschlittern“ (ebd.). Dabei äußern sie häufig den Wunsch sich verändern und eine geeignete Hilfe für ihr Problem finden zu wollen. Dennoch kommt es wieder und wieder zu plötzlichen Ausbrüchen von Gewalt gegenüber anderen Kindern und MitarbeiterInnen, häufig ohne dass ein klarer Anlass oder ein nachvollziehbares Motiv entdeckt werden kann. Das stresst und laugt die Bereitschaft aus, sich weiter mit diesem Kind im Kontext einer Heimgruppe zu beschäftigen.

„Die Hypothese, die sich bezüglich der Subjektlogik der Kinder und Jugendlichen der Kategorie A ergibt, ist die, dass gewaltsame Eskalationen als eine Strategie zur Kontrolle situativer Unsicherheiten und Angst gesehen werden können“ (ebd. 109). Gewalt, so die These Baumanns stellt für diese Kinder eine und häufig zunächst auch die einzige Möglichkeit dar, in für sie als chaotisch erlebten Situationen Ordnung zu schaffen und Eindeutigkeit herzustellen. Das halte ich für einen klugen Gedanken, der bei Gewaltvorfällen zu selten in Erwägung gezogen wird, denn immerhin konnte dieses Muster bei 5 der 22 Fälle rekonstruiert werden.

Ich würde in diesem Zusammenhang zwar nicht von „Strategie“ sprechen, da diese eine Form von rationaler oder zumindest bewusster Planung naheliegt. Eher sollte man sich vorstellen, dass diese Kinder, ohne dass sie selbst und ihre Umwelt es wahrnehmen, schleichend immer wieder oder auch plötzlich in Situationen geraten, die sie aufgrund ihrer Unübersichtlichkeit und Undurchschaubarkeit überfordern; dass sie dieses Erleben in eine körperlich empfundene Paniksituation  bringt, in der sie wie in einem „schwarzen Loch“ zu verschwinden drohen  und dass ihr Zuschlagen weniger einen Akt gezielter auf Personen bezogene Feindseligkeit darstellt, sondern eine Art Weg-Wischen-Wollen von irritierenden und sie peinigenden Umweltelementen. Insofern versuchen sie mit Hilfe von Gewalt das Wiederherstellen von Handlungsfähigkeit auf einer basalen, körpernahen Ebene: „Ich schlage, also stelle ich mich (wieder) her!“. Gewalt stellt demnach einen Rettungsversuch eines labilen Selbst dar, das zu fragmentieren droht und sich selbst verloren zu gehen scheint.

Ein Junge, den Baumann interviewt hat, kann das anschaulich beschreiben: Er empfinde in solchen Situationen „ein Gefühl der Enge. Die Wände kämen auf ihn zu, und er wisse in solchen Situationen nicht mehr, wie er sich Raum verschaffen soll. Also sprengt er die Wand mit aller Kraft auf – nur dass zwischen ihm und der beengenden Wand meistens Menschen stehen, die seinen Befreiungsschlag dann in voller Wucht abbekommen“ (S. 110).

An dieser Stelle führt Baumann in bester Weise vor, was das Bemühen um die Rekonstruktion von  „Subjektlogik“ an Erkenntnisgewinnen vermitteln kann.

Klar wird an dieser Stelle jedoch auch, dass bei dieser Form des „Panikstrampelns“  Kinder häufig der psychiatrische Hintergrund abgeklärt werden müsste: spezifische Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprobleme können hier eine Rolle spielen, aber auch paranoide Ängste, die von außen schwer einfühlsam sind; so kann es passieren, dass ein Kind zumindest von außen gesehen „aus heiterem Himmel“ zuschlägt, während es sich selbst zunehmend mehr in eine Angstphantasie hineingesteigert hat, die es aber aufgrund ihrer Gestaltlosigkeit oder ihres unbewussten Charakters vielleicht noch nicht einmal bewusst wahrnehmen geschweige denn verbalisieren kann. Das zu wissen ist gut; dennoch bleibt es schwierig solche Kinder, die sich ihr beinahe automatisiertes Verhalten ja nicht abgewöhnen können, in einer Gruppe dauerhaft zu betreuen, vor allem, wenn andere ohnehin schon belastete Kinder zu ihren „Opfern“ zählen. Ihr plötzliches Zuschlagen macht allen anderen Gruppenmitgliedern Angst und dieses Unsicherheitsgefühl muss ernst genommen werden. Interessanterweise kann hier ein Klassiker der Behindertenhilfe weiterhelfen. Jacques Heijkoop hat solche Verhaltensweisen bereits in den neunziger Jahren plastisch beschrieben und gelehrt wie man auch mit Hilfe von Videoaufzeichnungen zu genaueren Verhaltensanalysen inklusive der Identifikation von ungünstigen Eigen-Kommunikationen kommen kann, die den MitarbeiterInnen zumindest das Gefühl nehmen handlungsunfähig zu sein. Und vor allem hat er minutiös analysiert, was diese „explosiven“ Personen selbst schon unternehmen, um erst gar nicht in diese Situationen der Überforderung zu kommen bzw. wie sie versuchen ihre Hände und Füße zu kontrollieren, bevor oder wenn es sie „überfällt“. Selbst Menschen mit schwerer geistiger Behinderung scheinen unter ihren „Ausbrüchen“ zu leiden und versuchen ihnen auf ihre Weise entgegenzusteuern. An diese selbstentwickelten Ansätze kann und muss man nach Heijkoop anknüpfen (Heijkoop 1998, 67 ff).

Angesichts des „rettenden“ Charakters von Gewalt wird klar, dass Sanktionen gegenüber dem gewalttätigen Verhalten unsinnig sind und kaum eingesehen werden können. Diese Kinder brauchen Hilfe bei der Versprachlichung ihrer inneren Zustände und müssen immer wieder vor für sie schwierigen Situationen bewahrt oder aus ihnen herausgenommen werden. Jedes erneute Zuschlagen weist nicht nur auf die Kontinuität des Problems, sondern immer auch auf einen Fehler  bzw. eine Unachtsamkeit der Mitarbeiter hin, denn von „Blitzen aus heiterem Himmel“ kann man nur sprechen, wenn man die Wetterlage nicht wirklich kennt. Allerdings ist die Frage, ob die MitarbeiterInnen in den Einrichtungen personell und inhaltlich auch so ausgestattet werden, dass sie überhaupt eine Chance haben, diese äußerst schwierigen Kinder genau genug analysieren (wer verfügt schon über eine Videokamera zur Verhaltensbeobachtung und die Zeit die Aufnahmen auszuwerten) und z.B. mit Hilfe von regelmäßigen Einzelbetreuungszeiten etc. „(aus-)halten“ zu können?

Wiedergutmachungsforderungen in Form von Arbeitsleistungen können allerdings auch dem Kind helfen, den Schaden, den es angerichtet hat und den es selbst registriert, zumindest in Ansätzen kleiner zu machen.  Die Botschaft müsste lauten: „Du wolltest niemanden verletzen, aber es ist geschehen. Es ist für uns und dich gut, wenn du mit deiner Arbeit zeigst, dass dir der Schaden leid tut.  Die Gewalt war für dich eine Lösung für diesen Moment, aber sie hat dir und uns auch ein sehr ernstes Problem gemacht!“ Besonders muss man darauf achten, ob und inwieweit diese Kinder eine Art sekundären Gewinn aus ihrem Symptom beziehen, weshalb es u. U. schwieriger werden kann,  es aufzugeben. Denn die tiefgreifende Verunsicherung, die sie bei Erwachsenen und Kindern auslösen, gibt ihnen auch viel Macht und die Möglichkeit diese zu manipulieren. Hier muss zwischen einem „tragischen Unfall“ und einer auch vom Kind mit konstellierten und in Kauf genommenen Entgleisung klar unterschieden werden, so schwierig das auch im Einzelfall sein wird.

Kommen wir zur Kategorie B: hier geht es bei allen Fallverläufen um verhängnisvolle Entwicklungen, die sich – meist von Anfang anzwischen den Protagonisten der Erziehungshilfe, also zwischen den Eltern, ihren Kindern und dem Helfersystem (Jugendamt und Einrichtungen) konstellieren. Immerhin 12 der 22 analysierten Fälle wurden dieser Hauptkategorie zugeordnet, die wiederum in drei Unter-Kategorien unterteilt ist (B1, B2, B3).

Kategorie B 1 beschreibt die Situation, in der Kinder das Eingreifen des Jugendamtes und die angeordnete Erziehungshilfe als einen ungerechten Eingriff in einen lange schwelenden Machtkampf zwischen Eltern und Kinder erleben. Das Eingreifen des Helfersystems wird als parteilich für die Eltern und zu ihrem Nachteil wahrgenommen. Während sie auch vorher schon gelitten haben, aber sich immer wieder auch erfolgreich gegen die als feindselig erlebten Eltern durchsetzen konnten, drohen sie mit dem Auftreten der Helfer in eine „Verliererposition“ zu geraten. Nach ihrer subjektiven Logik haben die Eltern mindestens ebenso viel Schuld und Unrecht wie sie selbst; im Mittelpunkt des aktuellen Problems steht für sie nicht ihr problematisches Verhalten (Schulverweigerung, Drogen etc.) sondern eine allgemeine Misere, eine Gesamt-Desintegration von Familie und Umwelt, für die sie nicht die komplette Verantwortung übernehmen wollen oder für die sie sich als Kinder manchmal sogar wenig oder gar nicht verantwortlich fühlen. Was sie als Hilfe zulassen könnten, – damit gehe ich ein Stück über Baumanns Analyse hinaus – wäre eine unparteiliche Sortierung von eigenen und fremden Konfliktanteilen und eine Konflikt-Mediation bei der sich alle Beteiligten auf Augenhöhe begegnen mit dem Ziel, lange angesammelte Schuldkonten anzuschauen, abzutragen und Versöhnung oder auch eine zeitweilige Trennung im Sinne einer „Beziehungspause“ herbei zu führen. Die Voraussetzung dafür, wäre allerdings so etwas wie eine grundsätzliche Anerkennung des „Leides“, das die jungen Menschen – auch von ihren Eltern – erfahren haben. Was sie gegen das Jugendamt und die Einrichtung aufbringt, ist das Gefühl, dass sie alleine die „Suppe auslöffeln“ müssen, die doch von mehreren „eingebrockt“ wurde. Deswegen begeben sich diese Kinder in einen Kampf gegen die Einrichtung, die sie als verlängerten Arm ihres Elternhauses empfinden. Die Einrichtung zu zerschlagen oder sich ihr durch Weglaufen zu entziehen wird für sie zur Aufgabe, der sie sich mit großer Energie widmen, meist mit Erfolg. Auch wenn die jungen Menschen die MitarbeiterInnen der Einrichtung treffen, meinen sie damit doch in erster Linie ihre Eltern. 

         Fallkonstellationen der Kategorie B 1 wahrzunehmen, ist wichtig, darf aber nicht zur Ausblendung einer geradezu entgegengesetzten Erfahrung führen. In manchen Fällen hilft es durchaus, wenn sich die Helfer eindeutig auf Seiten der Eltern stellen und die teilweise jahrelang andauernden Machtkämpfe zwischen Eltern und Kindern, aber auch zwischen Eltern und Lehrern und anderen Helfern, dadurch beenden, dass alle mit dem Kind beschäftigten Erwachsenen eine gemeinsame Erziehungslinie beschließen, gegenüber dem Kind klare, überprüfbare Forderungen stellen, deren Umsetzung gemeinsam kontrollieren und dem Kind gegenüber, wenn nötig, gemeinsam Sanktionen vertreten und diese auch gemeinsam umsetzen. Bei dieser Arbeit handelt es sich häufig um die mühsame Wieder- oder auch Erst-Errichtung einer Generationenschranke, die das Kindsein vom Erwachsensein trennt, das Kind auf seinen Platz verweist bzw. seine völlig überzogenen Forderungen zurückweist. Diese Klarheit nimmt dem Kind seine jahrlang gepflegte Präpotenz und beraubt es so seiner Größenphantasien bzw. der realen Freiheiten, die es sich herausgenommen hat; aber sie gibt ihm auch etwas: einen angemessenen Platz im Rahmen seiner Familie, der wieder echte Zuwendung ermöglicht, während die Eltern vorher häufig überwiegend aus Angst vor dem Kind nachgegeben haben. In diese Richtung arbeiten viele Heime, einige durchaus mit systemischer Inspiration, die sich auf so kluge Personen wie Wilhelm Rotthaus oder Michael Biene stützen kann.

Jeder Heimpädagoge kennt solche Fallkonstellationen, die wir hier B X nennen,  in denen es für die Helfer von größter Wichtigkeit ist ein enges Bündnis mit den Eltern zu schließen und man zugleich mit Drohungen und Spaltungsversuchen seitens des Kindes rechnen muss, das sowohl versuchen wird das Heim gegen die Eltern aufzubringen, wie auch die Eltern gegenüber das Heim. Häufig muss man diesen „Schulterschluss“ über längere Zeit mühsam aufrecht erhalten, immer wieder die angekündigte Einigkeit unter Beweis stellen, bis das Kind einlenken und diese Klarheit auch für sich als Entwicklungschance begreifen kann.

Also wie nun? Produziert man Abbrüche und „Systemsprenger“, wenn man sich als Helfer mit den Eltern zusammenschließt und dem Kind gegenüber eine gemeinsame Linie vertritt oder stellt das häufig den einzig möglichen Weg zu einer erfolgreichen Nacherziehung dar?  Die Antwort lautet, das kommt ganz darauf an: Beides kann richtig, aber auch falsch sein. Ich habe diesem komplexen Thema in dem Buch „Methoden der Hilfeplanung“ ein ganzes Kapitel (6) gewidmet; es trägt die Überschrift „Überlegungen und Tipps zum Vorgehen  bei zugespitztem Dissens im HPG“. Dort werden drei prinzipiell sinnvolle Helfer-Positionen für den Prozess der Beratung von Familien bzw. für die  Hilfeplanung dargestellt: die Helfer können (Schwabe 2005):

A) zwischen Eltern und Kind in einer Haltung von Neutralität oder „wechselnder Parteilichkeit“ „vermitteln“, wenn sie die Anliegen beider Parteien nachvollziehen und zumindest in Teilen als berechtigt ansehen können. Voraussetzung dafür ist freilich, als Helfer im Moment selbst keine eigenen Interessen verfolgen zu müssen (sonst kann man nicht vermitteln), sondern darauf vertrauen zu können, dass alle „Lösungsideen“ im System bereits latent vorhanden sind.

B) sich gemeinsam mit Eltern und Kindern in einen Prozess des „Aushandelns“ begeben, in dem die untereinander unterschiedlichen Positionen der Familienmitglieder mit den wiederum ganz anderen Positionen der Helfer in Kontakt und Reibung gebracht werden. Das ist immer dann möglich und sinnvoll, wenn die Familienmitglieder sich schon in jeweils „gefährliche“ Positionen verrannt haben und Fragen des Kinder- oder Personenschutzes anstehen oder

C)  Positionen eines Teilsystems parteilich „durchsetzen“ und zwar in manchen Fällen mit den Eltern „gegen“ bornierte Vorstellungen des Kindes  wie auch in anderen Fällen  mit dem Kind „gegen“ gefährdende Vorstellungen der Eltern.

           Alle drei Vorgehensweisen stellen prinzipiell gleichwertige und sinnvolle Optionen dar, über die jeweils je nach Lage entschieden werden muss. Weder ist es immer sinnvoll zu „vermitteln“ oder „auszuhandeln“, noch immer richtig pädagogisch, sinnvolle Prinzipien gegen die eine oder andere Partei „durchsetzen“ zu wollen. Im Gegenteil: die eigene, zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit hilfreiche Position muss immer erst – mehr oder weniger mühsam – herausgefunden und entwickelt werden. Hilfreich für die Entscheidung, ob man im Einzelfall eher auf Durchsetzung oder  Vermittlung bzw. Aushandlung setzen soll,  können drei Kriterien sein,  mit denen man z.B. die eine von der anderen Fallkonstellation (siehe oben B1 und BX)  und unterscheiden kann: das „Alter des Kindes“, die „Systemdynamik“ (desintegriert oder Machtkampf über mehrere Runden) und das spezifische „Kräftefeld“ im Konflikt, die man nur über eine genaue Analyse der jeder Partei zur Verfügung stehenden Machtmittel gewinnen kann (ausführlich: Schwabe 2005, 357 – 376).

Auch wenn Baumann nicht espressis verbis behauptet, dass der Weg des „Durchsetzens“ (Erwachsene „gegen“ Ansprüche des Kindes) in der Konstellation B1 nicht gegangen werden darf, so legen seine Ausführungen zur „pädagogischen Haltung“ das doch nahe. Dort postuliert er, dass „Symptomtoleranz“ und die „Ablehnung von Machtkämpfen“ „unabdingbare Grundhaltungen“ seien, die angesichts von „Systemsprengern“ bzw. Fallkonstellationen, aus denen diese hervorgehen können, an den Tag gelegt werden müssen (ebd. 179). Auf Grund solcher undifferenzierter Formulierungen, war es mir wichtig, auf die Beschränktheit seiner Hypothese hinzuweisen.

 

Kategorie B 2 beschreibt eine Situation, in der das Kind jahrelang eine wichtige Exklusivbeziehung zu einem Elternteil unterhalten hat, in der es u.a. auch wichtige versorgende (oder bei Paarkonflikten vermittelnde) Aufgaben auf sich genommen hat (ebd. 145 ff). Diese haben dem Kind das gute Gefühl einer hohen Bedeutung und auch Macht gegenüber dem Elternteil vermittelt, haben das Kind aber auch überfordert und belastet. Häufig bricht das Versorgungsbündnis zwischen Kind und Elternteil an irgendeinem Punkt: entweder wenden sich der Erwachsene einem neuen „Retter“ zu und das Kind wird unwichtig, was eine schwere Kränkung darstellt. Oder die vielen Versorgungsleistungen reichen irgendwann nicht mehr aus, die immer größeren „Löcher zu stopfen“: die Misere einer verwahrlosten Wohnung oder einer immer süchtigeren oder immer wahnsinnigeren Mutter wird – häufig durch Zufälle – offenkundig und das gesamte marode System „fliegt“ auf. Meist sind es dann Helfer-Interventionen von außen, die das Kind aus seiner schwierigen Rolle befreien wollen, oft auch mit Billigung und ausdrücklicher Unterstützung des jahrelang versorgten Elternteils, der ja schon immer ahnte, dass diese Aufgabe seinem Kind nicht gut tut. Das Kind erlebt sich in der von Baumann beschriebenen Konstellation aber nicht befreit, sondern einer wichtigen Stellung  beraubt: durch das Eingreifen professioneller Helfer tritt es in den Hintergrund, ist plötzlich „arbeitslos“ geworden und fürchtet nun auch „bedeutungslos“ zu sein (das ist übrigens immer wieder auch bei sexuell missbrauchten Kindern der Fall). Noch dazu verliert es mit dem Eintritt in das Heim häufig viele Freiheiten, die es vorher als „kleiner Erwachsener“ durchaus gehabt und als Kompensation für seine Versorgungsleistungen auch genossen hat. Kein Wunder, dass sich ein solches Kind gegen die Erziehungshilfe zur Wehr setzt und diese sabotiert, wo es nur kann.

Auch hier gilt ähnliches wie oben: die von außen betriebene Beendigung der Exklusivbeziehung kann, muss aber nicht zum Scheitern oder zur Verunmöglichung der Hilfe führen. Beinahe immer führt das Wegfallen des Versorgungsauftrages das Kind in einen schwierigen, aber zugleich auch unvermeidlichen Übergangsprozess: es ist seiner Halt-gebenden Aufgabe „beraubt“ und verfügt noch nicht über eine neue, gleichwertige Rolle und hat auch noch nicht erleben können, wie gut es ihm tun kann, sich mehr um sich und seine Interessen zu kümmern oder wieder einmal ganz „Kind“  sein zu dürfen. Selbst wenn das Kind unter seiner „alten“ Versorger-Rolle gelitten hat und sich über das Auftreten der Helfer zumindest auch freut, wird ein solcher Prozess in seinem Erleben nie ohne Ambivalenzen abgehen. Insofern stellt sich durchaus die Frage, ob die Helfer es eher auf einen langsamen und schrittweisen Prozess der Abnabelung setzen oder auf einen beherzten „Trennungs-Schnitt“; wehtun wird beides. Schief gehen kann auch beides und das Belassen des Kindes in der exklusiven Beziehung sowieso. Ob das Kind sich in dieser Konstellation eher als Gewinner oder Verlierer einschätzen wird, hängt von vielen Bedingungen und kommunikativen Erklärungsschritten ab, und vor allem, ob diese ankommen oder nicht, und ist nicht schon am ersten Tag des Eingriffs oder des Eintritts in die Hilfe entschieden.

 

Kategorie B 3 stellt Kinder und Jugendliche vor, die das Auftreten der HelferInnen als (weitere) Bedrohung ihrer mühsam erreichten Autonomie erleben: Während man von außen (mit einigem Recht) denkt, diese Kinder konnten zu oft und zu viel das tun, was sie wollten, was ihnen aber nicht gut bekommt, sondern als Selbst- oder Fremdgefährdung gesehen werden muss, bilanzieren diese Kinder ihr Handeln als Eroberung eines „bitter nötigen“ Autonomiespielraums, der für ihr unbefriedigendes Leben zumindest einige Kompensationsmöglichkeiten bietet und den sie deswegen nicht aufgeben wollen. Im Hintergrund stehen oftmals Eltern, die ihr Kind oft alleine lassen und wenig zuverlässig versorgen, aber zumindest immer wieder für kurze Phasen erreichbar sind und mit denen man gemeinsam gegen Ansprüche von Außen (Schule, Polizei, Nachbarn etc.) kämpfen kann. Diese gleichzeitige Solidarität bei misslicher materieller und emotionaler Versorgung lässt Familie für diese Kinder noch immer als wichtig erscheinen. Mit dem Auftritt von Helfern und vor allem mit dem, meist unfreiwilligen Eintritt in ein Heim, sind für diese Jugendlichen von vorneherein vor allem Verluste von Freiheiten und Selbstbestimmungsmöglichkeiten verbunden. Zudem befürchten sie, dass ihnen mit dem neuen Leben auch noch die letzten Kontakte zur Familie verloren gehen. Sie fühlen sich häufig von der Familie fallen gelassen und von den Helfern behindert und eingeschränkt. In dieser unangenehmen Situation von Kontrollverlust sehen diese Kinder „durch ihre Verweigerungshaltung und ihre Eskalationen die Chance in ihrem Leben wieder eine aktiv-gestaltenden Rolle einzunehmen. Dieser Chance und den damit verbundenen Gefühlen der Omnipotenz und des Rausches stellt sich das System der Erziehungshilfen in den Weg und wird so zum Mitspieler in einem Machtkampf, der für die Pädagogen nicht zu gewinnen ist, weil er für die Jugendlichen eine lebenswichtige Rolle bekommt“ (ebd. S.).

Auch hier scheint mir die Beschreibung der für den Hilfeprozess ungünstigen und „heiklen“ Ausgangssituation bei Baumann wichtig und schlüssig, aber die Konsequenzen: also „besser nicht ins Heim“ oder „auf keinen Fall zu sehr einschränken“ (ebd. 179 f) nicht zwingend. Sicher darf man diese Kinder nicht „blauäugig“ aufnehmen und muss ihren Widerstand gegenüber einer Heim-Unterbringung oder Betreuung und ihre Angst, dass Hilfe eine Bedrohung ihrer Autonomie darstellt, ernst nehmen und anerkennen. Mit Blick auf alle diese Situationen schreibt Baumann völlig zutreffend. Die Kinder „interpretieren die Strukturierungsversuche des Erziehungshilfesystems entsprechend ihres gewaltaffinen Wahrnehmungsregimes und antworten (…), die sie in die Situation hineingedeutet haben“, nämlich mit Gewalt (ebd. 186)“. Sicher sind für etliche solcher jungen Menschen niedrigschwellige Formen der Unterstützung, die weitgehend auf Regeln verzichten und deutlich erlebbare Freiräume anbieten, auch mit der Notwendigkeit eigene Entscheidungen zu treffen, durchaus sinnvoll. Ich verweise hier als Prototyp solcher Hilfeformen auf das Berliner Projekt BOB d.h. Bude ohne Betreuung des Trägers „Pro Max e.V.“. Allerdings haben wir bei genauen Beobachtungen im Betreuungsalltag auch bei BOB immer wieder entdecken können, dass es etliche junge Menschen selbst dort, wo sie weitgehend mit Pädagogik in Ruhe gelassen werden, es darauf anlegen und es auch schaffen ihre „Betreuer“ in Machtkämpfe zu verwickeln. Diese bzw. beherzt und unerschrocken auftretenden Erwachsenen, die ihnen die Stirn bieten, scheinen sie immer wieder zu suchen und zu brauchen.  Wenn man das akzeptiert, dann überrascht es nicht, dass auch bei jungen Menschen dieser Kategorie einige Heime bzw. ErzieherInnen durchaus Erfolge verzeichnen können. Und zwar genau dadurch, dass sie sich auf die von den Kindern angebotenen Machtkämpfe einlassen, diesen freilich eine etwas andere Wendung geben, als die Kinder erwarten oder gewohnt sind. Die Erwachsenen dort fordern für ihre Personen und für ihre Regeln Respekt ein, eskalieren in Konflikten mit oder überholen die Jugendlichen dabei sogar, eventuell bis zu dem Punkt, an dem man sich Nase an Nase gegenüber steht; aber sie werden weder zynisch, noch selbst gewalttätig. Im Gegenteil: sie suchen neben der Regelpädagogik, an der sie allerdings „stur“ festhalten immer wieder Gelegenheiten, in denen sie mit Neugier, Humor und Empathie auf Kinder zugehen und zeigen ihnen immer wieder, dass ihnen etwas an ihrem Schicksal liegt. „Gefühl und Härte“ mögen holzschnittartige Begriffe dafür sein, aber bringen diese Haltung auf den Punkt. Häufig, aber nicht zwangsläufig bedürfen diese Settings einer zusätzlichen Absicherung (geschlossen) oder Legitimation (Weisung durch Jugendrichter z.B. zur Vor-Bewährung etc.). Auf keinen Fall hilft diesen jungen Menschen die Vermeidung von Konflikten und Machtkämpfen um jeden Preis. Und auch De-Eskalation ist nicht immer angesagt wie manche Autoren mir trotz Lektüre von „Eskalation und De-Eskalation“ unterstellen (siehe Berlin 2010, 180; Schwabe 2002). Im Gegenteil: PädagogInnen müssen lernen gekonnt zu eskalieren, und dabei eindrucksvolle „Höhepunkte“ zu setzen; dürfen weder zu früh noch zu spät aus einem Machtkampf auszusteigen; sie müssen Machtkämpfe allerdings auch halbwegs souverän verlieren können, in Situationen auswegloser Ohnmacht gute „Abgänge“ machen oder über einen verlorenen Machtkampf lachen bzw. dem jungen Menschen einen „Sieg“ gönnen  können und… und…

Wer Eskalationen vermeiden will, sollte an seinen letzten Orgasmus denken, denn die Dynamik, die zu diesem führt, stellt ebenfalls eine Eskalation dar. Näheres dazu findet man bei Gregory Bateson unter dem Stichwort „Spannungsabbau durch totale Beanspruchung“ (Schwabe 2002, 51; Bateson 1981, 161). Es kommt bei Eskalationen darauf an als Höhepunkt den Ausbruch von „Gewalt“ zu vermeiden, nicht den Prozess der Eskalation an sich. Laute, heftige Auseinandersetzungen mit z.B. einem donnernden Türeknallen am Ende können „gute“ Höhepunkte darstellen, die wie reinigende Gewitter nach langen, lähmenden Schwülephasen wirken, nach denen alle Beteiligten befreit aufatmen. Das haben fast alle mutigen PädagogInnen schon einmal erlebt und danach lechzen manche Kinder, was nicht heißt, dass man dieses Bedürfnis immer bedienen muss. Aber häufig legen sie es genau auf solch einen „Crash“ an und wenn sie erfahren sind, warten sie darauf, dass an diesem Tag ihr Lieblingserzieher im Dienst ist.

Wenn dieser Prozess des „Kämpfens auf Augenhöhe und mit Respekt“ gut geht – und das ist auf keinen Fall garantiert, sondern bleibt über viele Monate ein kippeliger „Prozess“, der jederzeit entgleisen kann, dann kann das zu gegenseitigem Respekt führen und dann können die vielen Konflikte zumindest im Nachhinein als „Kämpfe um Anerkennung“ verstanden werden: die Erwachsenen anerkennen die Vitalität, Intelligenz, Entschiedenheit des Kindes an und dieses umgekehrt die der Erwachsenen an. Die Erwachsenen lernen in diesem Prozess, wo sie dem Kind seine Autonomiespielräume lassen müssen und dieses, wo es sich an Regeln zu halten hat und um welche es sich herumdrücken kann. Im besten Fall gelingt wie Siegfried Bernfeld schreibt eine „Kompromissbildung aus berechtigtem kindlichem Eigensinn und ebenso berechtigten Ansprüchen von Erwachsenen“. Ohne „Machtkämpfe“ und nur mit „Symptomtoleranz“ gelingt das bestimmt nicht! Dagegen formuliert Baumann: „Wann immer ein Kampf entsteht, wer welche Macht über wen hat und mit welchen Mitteln diese durchgesetzt werden kann, besteht langfristig gesehen kein positiver Entwicklungsspielraum“ (ebd. 180). Natürlich können Machtkämpfe destruktiv entgleisen, das Risiko besteht permanent. Aber ohne, dass PädagogInnen bereit sind, mit den jungen Menschen gemeinsam, riskante Wege zu gehen, – das gilt für das überlegte „Lassez faire“ bei BOB ebenso wie für klug geführte Machtkämpfe in einer Heimgruppe – , sind die Schwierigen eh nicht zu beeindrucken und ist ihnen ohnehin nicht beizukommen.

 

Mir scheint, dass Baumann mit den Fällen der B-Kategorie unter schwierigen Bedingungen startende, bzw. von vorneherein belastete Eingriffs- und Hilfeplanungssituationen beschreibt, die von den Betroffenen nicht anders als ambivalent erlebt werden können; Situationen, in denen zu wenige und zu unklare Grenzsetzungen zu zwar anderen, aber ebenso hohen Risiken führen wie zu viele und zu rigide Grenzsetzungen; Situationen, in denen mögliche Gewinne und Verluste im Erleben der Kinder für lange Zeit nahe beieinander liegen, Abbrüche und „gute Hilfen“ eher über länger Zeit möglich sind; und dass es eher grundsätzliche Anerkennungsdefizite für das „Gute am Schlechten“ und mangelhaftes, kommunikatives Fein-Tuning im Umgang mit den jungen Menschen sind, die unterschiedliche aber grundsätzlich mögliche und richtige Strategie scheitern lassen. Meines Erachtens sind die Konsequenzen, die Baumann zieht, vor allem seiner  Untersuchungsmethode geschuldet: er beschreibt Hilfeprozesse ex post, im Stadium ihres bereits eingetretenen, unwiderruflichen Zerfalls und unterstellt eine Logik des Misslingens von Anfang an, wo ich „lediglich“ das Scheitern einer „schwierigen“ Ausgangslage sehen würde, in der Gelingen und Scheitern sowieso und unvermeidbar sehr nahe beisammen liegen und in ihrer weiteren Entwicklung von den Besonderheiten der konkreten Interaktionen vor Ort entschieden werden, in welche die Voraussetzungen und Kommunikationen besonderer Kinder genauso mit eingehen wie die von besonderen Pädagoginnen und spezifischen Settingausgestaltungen vor Ort. Dieselben Fallkonstellationen können in (etwas) anderen kommunikativen und organisatorischen Kontexten mit der Zeit durchaus auch zu Erfolgen führen.

 

Kategorie C ist ein „Klassiker“: das „tausend mal enttäuschte“, einsame bzw. verstoßene Kind auf der Suche nach einem „emotionalen zu Hause“. Diese Kategorie, der Baumann Fälle zuordnet,  ist seit langem bekannt. Das oft unaufhebbare Dilemma besteht darin, dass das Kind sich emotional erst einlassen kann, wenn es die Unzerstörbarkeit und Dauerhaftigkeit des Settings mehrfach getestet hat, dass aber das Setting das Kind umso mehr zu einer neuen Attacke herausfordert, je besser es standhält. Oder anders: je mehr Hoffnung das Kind entwickelt, umso unbarmherziger wird es in seinen Angriffen. Insofern ist das Scheitern in diesen Fällen nachvollziehbarer und unvermeidbarer als in den anderen Kategorien. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass das Kind irgendwann das Ausmaß seiner Unbarmherzigkeit einschränken lernt und die Fähigkeit zur „Besorgnis“ entwickelt wie D.W. Winnicott das nennt (Winnicott 1974, 59 ff). Aber genauso möglich ist auch, dass das Heim zusammenbricht, kurz bevor das Kind sich hätte mäßigen können oder dass es das Heim erst „wollen“ kann, wenn dieses zusammengebrochen ist und keiner mehr das Kind haben will. Das sind häufig tragische Prozesse, an deren Ende alle etwas verloren haben. Natürlich können gute Rahmenbedingungen dafür sorgen, dass man länger durchhält und sich dabei nicht völlig „aufreibt“. Aber garantiert ist nichts. Die Kunst bei der Steuerung solcher Prozesse scheint mir, als Setting einerseits beeindruckend robust und haltbar zu sein, aber auf der anderen Seite die Idee der „Unzerstörbarkeit“ zurückzuweisen d.h. selbst Momente und Zonen von „Schwäche“ und „Ohnmacht“ deutlich zu machen, ja geradezu zu inszenieren (freilich muss man sie dazu auch innerlich zulassen, sonst kann man sie nicht gut inszenieren!). „Wir wollen dich halten, und wir kämpfen dafür mit viel, viel Kraft! Aber wir alle lieben uns mehr als dich und im Zweifelsfall retten wir uns selbst. Das musst du wissen, also übertreibe es nicht!“.

 

So weit ein Überblick über die von Baumann entwickelte Typologie der Anlässe und Hintergründe für das Scheitern von Erziehungshilfen. Wenn ich die dort aufgezeigten Kategorien mit meinen eigenen Erfahrungen vergleiche, dann passen erst einmal viele der Fallkonstellationen, an denen ich bzw. wir gescheitert sind, in dieses Sortierungsschema.

Besonders wichtig finde ich seinen Hinweis, auf den anderen, eigenen Blick von jungen Menschen, auf das, was wir als Hilfeangebot betrachten, sie aber zunächst nur als Zumutung, Angriff oder Gefahr erleben können. Das kann man sich als „Helfer“ nicht klar genug machen!

Freilich fallen mir auch noch andere „schwierige“ Fallkonstellationen ein, die nicht in das Baumann`sche Kategoriensystem passen: ein Junge, der sich mit seiner zwischen Leben und Tod balancierenden Alkoholiker-Mutter identifiziert hatte und selbst Lebens-gefährliche Aktivitäten an den Tag legte. Die Mutter wollte und konnte ihm nicht ausdrücklich davon abraten und lange Zeit sah es so aus, als wollte sie ihn mitnehmen auf ihre eigene Reise ins Jenseits. Ein anderer Junge, der immer verrückter wurde, weil sein Vater die Wahrheit nicht anerkennen konnte, dass es ausgerechnet seine Frau, die Stiefmutter des Jungen, gewesen war, die ihn so schlimm misshandelt hatte, dass er neben dem Verlust von Galle und Milz fünf bis sieben  Entwicklungsjahre zurückgefallen war (er hatte z.B. lesen oder Fahrradfahren verlernt). Für den Vater war dagegen klar, dass er mit dem Aufdecken dieser Schuld nicht nur die Frau, sondern auch den Rückhalt ihres Clans und damit auch der Migranten-Community verlieren würde, weshalb er dieser „Wahrheit“ lieber nicht ins Gesicht schaute. Eine Jugendliche, die nach dem Tod ihrer Mutter ständig zwischen Selbsthass und neuer Hoffnung schwankte, und sich heute aufgrund eines irrationalen Strafbedürfnisses vergewaltigen ließ und am anderen Tag wieder zur Schule gehen wollte. Und…und…und.

Wahrscheinlich können beinahe alle erfahrenen HeimpädagogInnen „schlimme Geschichten“ erzählen, die in kein Schema passen. Wichtig erscheint mir, bei aller Ausweglosigkeit, immer auch den Punkt mit zu umkreisen, in dem man als Pädagoge und Einrichtung mitten in diesem Fall eben auch noch nicht „gut genug“ war, auch wenn man ganz viel ausprobiert hat. Denn so sicher viele Fälle schwierig und „kaum lösbar“ sind, so wenig gibt es einen, einzigen Fall, der auf jeden Fall „scheitern muss“. Diesbezüglich konstruiert auch Baumann gelegentlich eine Zwangsläufigkeit in der Hilfe-ausschließenden Logik von Jugendlichen, bei der ich ihm nicht folgen würde (die zentralen Sätze in den Schemakästen, z.B. 126 oder 169). Denn so sehr es wichtig ist, sich Logiken anderer Systeme klar zu machen, so wichtig ist doch auch, Wege zu finden, diese häufig „lebensfeindlichen“ Logiken zu dekonstruieren d.h. einerseits an sie anzuknüpfen, sie aber andererseits zu verunsichern bzw. sie zu widerlegen und ihnen andere Fortsetzungen für das eigene Denken und Fühlen anzubieten als sie das System vorsieht.

 

Resümee:

Der Untertitel „wenn Jugendliche und Erziehungshilfe aneinander scheitern“ lässt zunächst an ein Untersuchungsprojekt denken, in dem beide Seiten – Kinder/Jugendliche und Einrichtungen/Helfer – getrennt und gemeinsam in den Blick genommen werden, und das Scheitern als Ergebnis des Zusammenwirkens beider Akteurgruppen und ihrer jeweiligen Eigenlogiken rekonstruiert wird. Ähnlich wie es Freyberg u.a. mit „Störer und Gestörte“ für den Bereich entgleisender Beschulungskarrieren meisterhaft demonstriert haben (Freyberg/Wolf 2005). Erst mit einer solchen, beide Seiten und ihre jeweiligen Zwänge ernst nehmenden Einzelfallanalyse, kommen auch die vielen guten oder auch „dummen“ und „arroganten“ Handlungen von HelferInnen und ihren Systemen in den Blick und bekommt das Scheitern erst den Charakter eines tragischen, ganz und gar nicht einfach zu vermeidenden „Unglücks“, unter dem häufig beide Seiten leiden. Die Untersuchung von Baumann geht andere Wege; sie stellt empirische Daten zum Scheitern neben Einschätzungen von Fachkräften über Hintergründe des Scheiterns neben Einzelfallrekonstruktionen. Das bleibt dann auch eher ein Nebeneinander, wobei jeder der Teiluntersuchungen interessante Details zum Thema beisteuert, die hier nicht dargestellt werden konnten. Der Schwerpunkt des Buches und das Herzblut des Autors liegen bei der Aufdeckung der  „prototypische Eigenlogiken“ (10) von Kindern. Hier führt er Methoden für und Beispiele von Fallverstehen vor, die inzwischen Common Sense bzw. selbstverständlich sein sollten, es aber noch lange nicht sind. Hier erweist er sich als ein kluger und inspirierender Fallversteher. Als Pädagoge, der überwiegend von „Symptomtoleranz“ und der „Vermeidung von Machtkämpfen“ spricht,  überzeugt er mich dagegen nicht. Sehr wichtig sind dagegen viele, seiner Hinweise zum „Betreuungssetting“ (die hier nur zum Teil zur Sprache kamen): „ob eng strukturiert oder offen und niedrigschwellig – diese Frage lässt sich für die Gruppe der Systemsprenger nicht pauschal beantworten. Es ist eine Frage des dialogischen Passungsverhältnisses“ (ebd. 186). An diesen „Passungsverhältnissen“, wie sie zustande kommen können und was dabei „dialogisch“ heißen kann, müssen wir noch viel herum denken!  Baumanns Buch ist ein weiterer Meilenstein auf diesem Weg, einem Weg, der allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit, nie an ein Ende führen wird. 

 

Baumann, M. (2009): Verstehende Subjektlogische Diagnostik bei Verhaltens-störungen: ein Instrumentarium für Verstehensprozesse in pädagogischen Kontexten, Hamburg

Bateson, G. (1981) Ökologie des Geistes, Frankfurt a. Main

Berlin, P. (2010): Eskalation von Konflikten in zwischen Sozialpädagogen und Kindern in (teil-)stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe; in: Forum Erziehungshilfen, Heft 3, 2010, S. 180 – 184

Freyberg, T. von/Wolf, A. (2005) Störer und Gestörte, Band 1: Konfliktgeschichten nicht beschulbarer Jugendlicher, Frankfurt a. Main

Klemenz (1999) ?

Leber, A. (Hrg.) (1983) Reproduktion der frühen Erfahrungen – psychoanalytisches Verständnis alltäglicher und nicht-alltäglicher Lebenssituationen, Frankfurt a. Main

Heijkoop, J. (1991): Herausforderndes Verhalten von Menschen mit geistiger Behinderung, Weinheim und München

Schulze (2003): Die Feldtheoretische Lebensraumanalyse, in: Zeitschrift für Heilpädagogik

Schwabe, M. (2002): Eskalation und De-Eskalation: konstruktiver Umgang mit Aggression und Gewalt in Arbeitsfeldern der Jugendhilfe, Frankfurt a. Main

Schwabe, M. (2005): Methoden der Hilfeplanung: Zielentwicklung, Moderation, und Aushandlung, Frankfurt a. Main

Trescher, H.–G. (1983): Wer versteht, kann (manchmal) zaubern oder: Spielelemente in der Pädagogik, in Leber, A. (1983), S. 197 – 210

Winnicott, D.W. (1974): Die Entwicklung der Fähigkeit der Besorgnis, in: Reifungsprozesse und förderliche Umwelt, S. 95 – 109.